Diese Arbeit basiert auf einer fundierten theoretischen Auseinandersetzung und genauen Kenntnis der analysierten Quellen, wodurch sie zu einem sehr guten und differenzierten Analyseergebnis kommt. Im Fokus steht der Themenkomplex "Märchen und Gewalt". Seit Jahren wird diese Verbundenheit thematisiert und diskutiert. Märchen werden für Kinder gewaltfrei gestaltet und für die Jugendlichen und Erwachsenen wiederum dramatischer und gewalttätiger.
Wie viel und welche Gewalt wirklich in unserer traditionellen Literatur vorhanden ist, wird in dieser Arbeit anhand des Märchens "Hänsel und Grethel" der Brüder Grimm und der filmischen Adaption "Hänsel und Gretel: Hexenjäger" analysiert.
"Äußerst präzise unterzieht sie Text und Film differenzierten Formanalysen. Den Voraussetzungen eines intermedialen Vergleichs wird sie dabei vorbildlich gerecht."
"Auch gelingt es ihr, die Bezüge zwischen narrativen bzw. darstellerischen Techniken, Plot und Story so in der Balance zu halten, dass alle Verweise auf die Handlung einen informativen Mehrwert hinsichtlich der Zielsetzung ergeben. Es wird kein Platz durch rein repetitive Inhaltsangaben gefüllt."
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
2BEGRIFFSKLÄRUNGEN
2.1 Märchen
2.1.1 Wortbedeutung und Historie
2.1.2 Unterschied zwischen Volks- und Kunstmärchen
2.1.3 Stilanalyse nach Max Lüthi
2.1.4 Strukturanalyse nach Vladimir Propp und Anderen
2.2 Gewalt
2.2.1 Wortbedeutung.
2.2.2 Verletzende Gewalt
3 GEWALTDARSTELLUNGEN IN VOLKSMÄRCHEN
3.1 Ursprünge der Gewaltdarstellungen
3.2 Prägnante Gewalttaten
3.3 Darstellungsformen
3.4 Die Hexe - Die Gestalt des Bösen
GEWALTDARSTELLUNGEN IN HäNSEL UND GRETHEL
4.1 Analyse der allgemeinen Gewaltdarstellungen im Text
4.2 Analyse der Darstellung der Hexenfigur und ihrer Gewalt
5 MÄRCHEN IN DER GEGENWART
5.1 Mediale Adaptionen von Märchen
5.2 Hänsel & Gretel: Hexenjäger - Der Film
5.2.1 Analyse der allgemeinen Gewaltdarstellungen im Film
5.2.2 Analyse der Darstellung der Hexenfigur und ihrer Gewalt
VERGLEICH DER GEWALTINSZENIERUNG DER LITERARISCHEN VORLAGE MIT DER FILMISCHEN ADAPTION
SCHLUSS
ANHANG
LITERATURVERZEICHNIS
1 Einleitung
Es war einmal ein kleiner Junge. Obwohl er schon sechs Jahre alt war und bald in die Schule kommen sollte, hatte er vor einer Sache immer noch große Angst: Er fürchtete sich vor dem dunklen Wald. Jedes Mal, wenn seine Eltern mit ihm spazieren gehen wollten, fing er kurz vor der Baumgrenze an zu weinen. Er tobte, bis sein Kopf rot anlief. "Da ist die Hexe drin, die frisst Kinder", schrie er.1
Nein, das ist kein Auszug aus einem neumodernen Märchen. Hier handelt es sich um einen realen Sechsjährigen, der unbeschreibliche Angst vor Wäldern hat, da er an kannibalische Hexen2 glaubt, seit er das Märchen Hänsel und Grethel 3 mit vier Jahren vorgelesen bekam.4
Obwohl die Brüder Grimm aufgrund der geringen Verkaufszahlen und der Kritik, dass die Fassungen ihrer gesammelten Werke nicht für Kinder geeignet seien, ihre Märchensammlungen überarbeiteten, liegt der Fokus der Debatten über Märchen auch heute noch überwiegend auf den Gewaltdarstellungen in den Erzählungen.5
Seitdem Märchen erzählt werden, sind sie auch umstritten. Das 19. Jahrhundert und seine Romantik gaben ihnen die relevante Bedeutung in der Literatur, die sie heute wieder haben. In der Nachkriegszeit wurden Märchen und ihre Grausamkeiten beispielsweise mit für die Methoden in den Konzentrationslagern verantwortlich gemacht.6 Heutzutage gehören sie zu fast jedem Grundschul- unterricht.
Die Literaturbestände bezeugen diese Kontroversen in den letzten Jahrzehnten. Beispiele hierfür sind die Titel Böses kommt aus Kinderbüchern (Gmelin 1972), Kinder brauchen Märchen (Bettelheim 2008), Kopf ab! Gewalt im Märchen (Mallet 1985), das Kapitel Grausamkeit in Märchen und Wirklichkeit von Lutz Röhrich sowie die Aufsatzsammlung Verstoßen, verschlungen, erschlagen …über Grausamkeit im Märchen von Almut Böckemühl.
Die Thematik der Gewalt ist allgemein in den Medien stark präsentiert. Unzählige Beispiele, wie Nichts. Was im Leben wichtig ist (Teller 2012), Ich hätte nein sagen können (Thor 2009) oder Ich knall euch ab! (Rhue 2002), zeigen, wie Aggressionen und Gewalttaten in Jugendbüchern und -filmen konkret aufgegriffen werden. Dabei reicht die Themenbandbreite vom Mobbing bis zum Amoklauf.
Neben dem konkreten Thematisieren werden Gewaltdarstellungen und ihre Auswirkungen auf die Rezipienten in der Literatur behandelt. In der Mehrzahl der Fälle wird darüber diskutiert, ob die Gewaltinszenierungen für Kinder geeignet sind oder eine Gefahr für sie darstellen. Gewalt in Märchen
wird vor allem unter psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachtet: Träume werden gedeutet und
menschliches Verhalten unter ihrer Zuhilfenahme analysiert, wie in Märchen, Träume, Schicksale (Wittgenstein 1988) oder Märchen, Mythen, Träume (Fromm 2004).
Diese unterschiedlichen Ausführungen über den Zusammenhang von Gewalt und Märchen zeigen, wie kontrovers das Thema ist. Das Beispiel des kleinen Jungen macht deutlich, welchen Einfluss Märchen und ihre Gewaltdarstellungen auf ihre Rezipienten nehmen können. Diese Arbeit soll deshalb einen Beitrag zur Fokussierung der Art und Weise, wie Gewalt in Literatur und Film inszeniert wird, leisten.
WIE wird Gewalt dargestellt und in Szene gesetzt? - Diese Frage soll anhand der Hänsel-und- Gret(h)el -Beispiele 7 in dieser Arbeit beantwortet werden. Die Nachfrage nach ihnen in allen möglichen Adaptionen, wie in Filmen und Theaterstücken, ist so hoch wie wahrscheinlich nie zuvor (s. Kapitel 5.1). Aus diesem Grund wird diese Analyse an einem der bekanntesten Volksmärchen der Brüder Grimm durchgeführt. Hänsel und Grethel ist durch seinen Bekanntheitsgrad ein typischer Stellvertreter der Grimm-Märchen und seine Geschichte findet in vielen verschiedenen Adaptionen seinen Platz,8 wie in dem aktuellsten Kinofilm Hänsel und Gretel: Hexenjäger. Dieser Spielfilm, der Millionen Dollar in der Produktion gekostet hat und mit dem bisher weltweit 225 Millionen Dollar eingenommen wurden, wird in dieser Arbeit ebenso wie das Original auf seine Gewaltinszenierung hin untersucht.9
Zu Beginn werden dafür die elementaren Begriffe Märchen und Gewalt definiert. Daraufhin soll zuerst ein allgemeiner Blick auf die Gewalt in Volksmärchen geworfen werden. Im Hauptteil erfolgt die Analyse der Gewaltdarstellungen des Erzähltextes unter erzähltextanalytischen Aspekten sowie die des Films aus einer ähnlichen und zusätzlichen filmanalytischen Perspektive. Hierbei wird sich auf eine formale Untersuchung konzentriert. Daraufhin werden die Szenen der Gewalt des Hänsel und Grethel- Originals sowie die des genannten Filmes verglichen. Abschließend werden die Ergebnisse zusammenfassend betrachtet und ein Ausblick gegeben.
2 Begriffsklärungen
2.1 Märchen
2.1.1 Wortbedeutung und Historie
Das heutige deutsche Wort Märchen ist ein Diminutiv von ,Mär‘.10 Die Wortbedeutung hierfür lautet Bericht oder Erzählung. Die ,Mär‘ wurde zu ,Märchen‘ verkleinert und gleichgesetzt mit ausgedachten Geschehnissen. Diese Herabsetzung der Begrifflichkeit hob sich Ende des 18. Jahrhunderts auf, als die Volksdichtung von den Romantikern als Poesie wahrgenommen wurde. Deshalb werden Volks- und Kunstmärchen heute ohne herabsetzende Wertung als eigene Genres anerkannt.11 Wie alt Märchen sind, ist nicht belegbar. Sie wurden erst spät als eigenständige Gattung in die Literatur aufgenommen, unter anderem erstmals durch die Brüder Grimm. Da Märchen in den unteren Gesellschaftsschichten entstanden sind, wurden sie, als sie nur die mündliche Tradierung kannten, von den angesehenen Poeten ignoriert. Erst die Romantik brach diese Grenze auf. Das Märchen sollte von der gesamten Familie gelesen werden, auch wenn die Brüder Grimm einen besonderen Bezug zu Kindern herstellen wollten.12
2.1.2 Unterschied zwischen Volks- und Kunstmärchen
Kennzeichnend für Volksmärchen ist ihre schlichte und einfache Gestaltung. Sie wurden mündlich überliefert, sodass formelhafte Sätze und Wiederholungen in ihnen integriert sind. Handlungen und Schauplätze sind einseitig vorhanden, so ist beispielsweise der Wald Schauplatz vieler Volksmärchen. Ort und Zeit der Erzählung werden nicht benannt. Die Figuren gehören entweder dem Guten oder dem Bösen an. Eine Mischform gibt es nur in den Kunstmärchen. Zudem endet das Volksmärchen überwiegend im Guten.13 Da Volksmärchen mündlich überlieferte Erzählungen sind, die vorerst nicht schriftlich fest-gehalten und dadurch auch kontinuierlich abgeändert wurden, können sie auch keinem eindeutigen Autoren zugewiesen werden. Im Gegensatz dazu zählen die Kunstmärchen zu der Literatur, die von einem einzelnen Poeten geschaffen und konkret nach seinen Vorstellungen schriftlich festgelegt werden.14 Das Kunstmärchen steht im Kontrast zu vielen Aspekten des Volksmärchens, da es aus-geschmückter und vielfältiger ist. Gemeinsam haben beide Formen, dass der Held meistens einen Konflikt zu lösen versucht, dass phantastische und zauberhafte Requisiten vorhanden sind sowie das animistische Denken.15
2.1.3 Stilanalyse nach Max Lüthi
Max Lüthi, bedeutender Literaturwissenschaftler und Märcheninterpret, stellt fünf verschiedene stilistische Kennzeichen der Volksmärchen, zu denen auch die Grimm’schen Märchen zählen, heraus. Unter der ‚Eindimensionalität‘ versteht Lüthi die Selbstverständlichkeit von phantastischen Ereignissen und Figuren neben den gewöhnlichen Gestalten. Die Welt in der Erzählung vereint so die reale mit der fiktiven Dimension.16
Als ‚Flächenhaftigkeit‘ bezeichnet Lüthi den Verzicht auf Zeit- und Ortsangaben sowie Figuren- beschreibungen. Gefühle und Charaktere werden ihnen nicht zugeschrieben. Da die Handlung im Mittelpunkt steht, werden Gefühlslagen nur weiter ausgeführt, wenn die Handlung es voraussetzt. Die Figuren scheinen isoliert, denn sie können keine Verbindung zu anderen Figuren herstellen.17 Außerdem stellt Lüthi einen ‚abstrakten Stil‘ heraus: Es wird alles benannt, jedoch nichts geschildert. Nur das Wesentliche findet sich in der Darstellung wieder. Handlungen, Requisiten und Figuren werden nicht näher beschrieben. Beispielsweise tritt die Hexe in ursprünglichen Versionen nur als „[…] alte Hexe […]“18 oder „[…] Weib […]“19 auf. Die Brüder Grimm weiten den abstrakten Stil aus und beschreiben sie näher mit „[….] roten Augen […]“20 und „[…] langer Nase […]“.21 /22 Stilistisch für Volksmärchen sind auch die Farben Rot, Weiß, Schwarz sowie Silber und Gold. Außerdem fallen Mineralisierung und Metallisierung vieler Elemente auf. So wie zwischen dem Guten und Bösen differenziert wird, sind in Volksmärchen auch nur harte Strafen oder Belohnungen die Folge. Mittelwege gibt es nicht. Außerdem gehören dem abstrakten Stil feste formelhafte Sätze sowie andere Wortwiederholungen und Verse an. Diese sind auf die mündliche Überlieferung zurückzuführen.23 Die ‚Isolation und die Allverbundenheit‘ meint die Beziehungslosigkeit der Figuren und Elemente, die zum Teil durch die ‚Flächenhaftigkeit‘ bedingt ist. Beziehungen existieren nur, um den Kontrast zwischen den Figuren aufzuzeigen oder, weil es der Plot verlangt. Figuren sammeln keine Erfahrung und weisen keine Entwicklung auf. Die Isolation betrifft auch Handlung und Zeit: Es werden keine Verhältnisse zwischen Situationen dargestellt, sodass auch keine Folgen auftreten.24 Mit dem Merkmal der ‚Sublimation‘ und der ‚Welthaltigkeit‘ verweist Lüthi darauf, dass alle Motive gleichermaßen erzählt werden, sodass auch Aufregendes ruhig dargestellt wird und die Figuren Handlungsträger und keine Typen sind. Somit kann das Märchen willkürlich jedes erzähltechnische Element integrieren.25
2.1.4 Strukturanalyse nach Vladimir Propp und Anderen
Vladimir Propp stellt fest, dass sich die Geschehnisse unter den Märchen sehr ähneln und nur ein Figurenwechsel stattfindet. Infolgedessen fasst er ähnliche beziehungsweise gleiche Handlungen zu Funktionen zusammen. Propp stellt 31 Funktionen heraus, die unterschiedlich in den einzelnen Märchen auftreten können. Diese Funktionen können das Verbot für die Heldenfigur sein oder das Trennen von der Familie. Aneinandergefügt ergeben das jeweilige Märchen. Einige dieser Funktionen stehen sich gegenüber, wie beispielsweise das Verbot und das Verletzen des Verbots oder Kampf und Sieg. Dadurch entstehen Gruppierungen. Er beschreibt außerdem, dass jedes Märchen bestimmte Elemente aufweist, die den weiteren Verlauf der Handlungen vorantreiben. Hierzu gehören die „Schädigung (Mangelsituation) - [die] Aussendung (Vermittlung) - [der] Entschluss zur Gegenhandlung [und die] Abreise.“26
Die Germanisten Max Lüthi und Heinz Rölleke beschreiben diese Struktur als Zweier-Rhythmus: Jede Erzählung beginnt mit einer Art Mangelsituation oder einer schwierigen Lage. Der zweite Teil folgt mit der Problemlösung. Die Handlung bleibt einsträngig, es gibt keine Parallelhandlungen. Inhaltlich werden in ihr meistens signifikante Aspekte des menschlichen Verhaltens wiedergegeben. Dazu gehören Gegensätzlichkeiten, wie Gewalt und Frieden. Typisch für die Themen in den europäischen Volksmärchen sind Widersinnigkeit und Ironie. Da bekämpft der Schwächling den Riesen und „[…] Dinge stehen nicht schlimmer, sondern besser als es scheint.“27
2.2 Gewalt
2.2.1 Wortbedeutung
Das Wort Gewalt stammt aus dem Althochdeutschen „[…] (gi)walt, zu waltan […]“, das „[…] »stark sein«, »herrschen«[…]“28 bedeutet. Der aktuelle Bedeutungssinn lautet im Allgemeinen „[…] die Anwendung von phys[ischem] und psych[ischem] Zwang gegenüber Menschen.“29 Dabei handelt es sich zum einen um „[…] die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen […]“30 und zum anderen um „[…] das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen […]“.31 3
Der Gewaltbegriff ist in der deutschen Sprache so groß, dass häufig Unterschiede verschiedener Gewaltformen untergehen. Soziologische Ansätze differenzieren hierbei indirekte und direkte Gewalt sowie sexuelle Gewalt. In der Psychologie wird Gewalt „[…] als Ausdruck von Aggression […]“33 angesehen. Diese Definition bezieht sich somit nur auf die personale Gewalt.34 Die Brockhaus-Enzyklopädie (21. Auflage, Band 10 FRIES-GLAR) unterscheidet zwischen drei Rubriken: der verletzenden Gewalt, der ordnenden Gewalt und der politischen Gewalt.35 Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der erstgenannten Gewaltform, da sie den einzelnen Interaktionen zwischen Personen am nächsten kommt.
2.2.2 Verletzende Gewalt
Die Begriffsbestimmung der verletzenden Gewalt ist der allgemeinen Definition von Gewalt am ähnlichsten. Sie bezieht sich auf den Aspekt der Zwangseinwirkung, welche mithilfe jedes Einflusses auf das Handeln des Anderen ausgeübt wird. Ziel des Gewalttätigen ist es, sich über die Gegenwehr des Anderen hinwegzusetzen.36 Gewaltakte können durch die eigene körperliche Kraft oder auch mithilfe verschiedener Mittel, wie Waffen, ausgeübt werden.37
Schulpsychologin Heidrun Bründel und Soziologe Klaus Hurrelmann differenzieren verschiedene Formen dieser „[…] direkten Aggression […]“38 die physische Gewalt, die psychische Gewalt, die verbale Gewalt, die sexuelle Gewalt, die frauenfeindliche Gewalt und die fremdenfeindliche sowie rassistische Gewalt. Mit physischer Gewalt ist die körperliche Verletzung mit der Kraft des eigenen Körpers gemeint. Unter psychisch werden Verletzungen im emotionalen Bereich verstanden, beispielsweise durch persönliches Abwenden, und die verbale Gewalt wird als die Schädigung des Anderen durch abwertende Aussagen definiert. Werden andere zu sexuellen oder intimen Körperkontakten genötigt, liegt sexuelle Gewalt vor. Die frauenfeindliche Gewalt schließt alle zuvor genannten Formen ein. Diese tritt auf, sobald sich eine von diesen Arten gegen eine Frau oder ein Mädchen richtet, um sie zu benachteiligen oder zu demütigen. Die fremdenfeindliche Gewalt vereint auch die bereits genannten Formen, die sich gegen Menschen richten, die beispielsweise anders aussehen oder anderen ethnischen Gruppen zugehören. Gewalt wird letztendlich von den genannten Autoren als ein Ende einer Auseinandersetzung gedeutet. Oftmals wird Gewalt als Konfliktlösung angesehen, wobei sie dadurch automatisch neue Kontroversen mit sich zieht.39
Die Frage nach der Motivation der Gewalttaten kann sehr unterschiedlich beantwortet werden. Situative Gewalt ist eine spontane Handlung, die sich aus Konflikten heraus ergibt. Gewalt kann jedoch auch gut überlegt sein und gezielt zum Einsatz kommen. Ob sich Gewalt rechtfertigen lässt, hängt von den Gesellschaftsordnungen ab. Sie bestimmen, welche Gewaltakte legitim oder nicht erlaubt sind.40
In dieser Arbeit werden die Szenen im originalen Märchen der Brüder Grimm und im Film hinsichtlich der personalen Gewalt analysiert, welche die Formen der physischen, psychischen und verbalen Gewalt einbeziehen, so wie sie Bründel, Hurrelmann und die Brockhaus-Enzyklopädie beschreiben.
Die Frage nach dem WIE der Gewaltdarstellung kann einerseits konkret die Ausübung betreffen. Das bedeutet, ob sie zum Beispiel physisch, psychisch oder verbal verrichtet wird. Andererseits wird nur die Art der Darstellung untersucht. Die letztere Version soll im Folgenden in dem Grimm´schen Märchen Hänsel und Grethel und dem Film Hänsel & Gretel: Hexenjäger analysiert werden.41
3 Gewaltdarstellungen in Volksmärchen
Es „[…] wird in kaum irgendwelchen anderen Geschichten so viel geköpft, zerhackt, gehängt oder ertränkt und in Nagelfässern zu Tode geschleift wie im Märchen.“42 Bereits Sonderschulleiter und Schriftsteller Carl-Heinz Mallet erkannte die Position der Brutalitäten in Märchen und erläuterte diese in einem gesamten Werk (Kopf ab!über die Faszination der Gewalt im Märchen). Das Märchen zeigt nicht nur die Glücksseiten des Lebens, sondern auch die schlechten Zeiten, in denen sich der Märchenheld gegen böse Mächte wehren muss, um ein traumhaftes Leben zu erreichen.43
3.1 Ursprünge der Gewaltdarstellungen
Winfried Freund begründet die grausamen Darstellungen von drohenden Lebensgefahren in Märchen mit den essenziellen Lebenserfahrungen, die der Mensch erlebt, wie die „[…] Geburt, die Liebe und das Glück.“44 Zu ihnen gehören auch negative und angsterregende Erlebnisse, sodass auch diese inszeniert werden müssten.45 Auch Mallet behauptet, dass Gewalt kein neues Phänomen sei, sondern sehr alte Spuren aufweise, die sich bis auf die Bibel nachvollziehen ließen.46
So wie Mallet führt Lutz Röhrich die meisten brutalen Szenen in Märchen auch auf historische Fakten zurück. Aus dem Volksglaube verschiedener Orte der Welt, wie dem Orient, aus Asien oder Europa, sollen die Brutalitäten entsprungen, im Märchen aufgenommen und häufig noch phantastisch erweitert worden sein. Hierbei ist es wichtig zu erkennen, dass die Grausamkeiten nicht zum Selbstzweck in den Märchen aufgeführt werden, sondern die Ursprünge aus dem Volksglauben etwas Sinnvolles vermitteln sollten. Gewalttaten wie der magische Kannibalismus sollten zu neuer Lebenskraft, Schönheit oder Ähnlichem führen und das Zerstückeln und Abkochen des Körpers zum Wiederbeleben des Opfers. Es ging dabei nicht um die grausame Folter der Menschen. Ausnahmen waren die Bestrafungen. Anhand ihrer sollten die Täter lediglich gequält werden.47
3.2 Prägnante Gewalttaten
Das Märchen zeigt ein abstoßendes Auftreten des Kannibalismus. Er erscheint lediglich als Sünde der bösen Mächte und meistens ist es eine Hexe, die Kinder essen möchte. Umgekehrt werden auch Figuren der Erzählung beschuldigt, eine Hexe zu sein, sollte der Verdacht bestehen, sie würden Menschenfleisch verzehren. Noch im 19. Jahrhundert glaubten einige Menschen an die magische Wirkung des Blutes. Sie wurden für Hexen gehalten, da das dem Volksglauben entsprach.48
Auch die Strafen spielen eine besondere Rolle in den Volksmärchen. Zu ihnen zählen Folter und
Ermordungen, wie das Abtrennen der Gliedmaßen, das Ertränken im Sack oder Nagelfass sowie das Auseinanderreißen des gesamten Körpers. Historisch gesehen gab es diese Verurteilungen bereits im Mittelalter und auch noch Jahrhunderte danach. Unterschieden werden Strafen zwischen Männern und Frauen. So wie in der menschlichen Geschichte werden auch in den Märchen Frauen verbrannt, ertränkt oder lebendig begraben. Die Männer werden dagegen gehängt oder gerädert. Die Sanktion, die im Märchen überwiegend auftritt, ist die Hexenverbrennung. Märchen, in denen sie vorkommt, sind beispielsweise Brüderchen und Schwesterchen, Die sechs Schwäne und Die zwei Brüder. Nur die vollständige Zerstörung des Hexenkörpers kann ihre Schandtaten rückgängig machen. Bei den Strafen gilt vor allem das epische Prinzip „[…] ‚Wie du mir, so ich dir‘ […].“49 Die Strafen gleichen somit dem Verbrechen. Werden die Strafen auf diese Art und Weise ausgesprochen, nennt Röhrich das eine ‚spiegelnde Strafe‘, die eine Rechtssprechung erleichtert.50
3.3 Darstellungsformen
„Nirgends findet sich eine nähere Beschreibung, nirgends eine umständliche Schilderung.“51 Auf diese Art beschreibt Lüthi die Präsentation der Grausamkeiten im Märchen. Nach ihm werden alle mög- lichen Formen der Gewalt distanziert präsentiert, indem sie im fiktionalen Part der Erzählung eingehüllt werden. Mallet bringt vor, dass es sich um indirekte sowie subtile, aber auch um „[…] mitleidlos brutale[ ] Morde[ ] […]“52 handele. Dabei werde sich an keine Normen wie die Moral gehalten, sondern die Gewalt trete nichts weiter als auf. Er behauptet, Märchen stellten dabei die Gewaltszenen eher informell und ungehemmt dar.53 Lüthis Stilanalyse bestätigt das, da sich Volksmärchen auf das Geschehen konzentrieren und „[…] sich nicht in der Darstellung der Schauplätze und der Träger dieses Geschehens [verlieren].“54 Bevorzugt werden klare und bestimmte Strukturen, die ohne zusätzliche stilistische Beschreibungen auskommen.55 „Es begnügt sich mit knappen Hinweisen. Niemals wühlt es im Grausigen. Kein Märchenhörer stellt sich die zerfetzten und allmählich verwesenden Leichen […] plastisch vor.“56
Röhrich fügt hinzu, dass es im Märchen Grausamkeiten gibt, über die sich nicht beschwert wird und die auch kein Mitleid erzeugen. Die Schmerzen sowie das Blut, das sichtbar wäre, werden nicht erwähnt. In dem Märchen Mädchen ohne Hände wird beispielsweise nur von der Hilflosigkeit erzählt, jedoch nicht von den Schmerzen, die das Mädchen erleidet. Auch in anderen Volksmärchen wird
„[…] nichts von Schmerz, nichts von Blut [erzählt].“57 Außerdem ist Röhrich der Meinung, dass die Gewalttaten erst grausam und brutal wirken, sobald sie über die ursprüngliche Bedeutung aus dem Volksglauben hinaus interpretiert werden.58
Die Distanz zu diesen Gewalttätigkeiten wird durch die alleinige Möglichkeit gewährt. Es wird in den Märchen beschrieben, wie andere zuvor bestraft oder verletzt werden und das genau dies auch dem Helden droht, wenn er den Konflikt nicht lösen kann.59 Da es für den Helden in den meisten Märchen jedoch einen guten Ausgang gibt, werden Gräueltaten nur als epische Spannungselemente genutzt, denn „[…] [d]ie Leistung des Helden wirkt um so gewaltiger, je größer die Gefahr geschildert wird, der er zunächst ausgesetzt wird.“60
Da das Märchen, wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, Extremfälle bevorzugt, sind die Gewalttaten kaum noch steigerbar in ihrer Brutalität. Die skurrilste Grausamkeit erzielt daher eine starke Wirkung in der Erzählung. Auch die gegenüberliegenden Pole, das Gute und das Böse, gibt es nur in ihren Extremen, sodass „[…] die epische Struktur des Märchens geradezu die radikale Vernichtung des Gegners [verlangt.] […]“61
In der Realität werden derartige aggressive Übergriffe bestraft, das betrifft jedoch nicht jeden Fall. So wie in der Wirklichkeit wird es auch in den Märchen gehandhabt: „Gewalt für Gerechtigkeit und gegen das Böse ist erlaubt. Und es ist legitim, sich zu wehren.“62 Schließlich wehren sich Menschen in Notlagen auch mit Macht gegen ihre Täter.63 So gibt es Heldenfiguren, die gewalttätig sind, um ihr Ziel zu erreichen. Der Unterschied liegt in der Beurteilung zwischen diesen beiden Gruppen. Der Held wird im Gegensatz zum Bösewicht nicht bestraft, er ist sogar erfolgreich mit seiner Methode. Jede Vorgehensweise des Helden wird toleriert. „Das moralische Urteil wird nicht ‚objektiv‘ gefällt, sondern immer nur vom Standpunkt des Helden aus gesehen, und dementsprechend wird Grausamkeit nur dann als grausam empfunden, wenn der Held sie erleidet, nicht [sic!] wenn er sie selbst übt.“64 Diese Identifizierung mit dem Märchenhelden erfolgt, da dieser spätestens zum Ende hin ein erfülltes Leben erreicht. Seine Gewalttaten sind gerechtfertigt oder dienen sogar der Unterhaltung. Üben die bösen Figuren Gewalt aus, wird diese nicht besonders herausgestellt. Weil das für sie üblich ist, wird sie ignoriert.65
3.4 Die Hexe - Gestalt des Bösen
„Die Hexe stellt sicher die bekannteste zauberkundige Märchenfigur dar auch weit über die Grenzen der Grimm’schen Sammlung hinaus.“66
Aus dem Grund, dass die Hexe „[…] die bedrohlichste und damit auch machtvollste Gestalt des Textgenres […]“67 darstellt, und da diese Figur vor allem in den zu analysierenden Beispielen eine Hauptrolle spielt, wird ihre Funktion bezüglich der Gewaltdarstellung nachfolgend erläutert. Laut dem Germanisten Winfried Freund wird die schrecklichste Hexe in Hänsel und Gretel und Frau Trude abgebildet. Ihre Boshaftigkeit richtet sich gegen Kinder und deren Leben.68
Die Bezeichnung ‚Hexe‘ ist ein Sammelbegriff, der aus verschiedenen Wesensmerkmalen des Volks- glaubens aus Eurasien sowie aus dem Spätmittelalter und der Frühneuzeit besteht. Die Verbreitung der Vorstellung von Frauen, die nachts aktiv sind, zaubern und fliegen sowie Menschen in Tiere verwan- deln und über das Wetter herrschen können, präsentierte sich bereits im germanischen Gebiet. Derarti- ge Frauen wurden hoch angesehen und zugleich gefürchtet. Seit dem Hochmittelalter wird die Hexe als gefährlich eingestuft. Zudem wird ihr unterstellt, durch ihre Zauberei alles vernichten zu können sowie in Kontakt mit dem Teufel zu stehen. In den Märchen der Brüder Grimm wird allein dieser Sammelbegriff für boshaft teuflische Frauen verwendet.69 Dies verweist auf die universellen und fla- chen Charaktere, welche die Brüder Grimm bevorzugten. Die Präferenz des Volksmärchens zur Ex- treme zeigt sich auch hier wieder, da die Hexe besonders bösartig auftritt.70
In den Grimm´schen Märchen wird sie als „[…] krumme Frau […] gelb und mager[…] [mit] große[n] rote[n] Augen […] [und] krummer Nase […]“71 beschrieben. Sie tritt „[…] kohlschwarz und häßlich […]“72 in Erscheinung. Außerdem wird ihr zusätzlich hasserfülltes Lachen73 sowie grauenvolles Gejammer und Krächzen zugeschrieben. Für gewöhnlich hat sie keine Verbündeten. Gründe für ihre Boshaftigkeit werden in den Volksmärchen nicht genannt. Sie haust abgeschieden von anderen Bewohnern häufig im Wald oder auf dem Berg. Mit ihren Untaten hat sie jeglichen Erfolg, bis sie letztendlich von der Heldenfigur überwältigt wird.74
Die Hexenfigur übt verschiedene Gewalttaten in den Grimm´schen Märchen aus. Jedoch sind zwei Schwerpunkte zu erkennen. Zum einen führt sie Mordversuche aus: In Der Räuberbräutigam, Fitchers Vogel und Van den Machandelboom wird sie als kannibalische Kinderfresserin dargestellt. Sneewitt- chen wird von ihrer Stiefmutter, die Hexenkünste ausführt, mit verhexten Schnürriemen, einem gifti- gen Kamm und einem vergifteten Apfel beinahe umgebracht. Zum anderen verzaubert sie ihre Opfer:
In Frau Trude wird ein Mädchen in ein Holzstück verzaubert und von der Hexe verbrannt. Die Hexe in Jorinde und Joringel verzaubert Jungfrauen in Vögel und sperrt diese ein. Weitere Verzauberungen finden in Die sechs Schwäne und Brüderchen und Schwesterchen statt.
Wird das Böse in den Märchen durch die Hexe symbolisiert, so wird sie überwiegend von den weiblichen Heldenfiguren besiegt, wenn zwei Heldenfiguren, männlich und weiblich, vertreten sind. Sollte dies nicht der Fall sein, so ist es zumindest die Frau, die die Intriganz der Hexe enthüllt und die Vernichtungsstrategie anweist. Wie bereits im vorstehenden Teil erwähnt, ist die am häufigsten auftretende Strafe die Verbrennung, dies gilt vor allem für die Hexenfigur.75
Sie stellt somit den Inbegriff des Bösen in den Volksmärchen dar und personifiziert die Gewalt mit ihrem Handeln. Bezüglich der Märchenmerkmale präsentiert sie die Kontrastfigur zum Helden. So wie es in Märchen üblich ist, dienen derartige flache Charaktere dazu, die Heldenfigur abzurunden und das Bild des Helden aufzubessern.76
4 Gewaltdarstellungen in Hänsel und Grethel
Für die Analyse der Gewaltdarstellungen in Märchen wurde das Volksmärchen Hänsel und Grethel aus der vollständigen Ausgabe der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ausgewählt, welche sich auf die Grundlagen der dritten Auflage (1837) bezieht. Es ist sehr repräsentativ für die Grimm-Märchen, da es einen hohen Erinnerungswert durch typische Märchenelemente wie Wald, Hexe und Ofen besitzt.77
Da die Gewaltszenen des Erzähltextes und die des Films im Zentrum dieser Arbeit stehen, werden diese hinsichtlich ihrer Präsentation analysiert. Im Anhang befinden sich alle Textpassagen aus dem Märchen, die konkret physische, psychische oder verbale Gewalt darstellen. Einige werden in der folgenden Analyse als prägnante Beispiele aufgeführt. Die Erzählung von Hänsel und Grethel weist viele der typischen Merkmale der Volksmärchen auf, die in Kapitel 2.1 beschrieben wurden. Dabei stellt sich die Frage, welche der Merkmale, die in der Märchendefinition erläutert wurden, sich in den Gewaltdarstellungen des Textes zeigen. Außerdem werden die zitierten Textstellen anhand erzähltextanalytischer Aspekte untersucht. Gesondert werden die Hexe und deren Gewaltdarstellungen betrachtet.
Das Volksmärchen Hänsel und Grethel wird auch als ‚Fressermärchen‘ bezeichnet.78 Allein diese Bezeichnung verweist bereits auf die mögliche Gewalt darin. Es besteht aus fünf inhaltlichen Teilen. Zuerst werden die beiden Kinder, Hänsel und Grethel, von der Mutter und dem diesbezüglich überredeten Vater der Wildnis ausgeliefert. Nach langem Hungern finden sie ein einladendes essbares Haus, das von einer Hexe bewohnt wird. Der dritte Part enthält die Mästung des Jungen bis er so viel zugenommen hat, dass die Hexe ihn fressen möchte. Bevor ihr das gelingt, stößt Grethel sie im vierten Teil in den Ofen und befreit Hänsel. Im letzten Abschnitt nehmen sie die Schätze der Hexe mit und suchen ihr Elternhaus wieder auf. Ihre Mutter ist in der Zwischenzeit verstorben.
4.1 Analyse der allgemeinen Gewaltdarstellungen im Text
Vorerst wird das Handlungsschema79 des Gesamttextes betrachtet. Es entspricht dem genre- spezifischen Zweier-Rhythmus, der Funktionen Propps und dessen Reihenfolge, die er der Gattung Märchen entnommen hat. Zum einen erfolgt die ‚Schädigung‘, indem die Kinder zweimal ausgesetzt werden (Grimm et al. 1985, S. 86 Z. 27-S. 89 Z. 23).80 Zum anderen stellen das Verirren und Hungern im Wald (ebd., S. 89 Z. 23-31) die ‚Aussendung‘ dar. Auf das Leiden unter der kannibalistischen Hexe (ebd., S. 90 Z. 19-S. 91 Z. 31) folgt die Hexenverbrennung (ebd., S. 91 Z. 31-S. 92 Z. 3) durch Grethel (‚Entschluss zur Gegenhandlung‘). Die ‚Abreise‘ findet statt, als Grethel die Hexe im Ofen verbrennen lässt, Hänsel befreit und beide mit wertvollen Schätzen nach Hause zurückkehren.
Der Konflikt und die Konfliktlösung sowie fast alle der nach Propp aufgeführten Funktionen der Handlung sind von Gewalttätigkeiten geprägt. Der Konflikt, somit die ‚Aussendung‘ und die ‚Schädigung‘, besteht aus der physischen, psychischen und verbalen Gewalt der Hungersnot und der Aussetzung der Kinder. Die Bewältigung des Konfliktes, der ‚Entschluss zur Gegenhandlung‘, erfolgt nur durch die physische Gewalt, indem die Hexe verbrannt wird.
In Bezug auf die Merkmale Lüthis (vgl. Kapitel 2.1) weisen die Gewaltdarstellungen vor allem die Aspekte der ‚Flächenhaftigkeit‘ und des ‚abstrakten Stils‘ auf.
Wie in „Die Mutter führte sie noch tiefer in den Wald hinein, wo sie ihr Lebtag nicht gewesen waren […]“ (Grimm et al. 1985, S. 89 Z. 11f) oder „[…] aber sie verirrten sich bald in der großen Wildnis, und gingen die Nacht und den ganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein. Dann gingen sie noch einen Tag, aber sie kamen nicht aus dem Wald heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts zu essen, als ein paar kleine Beeren, die auf der Erde standen“ (ebd., S. 89 Z. 24-29) werden in fast allen Textpassagen81 keine Gefühle, wie hier das schlechte Gewissen der Eltern oder die Angst der Kinder, beschrieben. Es werden oberflächlich die stattfindenden Handlungen wiedergegeben. Man könnte meinen, folgende Darstellung der psychischen Gewalt sei eine Ausnahme: „[…] sie glaubten, der Va- ter wäre noch im Wald, weil sie Schläge einer Axt hörten, aber das war ein Ast, den er an einen Baum gebunden hatte, und den der Wind hin und her schlug“ (ebd., S. 88 Z. 7-10). Hier wird genau die Me- thode des Vaters beschrieben, mit der die Kinder von sich fernhält. Jedoch wird auch hier nicht die zu erwartende Enttäuschung der Kinder über den Vater erwähnt. Diese Gleichgültigkeit verwehrt dem Rezipienten die Identifizierung mit den jeweils Betroffenen. Da der Leser nur erahnen kann, was die Figur in diesem Moment empfinden könnte, wird er sich weniger hineinversetzen können. Ausnahmen sind die Darstellungen, in denen das Verb ‚weinen‘ auftritt. Einerseits wird damit beschrieben, wie Gretel unter den unterschiedlichen Gewalttaten leidet (ebd., S. 87 Z. 9; S. 88 Z. 13; S. 90 Z. 35; S. 91 Z. 17). Andererseits drückt es die Erleichterung von Hänsel und Gretel bei der Befreiung aus (ebd., S.92 Z.5f). Durch die Veranschaulichung des Empfindens wirken die Gewalttaten erst grausam. Auch wenn die Geschwister „[…] vor Freude […]„ (ebd., S.92 Z.5f) weinen, zeigt das, welche Angst sie vor der Gewalt, die ihnen bevorstand, hatten.
So, wie der ‚abstrakte Stil‘ für gewöhnlich nur die Extreme kennt, gibt es auch in diesem Märchen keine Kompromisse. Das stellt die Strafe, die Grethel der Hexe auferlegt, dar: „Nun fing die Alte an in dem heißen Backofen zu schreien und zu jammern; Grethel aber lief fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen“ (ebd., S. 91 Z. 31-37, S, 92 Z. 1-3). Hier äußert sich die spiegelnde Strafe Röhrichs. Die Hexe muss verbrennen, da sie „[…] Grethel [...] in dem heißen Ofen backen, […] dann […] auch aufessen [wollte]“ (ebd., S. 91 Z. 25-31). Die Gewalt, die Grethel hier ausführt, scheint nicht negativ gewertet zu werden, da sie zum einen zu den Figuren des Guten gehört und zum anderen der Hexe das Gleiche antut, was die Hexe auch ihr angetan hätte. Somit scheint sich das Verhältnis der Gewalttaten auszugleichen.
Die Brüder Grimm verwendeten ihren eigenen Stil, der an mehreren Merkmalen erkennbar ist. Besonders hervorzuheben sind für die vorliegende Arbeit die Diminutive und Steigerungen. „[…] Brothäuslein […]“ (ebd., S. 90 Z. 20) oder „»[…] dein Brüderchen […]«“ (ebd., S. 91 Z. 8) drücken die Verkleinerungen aus, die Grausamkeiten reduzieren. Die Steigerungen hingegen sorgen für weitere Spannung.82 Die tritt auch in Hänsel und Gretel auf, wenn sie mehrmals dem tiefen Wald ausgesetzt werden und es jedes Mal aussichtsloser für sie wird zurückzukehren (ebd., S. 86 Z. 27-S. 89 Z. 29).
Obwohl die Erzählinstanz dem Leser im gesamten Text als covert narrator erscheint, da sich in keiner Textstelle eine explizite Darstellung von ihr zeigt und dies für gewöhnlich eine Unmittelbarkeit mit sich bringt,83 wird Distanz erzeugt. Der Grund dafür ist die Erzählweise aus der Heterodiegese und die auktoriale Erzählsituation. Der Erzähler ist nicht gleichsam eine Figur und erzählt aus deren Perspektive, sondern er besitzt eine Übersicht des Geschehens. Das zeigen folgende Beispiele: „Gott aber gab es dem Mädchen in den Sinn, daß es sprach »ich weiß nicht […]«“ (ebd., S.91 Z. 31f) und „[…] aber sie verirrten sich bald in der großen Wildnis, und gingen die Nacht und den ganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein“ (ebd., S. 89 Z. 24-26). Die Introspektion der Grethel-Figur bestätigt die Nullfokalisierung und somit den narrativen Modus, den die Erzählung besitzt. Auch der Adressat wird implizit dargestellt beziehungsweise nicht benannt, sodass es keinen direkten Bezug zum Leser gibt. Das bewahrt Distanz zum Geschehen. Bei der Untersuchung des Textes bezüglich des Perspektivmodells von Wolf Schmid84 fallen die ideologische, die räumliche sowie die sprachliche Perspektive auf, die in diesem Fall aufeinander aufbauen.
[...]
1 Lindner, Eva: Wie Märchen der Gebrüder Grimm jugendfrei wurden. Vor 200 Jahren veröffentlichten die Grimms ihre Märchensammlung in Berlin - doch in der "entschärften" Version ohne Erotik und Gewalt. http://www.morgenpost.de/kultur/article112144530/Wie- Maerchen-der-Gebrueder-Grimm-jugendfrei-wurden.html (20.11.2013).
2 Hinweis zur Genderformulierung: Bei allen Bezeichnungen, die auf Personen bezogen sind, meint die gewählte Formulierung beide Ge- schlechter, auch wenn aus Gründen der leichteren Lesbarkeit die männliche Form oder bei Ausnahmen wie ‚Hexe‘ die weibliche Form steht.
3 Literaturbeispiele und Titelnamen werden in dieser Arbeit in kursiv gekennzeichnet. Außerdem werden die jeweiligen Nachweise der Literatur- und Medienbeispiele nicht in Fußnoten aufgeführt, sondern separat im Literaturverzeichnis.
4 Vgl. Lindner.
5 Vgl. Greif, Thomas: Beispiellose Erfolgsgeschichte. In: Sonntagsblatt THEMA Grimms Märchen (2012) (06/2012). S. 9f.
6 Vgl. Solms, Wilhelm: Die Moral von Grimms Märchen. 1. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 163.
7 Der Name der weiblichen Heldenfigur wird im Märchen der Brüder Grimm Grethel geschrieben, im Film wird er Gretel geschrieben.
8 Vgl. Heindrichs , Heinz-Albert:Das Märchen - eine Urform synästhetischen Erlebens. Hrsg. von Franz, Kurt; Kahn, Walter: Märchen - Kinder - Medien. Beiträge zur medialen Adaption von Märchen und zum didaktischen Umgang. 1. Aufl. Hohengehren: Schneider 2000. S. 7-13,S. 7.
9 Vgl. Box Office Mojo: Hansel and Gretel Witch Hunters. http://boxofficemojo.com/movies/?id=hanselandgretelwitchhunters.htm (20.11.2013).
10 Termini, die aus den jeweiligen Quellenangaben des Absatzes stammen, werden in dieser Arbeit mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet. Auch wenn sie in der weiteren Arbeit nochmals genannt werden.
11 Vgl. Lüthi, Max; Rölleke, Heinz: Märchen. 9. Aufl. Stuttgart: Metzler 1996, S. 1.
12 Vgl. Freund, Winfried: Das Märchen. 2. Aufl. Holfeld: Bange Verlag 2005, S. 6f.
13 Vgl. Neuhaus, Stefan: Märchen. 1. Aufl. Tübingen: Francke 2005, S. 9.
14 Vgl. Lüthi, Rölleke 1996, S. 5.
15 Vgl. Neuhaus 2005, S. 9.
16 Vgl. Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 7. Aufl. München: Francke Verlag 1981, S. 9-12.
17 Vgl. ebd., S. 13-23.
18 Vgl. ebd., S. 26.
19 Vgl. ebd., S. 26.
20 Vgl. ebd., S. 26.
21 Vgl. ebd., S. 26.
22 Vgl. ebd., S. 25-36.
23 Vgl. Lüthi, Rölleke 1996, S. 25.
24 Vgl. Lüthi 1981, S. 37-44, 49-54.
25 Vgl. ebd., S. 63-71.
26 Propp, Vladimir, Eimermacher, Karl (Hrsg.): Morphologie des Märchens. 1. Aufl. München: Carl Hanser Verlag 1972, S. 40.
27 Lüthi, Rölleke 1996, S. 25.
28 Zwahr, Annette (Hrsg.): Brockhaus Enzyklopädie. Band 10 FRIES-GLAR. 21. Aufl. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus op. 2006, S. 676.
29 Ebd., S. 676.
30 Ebd., S.676.
31 Ebd., S. 676.
32 Vgl. ebd., S. 676.
33 Ebd., S. 676.
34 Vgl. ebd., S. 676.
35 Vgl. ebd., S. 676-678.
36 Vgl. ebd., S. 676.
37 Vgl Imbusch, Peter: Der Gewaltbegriff. In Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Hrsg. von John Hagan; Wilhelm Heitmeyer. 1. Aufl. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002. S.26-57, S. 35.
38 Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus: Gewalt macht Schule. Wie gehen wir mit aggressiven Kindern um? 1. Aufl. München: Droemer Knaur 1994, S. 23.
39 Vgl. Bründel, Hurrelmann 1994, S. 23f.
40 Vgl. Imbusch 2002, S. 36.
41 Vgl. ebd., S. 37.
42 Mallet, Carl-Heinz: Kopf ab! Über die Faszination der Gewalt im Märchen. 1. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985, S. 13.
43 Vgl. Freund, Winfried: Märchen. 1. Aufl. Köln: DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag 2005, S. 142.
44 Ebd., S. 146.
45 Vgl. ebd., S.146f.
46 Vgl. Mallet 1985, S. 15f.
47 Vgl. Röhrich 2001, S. 124-126.
48 Vgl. ebd., S. 131-133.
49 Röhrich 2001, S. 147.
50 Vgl. ebd., S. 143-150.
51 Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 41.
52 Mallet 1985, S. 15.
53 Vgl. ebd., S. 15f.
54 Lüthi, 2008 S. 41.
55 Ebd., S. 42.
56 Ebd., S. 146.
57 Bockemühl, Almut; Blattmann, Elke: Verstoßen, verschlungen, erschlagen … Über Grausamkeit im Märchen. 1. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2008, S. 11.
58 Vgl. ebd., S11.
59 Vgl. Röhrich 2001, S. 142.
60 Röhrich 2001, S. 142.
61 Ebd., S. 149.
62 Mallet 1985, S. 94.
63 Vgl. ebd., S. 94.
64 Röhrich 2001, S. 151.
65 Mallet 1985, S. 48.
66 Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Typologie und Funktionen der weiblichen Figuren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 1. Aufl. Hildesheim, New York: Olms-Weidmann 2004, S. 189.
67 Ebd., S. 195.
68 Vgl. Freund 2005, S. 104f.
69 Vgl. Lüthi 1981, S. 25.
70 Vgl. Feustel 2004, S. 186-197.
71 Grimm, Jacob u. Wilhelm, Rölleke, Heinz, S. 323.
72 Ebd., S. 562.
73 Vgl. ebd., S. 749.
74 Vgl. Feustel 2004, S. 186-197.
75 Vgl. Feustel 2004, S. 186-197.
76 Vgl. Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Düsseldorf: Diederichs 1975, S. 6f.
77 Vgl. Heindrichs 2000, S. 7.
78 Vgl. Scherf, Walter: Hänsel und Gretel. (AaTh 327 A). In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke, Lotte Baumann u. a. Berlin: De Gruyter 1990. S. 498-509, S. 499.
79 Fachtermini der Textanalyse beziehen sich auf Lahn, Silke; Jan Christoph et al: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart: Metzler, J B 2008.
80 Die Seiten- und Zeilennachweise des Primärtextes erfolgen direkt im Text, da sie in der Fußzeile zu viel Platz einnehmen würden.
81 Hier und auch im Folgenden sind nur die Textpassagen gemeint, die psychische, physische oder verbale Gewalt präsentieren (s. Anlage1)
82 Vgl. Fürst, Iris Andrea, Helbig, Elke; Schmitt, Vera: Kinder- und Jugendliteratur. Lehrerhandbuch. 1. Aufl. Neusäß: Kieser 2001, S. 80.
83 Vgl. Lahn, Silke; Christoph, Jan et al.: Einführung in die Erzähltextanalyse. 1. Aufl. Stuttgart: Metzler, J B 2008, S. 63.
84 Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2. Aufl. Berlin, New York: De Gruyter 2008, S. 138-146.
- Arbeit zitieren
- Angelique Heine (Autor:in), 2013, Analyse der literarischen Inszenierung von Gewalt im Märchen "Hänsel und Grethel" im Vergleich mit der filmischen Adaption von Tommy Wirkola, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/289096
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