Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2.La Dolce Vita- eine filmhistorische Einordnung
3. Magischer Realismus - Versuch einer Definition
4. Magischer Realismus in La Dolce Vita - Eine Spurensuche
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
La Dolce Vita (1960)[1] ist Federico Fellinis siebter Kinofilm, der im Februar 1960 Weltpremiere hatte und sogleich eine Welle der Empörung auslöste.[2] Die Presse und die katholische Kirche meldeten sich als erstes entrüstet zu Wort,[3] denn Fellinis Schilderung der dekadenten Schönen und Reichen Roms, wurde von vielen als skandalös angesehen.[4] Der Vatikan hätte Fellini beinahe exkommuniziert,[5] selbst die eigene Mutter konnte nicht nachvollziehen, weshalb ihr Federico einen solchen Film gedreht hatte.[6] Diese mediale Resonanz sorgte für eine maximale Aufmerksamkeit, die den Film sehr schnell zu einem Erfolg werden lies.[7] Über Jahrzehnte hielt La Dolce Vita die europäischen Einspielrekorde und hatte auf die italienische und europäische Gesellschaft einen ähnlichen Einfluss, wie es in den USA Gone with the Wind (1939)[8] oder The Godfather (1972)[9] hatten.[10] So schuf der Film gleich zwei neue Wortschöpfungen, die heute in den normalen Sprachgebrauch übergegangen sind.[11] Zum Einen das Wort Paparazzi, zum Anderen den Ausdruck La dolce Vita, der fortan in aller Welt einen Zustand beschrieb, welcher eigentlich kein süßes Leben kennzeichnete, sondern ein bittersüßes und dekadentes Lebensgefühl.[12] Vor allen Dingen die Szene mit Anita Ekberg im nächtlichen Trevi-Brunnen gilt bis heute als exemplarisch für diese Wortschöpfung.[13] Bei den Kritikern war der Film ein beachtlicher Erfolg und wurde für das Kunstkino fortan zum allgemein anerkannten Maßstab.[14] Es folgten Oscarnominierungen für den besten ausländischen Film und die beste Regie, sowie der Gewinn der Goldenen Palme in Cannes.[15]
Doch wie genau lässt sich La Dolce Vita in Fellinis Gesamtwerk einordnen? Für einige Filmhistoriker endete mit dem Film eine Schaffensphase Fellinis, die dann mit Otto e mezzo (1963)[16] eine ganz neue Wendung nahm.[17] Für andere ist bereits La Dolce Vita der Beginn einer neuen Ära in Fellinis Werk.[18] Zu erklären sind diese unterschiedlichen Auffassungen vor allen Dingen damit, dass man den Film unterschiedlich lesen kann. In dieser Arbeit soll zunächst aufgezeigt werden, wie Filmhistoriker und -wissenschaftler La Dolce Vita sowohl filmhistorisch als auch in Fellinis Werk einordnen. Am Ende der Arbeit findet dann eine eigene Einordnung innerhalb Fellinis Filmografie statt. Zu diesem Zweck wird zunächst der Begriff des magischen Realismus vorgestellt und dann anhand von Szenenanalysen untersucht, ob sich dieser bereits in La Dolce Vita finden lässt. Erst dann ist es in einer abschließenden Zusammenfassung möglich, den Film besser in das Gesamtwerk Fellinis einzuordnen.
2. La Dolce Vita - eine filmhistorische Einordnung
La Dolce Vita markierte den Beginn einer neuen Epoche der Filmgeschichte, dessen Produktion im Jahre 1959 mit der aufkeimenden französischen Nouvelle Vague zusammenfiel.[19] In diesem Jahr hatte die Periode, in der sich Film weltweit als Kunst etablierte, ihren Höhepunkt erreicht.[20] Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer, Rivette und Resnais machten in Frankreich ihre ersten langen Filme.[21] In Italien beschritt neben Fellini Michelangelo Antonioni mit L´Avventura (1960)[22] neue Wege, während sich in England die „zornigen jungen Männer“ des Theaters der Filmproduktion zuwandten.[23] In den USA hatte Alfred Hitchcock eine neue Hochzeit und mit North by Northwest (1959)[24] einen weiteren Meilenstein der Filmgeschichte geschaffen, derweil John Cassavetes´ Shadows (1959)[25] das persönliche unabhängige Kino etablierte.[26]
Dies ist der filmhistorische Hintergrund von La Dolce Vita. Schwieriger gestaltet sich die Frage, wie genau sich der Film in Fellinis Filmografie einordnen lässt. Der Fellini-Biograf Tulio Kezich teilt die Fellinianer in zwei Gruppen ein: Die einen sehen La Strada (1954)[27] als das zentrale Werk des Regisseurs an, die anderen Otto e mezzo.[28] Bei dieser Einteilung ist zu beachten, dass La Strada in Fellinis Werk oft als der Auftaktfilm einer Trilogie angesehen wird, zu der die Filme Il bidone (1955)[29] und Le notti di Cabiria (1957)[30] gezählt werden.[31] Die drei Filme werden oft als „Erlösungsfilme“ bezeichnet, mit denen der Regisseur seinen Weg vom Neorealismus zu einer Art fantastischen Individualismus fand.[32] Die Geschichten handeln von Betrügern, Huren oder ärmlichen Schaustellern. Es sind stark symbolträchtige, teils poetische Märchen, die oft von einem Hauch Magie umgeben sind, wodurch sie sich deutlich vom Neorealismus unterscheiden. Dennoch zeigen die Filme viele Elemente der neorealistischen Erzählweise: Sie sind überwiegend in freier Landschaft oder auf der Straße gedreht worden und beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Randbewohnern.[33] Nach der Trilogie kam La Dolce Vita und dann folgte der magisch realistische Otto e mezzo. Letzterer wird oft als Wendepunkt in Fellinis Filmographie beschrieben und als sein erster surrealistischer Film bezeichnet.[34] Andere sehen in La Dolce Vita bereits einen Wendepunkt in Fellinis Werk, zum einen, da die Trilogie abgeschlossen war, zum anderen, weil einige in La Dolce Vita durchaus surrealistische Elemente zu erkennen glauben.[35] Ein weiteres Argument dafür, dass der Wendepunkt bereits hier erfolgte, ist Marcello Mastroianni, der in La Dolce Vita sein Fellini-Debüt gab und damit einen Auftakt von gemeinsamen Filmen einläutete, von denen es heißt, dass Mastroianni darin das Alter Ego des Regisseurs verkörpert habe.[36] Es herrscht also keine ganz klare Einigkeit, was die Einordnung von La Dolce Vita betrifft. Der Film steht ein wenig einsam da zwischen der „Erlösungsfilme-Trilogie“ und den magisch realistischen bzw. surrealistischen Filmen, die mit Otto e mezzo und Giulietta degli spiriti (1965)[37] ihren Auftakt nahmen. Aus diesem Grund soll am Ende dieser Arbeit eine eigene Einordnung des Films in Fellinis Werk stattfinden, nachdem in der Analyse überprüft wurde, ob sich in dem Film magisch realistische Elemente finden lassen.
3. Magischer Realismus - Versuch einer Definition
Das Konzept vom magischen Realismus bringt viele Probleme mit sich, sowohl in theoretischer als auch historischer Hinsicht.[38] Es ist sehr schwer, eine Definition für diesen Begriff zu finden, da er verschiedenen Disziplinen entspringt und sich in unterschiedlichen Phasen, geografischen Regionen und Künsten weiterentwickelt hat, was dazu führte, dass er sich im Laufe der Geschichte immer wieder veränderte.[39] Um eine Definition für den magischen Realismus zu finden erscheint es daher sinnvoll, sich auf einen Text festzulegen und sich mit dessen Hilfe der Thematik zu nähern. Ansonsten bestünde das Risiko, dass die Einbeziehung von zehn verschiedenen literarischen Arbeiten zu zehn verschiedenen Definitionen führen würde. Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit der Text Magischer Realismus im Film von Seraina Rohrer als Fundament dienen.[40]
Laut Rohrer reichen die Wurzeln des magischen Realismus bis zu den europäischen Avantgardebewegungen der Zwanzigerjahre zurück. Spätestens seit dem weltweiten Erfolg des Bestsellers La Casa de los espíritus (1982)[41] ist magischer Realismus ein international vieldiskutiertes und auch in der breiten Bevölkerung bekanntes Phänomen. Im magischen Realismus geht es um das Erzählen einer fiktionalen Geschichte, die sich auf eine reale Welt bezieht, in die magische Elemente integriert sind, als ob sie real wären. Dabei bezieht sich magisch im Zusammenhang des magischen Realismus auf außerordentliche Vorkommnisse, die sich nicht rational erklären lassen, auf Geister, Wunder, unerklärliches Verschwinden, sonderbare Stimmungen oder spezielle Talente. Wichtig ist hierbei zu beachten, dass Zauber und Magie nicht darin eingeschlossen sind. Nicht selten wird der magische Realismus mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht, mit ihm gleichgesetzt oder als dessen Subgenre definiert. Doch es lassen sich sowohl in der Literatur als auch im Film Unterschiede bei den beiden Begriffen ausmachen. So haben surrealistische Werke im Vergleich zum magischen Realismus revolutionäre Ansätze, da sie sich gegen einen realistischen Stil auflehnen, der für sie die Bourgeoisie verkörpert. Die Stärke magisch realistischer Filme liegt hingegen gerade darin, dass sie nicht explizit politisch agieren wollen. Des Weiteren sind die Widersprüche und Paradoxien zwischen Realität und magischen beziehungsweise surrealen Elementen im magischen Realismus nahtlos verschränkt, während sie sich im Surrealismus stärker voneinander abheben. Zudem werden im Surrealismus surreale Elemente oft eingesetzt, um die psychologischen Tiefen oder Gemütszustände von Figuren zu erkunden und Aussagen über deren Unterbewusstsein zu machen. Im magischen Realismus sind sie hingegen alltäglicher Bestandteil der Umgebung der Figuren. Der magische Realismus zeichnet sich dadurch aus, dass darin im Vergleich zum Surrealismus magische Elemente eingebaut werden, ohne dass sie vom Regisseur besonders problematisiert werden. Ziel des Filmemachers ist eine Verschmelzung des Magischen mit dem Realen. Der magische Realismus eines Films kann auf unterschiedlichen Ebenen verortet sein. Bei den Figuren, narrativen Ereignissen oder in den stilistischen Gestaltungsmitteln. Schließlich zählt auch das offene Ende zu den Merkmalen des magischen Realismus im Film.
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[1] La Dolce Vita [dt. das süße Leben], I 1960, R: Federico Fellini.
[2] Vgl. Chris Wiegand: Federico Fellini. Herr der Träume 1920-1993. Köln u.a. 2003, S. 83.
[3] Vgl. ebd., S. 83.
[4] Vgl. Christian Strich: Federico Fellini: Fellini´s Filme. Die 400 schönsten Bilder aus Federico Fellini’s fünfzehneinhalb Filmen. Zürich 1976, S. 119.
[5] Vgl. ebd., S. 119.
[6] Vgl. Wiegand: Federico Fellini, S. 83.
[7] Vgl. ebd., S. 83.
[8] Gone with the Wind [dt. Vom Winde verweht], USA 1939, R: Victor Fleming.
[9] The Godfather [dt. Der Pate], USA 1972, R: Francis Ford Coppola.
[10] Vgl. Peter Bondanella: From Italian Neorealism to the Golden Age of Cinecittà. In: Elizabeth Ezra (Hrsg.), European Cinema, Oxford 2004, S. 131.
[11] Vgl. ebd., S. 131.
[12] Vgl. ebd., S. 131.
[13] Vgl. Nicolaus Schröder: 50 Klassiker Film. Die wichtigsten Werke der Filmgeschichte dargestellt von Nicolaus Schröder. Hildesheim 2000, S. 163.
[14] Vgl. Wiegand: Federico Fellini, S. 83.
[15] Vgl. ebd., S. 83.
[16] Otto e mezzo [dt. Achteinhalb], I 1963, R: Federico Fellini.
[17] Vgl. Peter Bondanella: The cinema of Federico Fellini. Princeton, NJ 1992, S. 150ff; sowie Frank Burke: Fellini: Changing the Subject. In: Film Quarterly 43/1/1989, S. 38; sowie Thomas Koebner: Federico Fellini. Der Zauberspiegel seiner Filme. München 2010, S. 208; sowie Thomas Koebner: Erzählen im Irrealis. Zum Neuen Surrealismus im Film der sechziger Jahre. Eine Problemskizze. In: Bernard Dieterle (Hrsg.), Träumungen. Traumerzählungen in Film und Literatur. Zweite Auflage, St. Augustin 2002, S. 87f; sowie Peter Wuss: Träume als filmische Topiks und Stereotypen. In: Bernard Dieterle (Hrsg.), Träumungen. Traumerzählungen in Film und Literatur. Zweite Auflage, St. Augustin 2002, S. 93.
[18] Vgl. Bondanella: From Italian Neorealism, S.132; sowie Wiegand: Federico Fellini, S. 73.
[19] Vgl. Burke: Fellini: Changing the Subject, S. 36.
[20] Vgl. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 355.
[21] Vgl. ebd., S. 355.
[22] L´Avventura [dt. Die mit der Liebe spielen], I 1960, R: Michelangelo Antonioni.
[23] Vgl. Monaco: Film verstehen, S. 355.
[24] North by Northwest [dt. Der unsichtbare Dritte], USA 1959, R: Alfred Hitchcock.
[25] Shadows [dt. Schatten], USA 1959, R: John Cassavetes.
[26] Vgl. Monaco: Film verstehen, S. 355.
[27] La strada [dt. Das Lied der Straße], I 1954, R: Federico Fellini.
[28] Vgl. Nicolaus Schröder: La Strada. In: Alfred Holighaus (Hrsg.): Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen. Berlin 2005, S. 106.
[29] Il bidone [dt. Die Schwindler], I 1955, R: Federico Fellini.
[30] Le notti di Cabiria [dt. Die Nächte der Cabiria], I 1957; R: Federico Fellini.
[31] Vgl. Bondanella: From Italian Neorealism, S. 125; sowie Wiegand: Federico Fellini, S. 43.
[32] Vgl. ebd., S. 43.
[33] Vgl. Koebner: Federico Fellini, S. 207.
[34] Vgl. Bondanella: The cinema of Federico Fellini, S. 150ff; sowie Burke: Fellini: Changing the Subject, S. 38; sowie Koebner: Federico Fellini, S. 208; sowie Koebner: Erzählen im Irrealis, S. 87f; sowie Wuss: Träume als filmische Topiks, S. 93.
[35] Vgl. Wiegand: Federico Fellini, S. 73; sowie Bondanella: From Italian Neorealism, S. 131; sowie Marijana Erstić: Federico Fellinis kristalline Inszenierung der Komik, des Eros´ und des Traums: Guilietta degli spiriti. In: Michael Lommel u.a. (Hrsg.), Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008, S. 37.
[36] Vgl. Bondanella: From Italian Neorealism, S. 132.
[37] Giulietta degli spiriti [dt. Julia und die Geister], I 1965, R: Federico Fellini.
[38] Vgl. Fredric Jameson: On magic Realism in Film. Auf: http://www.jstor.org/discover/10.2307/1343476?uid=
3737864&uid=2129&uid=2&uid=70&uid=4&sid=21102719370141 (Zugriff 08.10.13), S. 301.
[39] Vgl. Seraina Rohrer: Magischer Realismus im Film. In: Thomas Christen/Robert Blanchet (Hrsg.), Einführung in die Filmgeschichte. New Hollywood bis Dogma 95, Marburg 2009, S. 229.
[40] Vgl. ebd., S. 229ff.
[41] Isabel Allende: La casa de los espíritus [dt. Das Geisterhaus], Chile 1982.