Der Mindestlohn im Fokus des Multiple-Streams-Ansatzes


Hausarbeit, 2014

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Multiple-Streams-Ansatz
2.1 Der „Problemstrom“
2.2 Der „Policy-Strom“
2.3 Der „Political Stream“

3 Der Mindestlohn

4 Anwendung
4.1 Der „Problemstrom“
4.2 Der „Policy-Strom“
4.3 Der „Political Stream“

5 Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

„Auch das Chaos gruppiert sich um einen festen Punkt, sonst wäre es nicht einmal als Chaos da“ (Schnitzler 1927). Diese Worte stammen aus der Feder des Dramatikers Arthur Schnitzler und sie stellen eine gute Ausgangssituation dar, um zu begreifen was der Politikwissenschaftler John W. Kingdon mit seinem Multiple-Streams-Ansatz zum Ausdruck bringen möchte.

John W. Kingdon begreift das Regierungssystem im Allgemeinen als eine in sich geschlossene und konfliktbeladene Struktur, die man jedoch mit den Methoden der Organisationswissenschaft analysieren und beschreiben kann. Ähnlich wie eine Organisation hat auch eine solche staatliche Struktur Regeln, Abläufe und Verfahren, die das Zustandekommen von Entscheidungen regeln (Rüb 2009: 349). In solchen politischen Prozessen werden in einem ständigen Kreislauf Entscheidungen getroffen, formale Fristen eingehalten, Reaktionen gefordert und der Blick auf bestimmte Sachverhalte gelenkt (Rogge 2010: 206).

Kingdon stützt sich bei seinen Überlegungen auf die Forschungen von Cohen, March und Olson mit ihrem umstrittenen garbage can model1. Dieses Mülleimer-Modell wurde von den Autoren 1972 entwickelt und versucht die Entscheidungsprozesse am Beispiel von US-amerikanischen Universitäten als organisierte Anarchie zu begreifen. Lösungen werden in dieser Versuchsanordnung nicht anhand von expliziten Problemstellungen hervorgebracht, sondern existieren in vier voneinander getrennten Strömen (problems, solutions, participants, choice opportunities) (Rüb 2009: 350). Die Analogie der Ströme macht hierbei deutlich, dass es sich um prozesshafte Strukturen handelt, die ihrerseits immer in Bewegung bzw. einem Wandel / einer Veränderung unterworfen sind. Auf diese Art kann auch das Hervorbringen von Lösun-gen erklärt werden, die nicht die spezifische Antwort auf ein Problem darstellen, sondern vielmehr nach einem Problem suchen, für das sie als Lösungen dienen könnten (Rüb 2006: 22; Kingdon 1995: 85).

Kingdon entwickelte dieses Modell insofern weiter, als dass er versuchte damit einen allgemeinen Ansatz zu formulieren, mittels dessen das Agendasetting und die Entscheidungsalternativen im US-amerikanischen politischen System erklärt werden können (Rüb 2009: 350). Begreift man die organisierte Anarchie als Chaos und den Moment der Entscheidung als jenen Punkt, um den herum sich das Chaos zu organisieren scheint, so stellt sich die Frage: wie und wann kommt es zu einer Entscheidung, bzw. zu einer Überschneidung aller Ströme und was bedeutet dies? Rüb konstatiert: In aller Regel findet man darauf nur schwer eine Antwort oder eine überzeugende Erklärung (ebd.).

Der Multiple-Streams-Ansatz kann zunächst als heuristisches Rahmenwerk verstanden werden, in dessen Zentrum die Frage steht, wie nationale Regierungen Entscheidungen treffen. (Gellner/Hammer 2010: 131).

Bei der vorliegenden Hausarbeit handelt es sich um den Versuch mit Hilfe des Multiple-Streams-Ansatzes in seiner umstrittenen Formulierung wie sie von Kingdon festgelegt wurde, den Zeitpunkt der Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Sommer 2014 zu erklären. Grund für die Relevanz dieser Frage ist die Tatsache, dass der Mindestlohn nicht erst im Rahmen des Bundestagswahlkampfes 2013 ein Thema wurde, sondern er als politische Idee schon viel länger existiert. Theoretisch hätte er schon im Rahmen der letzten Großen Koalition in der Legislaturperiode 2005 bis 2009 unter Bundeskanzlerin Angela Merkel oder unter der rot-grünen Schröder-Regierung 1998 bis 2005 eingeführt werden können.

In einem ersten Schritt soll die Theorie des Multiple-Streams-Ansatzes nach Kingdon tiefer gehend erörtert werden. Dies geschieht primär anhand von Kingdons Werk Agendas, Alternatives, and Public Policies, sowie durch einen Aufsatz von Friedbert W. Rüb mit dem Titel Multiple-Streams-Ansatz: Grundlagen, Probleme und Kritik.

Anschließend wird der Mindestlohn in aller Kürze präsentiert, bevor dann in einem dritten Schritt die Theorie mit der Praxis verbunden werden soll. Anhand der Auswertung von Drucksachen des Deutschen Bundestages, von Presseartikeln, Print- und Onlinemedien sowie weiterer Quellen soll versucht werden die verschiedenen Ströme inhaltlich zu besetzen und die Frage zu klären, warum im Sommer 2014 der günstigste Zeitpunkt gekommen war, um den Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen.

In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse dieser Hausarbeit zusammengefasst und kritisch hinterfragt. Auch der theoretische Ansatz von Kingdon soll auf seine Standhaftigkeit hin analysiert werden.

2 Der Multiple-Streams-Ansatz

Der Multiple-Streams-Ansatz2 ist unter soziologischen Prämissen sehr spannend, denn er legt ein Gesellschaftsbild zugrunde, dass nicht der normalen Vorstellung zu entsprechen scheint. Rüb konstatiert in dem bereits erwähnten Aufsatz, dass der Staat in Kingdons Betrachtungsweise als Träger des Gemeinwohls entzaubert werde und vielmehr als konfliktvolle Einheit betrachtet werde. Der Staat sei in sich zerrissen, unkoordiniert und seine Einheit müsste durch konflikthafte Prozesse immer wieder neu hergestellt werden, um verbindliche Entscheidungen treffen zu können (Rüb 2009: 350). Der Staat unterliegt den in der Einleitung dieser Arbeit erwähnten Strömen.

Auch in Kingdons Betrachtungen und Überlegungen wird von prozesshaften Strukturen ausgegangen, weshalb die Strommetapher durchaus auch hier ihre Berechtigung hat. Sie verdeutlicht besonders gut, dass es sich bei zu betrachtenden Zeiträumen um zeitlich sehr unterschiedliche Größenordnungen handelt, d.h., dass die Zeit in einer Situation besonders knapp sein kann und man auch ohne tiefere Informationen und Kenntnisse über eine Lage Entscheidungen fällen muss; in einer anderen Situation aber kann man sich umgekehrt viel Zeit lassen, um Informationen zu sammeln, auszuwerten und die Entscheidungen dann auf Grundlage einer guten Datenlage treffen. In keinem Fall aber kann man einer Knappheit der Zeit entgehen, d.h. Entscheidungen werden immer unter Zeitknappheit getroffen. Dies bildet eine zentrale Prämisse des MSA (ebd.: 350-351).

Kingdon beschreibt ferner in seinen Überlegungen niemals eine vollkommen regel- und strukturlose Organisation, wie die Einleitung dieser Arbeit vielleicht fälschlicherweise den Eindruck vermitteln könnte. Er spricht zumeist von variablen Strukturen, da die jeweiligen Zuständigkeiten immer wieder neu definiert und verteilt werden, sowie von Verantwortung die zwischen einzelnen Akteuren geteilt wird. Dies führt zu einer Beschränkung der Aufmerksam-keitskapazität. Aufgrund der Tatsache, dass alle Politik von Menschenhand gemacht wird, muss man auch ständig mit einer Logik der Unbestimmtheit arbeiten, d.h. es existieren durchaus vielerlei Ansichten über bestimmte Probleme, die ihrerseits die Konflikte befeuern und so zur Entscheidungsbildung beitragen (ebd. 350-351). Diese Ambiguität belegt, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, über einzelne Sachverhalte nachzudenken. Eine einzige und damit unumstößliche Objektivität gibt es nicht. In Kingdons Betrachtungen arbeiten nationale Regierungen unter den Bedingungen dieser Ambiguität (Gellner/Hammer 2010: 133-135). Wichtig ist, dass die einzelnen Bestandteile einer Organisation parallel arbeiten können. Innerhalb der Organisation Deutschland beispielsweise, können Ministerien, Bundestag, Bundeskanzleramt und Bundesrat unabhängig voneinander und damit parallel agieren (Rüb 2009: 351)

Regierungen arbeiten unter den Bedingungen der Ambiguität, Kingdon be- greift sie als „organisierte Anarchie“, die sich vor allem durch Unbeständigkeit und Flüchtigkeit auszeichnet. Regierungsmitglieder, Bürokraten und

Verwaltungsbeamte wechseln von Zeit zu Zeit, eher sprunghaft als geplant wenden sie sich immer neuen Sachverhalten zu, über die sie in meist knap- per Zeit Entscheidungen treffen sollen“.

(Gellner/Hammer 2010: 133)

Kingdon reduziert um all diese Faktoren zu bündeln die vier Ströme aus dem garbage can model auf drei: den Political-, den Policy- und den Problemstrom. In jenem Moment, in dem sich diese drei Ströme kreuzen, öffnet sich ein Window of Opportunity, ein Möglichkeitsfenster, in dessen Schatten sich eine Policy entfalten kann. Die drei genannten Ströme sind hierbei grundsätzlich unabhängig voneinander zu betrachten und im Entscheidungsprozess nebeneinander zu verorten (ebd.: 136)

Im Folgenden sollen diese Ströme näher behandelt werden. Strukturelle Machtverhältnisse, nationale Stimmungen sowie die generelle öffentliche Aufmerksamkeit bilden zentrale Be-dingungen für das Zustandekommen eines Window of Opportunity. Allerdings auch das bewusste und absichtlich herbeigeführte Koppeln der Ströme durch die sogenannten Policy Entrepreneurs ist denkbar3. Diese sind letzten Endes für das Zustandekommen einer Policy verantwortlich, was den ganzen Prozess noch unbestimmter und kontingenter macht (ebd.: 142-143, Rüb 2009: 352). Unter Policy Entrepreneurs sind in aller Regel individuelle Akteure mit einem bestimmten politischen Anliegen zu verstehen, welches sie über einen längeren Zeitraum hinweg versuchen umzusetzen. Sie treten selten als Vertreter persönlicher Interessen auf, sondern Policy Entrepreneurs haben vielmehr die Interessen eines Unternehmens oder eines Verbandes im Sinn. Langfristige Kontaktpflege verschaffen den Entrepreneurs gezielten Zugang zu den sogenannten Policy Makern, den Mitgliedern des Political Streams (Gellner/Hammer, 2010 142-143).

Policy Entrepreneurs stehen außerhalb der drei Ströme, versuchen allerdings als Lobbyisten die eigenen Interessen umzusetzen und somit die Durchsetzung eigener Ziele zu erreichen, indem sie versuchen eine Kopplung der drei Ströme herbeizuführen.

2.1 Der „Problemstrom“

Der Problemstrom enthält alle Probleme, die im politischen System vorliegen und um Anerkennung konkurrieren. „Sie sind Ausdruck der ins zeitlich-prozesshafte übersetzten funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften“ (Rüb 2009: 353). Diese funktionale Differenzierung vollzieht sich im Wechselspiel aller Teilsysteme der Gesellschaft, wobei sich diese intern durch mehr oder weniger geschlossene Dynamik entwickeln, welche externe Folgen verursachen kann, so dass die Integration somit ein schwieriges Unterfangen wird. Politik ist das einzige verbindende Teilsystem und übernimmt somit die Aufgabe der Integration. Nicht immer treten Probleme als Probleme in Erscheinung. Erst wenn bestimmte Sachverhalte in Konflikt mit den normativen Vorstellungen geraten, werden sie als Problem wahrgenommen. Der Grund hierfür ist simpel: die Probleme verletzen bestimmte Werte und fordern somit zum Handeln und Entscheiden auf (ebd.).

„People define conditions as problems by letting their values and beliefs quid their decisions, by placing subjects under one category rather than another, by comparing current to past performance, and by comparing conditions in different countries.“

(Zahariadis 2007: 71)

Probleme oder Sachverhalte, die als solche wahrgenommen werden, kommen in der Regel also von Außen auf die Politik zu. Eine nicht zu unterschätzende Frage im Detail ist nun, wie man auf solche Probleme aufmerksam werden kann? Rüb formt einen Dreiklang von Umständen, die im System diese Aufmerksamkeit erzeugen: (1.) Indikatoren, (2.), focusing events und (3.) feedback (Rüb 2009: 354). Zu den Indikatoren zählen im politischen Tagesgeschäft klassisch Datenerhebungen und statistische Auswertungen (Arbeitslosenzahlen, Armutsbericht etc.). Focusing events bezeichnen nicht vorhersehbare Ereignisse, die plötzlich das Interesse und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Punkt oder auf ein bestimmtes Problem fokussieren. Rüb führt in seinem Aufsatz die Terroranschläge vom 11. September 2001 an (ebd.). Um im Feld der Arbeitsmarktpolitik zu bleiben, um das es später mit Blick auf den Mindestlohn gehen wird, könnte man hier auch gut den Vermittlungsskandal aus dem Jahre 2001 anführen, der einen der Stoßsteine für die HARTZ-Reformen darstellte. Es handelt sich also um Ereignisse, die ein reflexartiges Fokussieren eines bestimmten Problems zur Folge haben.

Das Feedback bezeichnet eine Art Evaluation von vorangegangenen Entscheidungen, um deren Wirkungen und Auswirkungen zu beobachten und zu analysieren. In aller Regel werden - so Rüb - missglückte Entscheidungen verschwiegen, während die erfolgreichen zu sogenannten Spillover-Effekten führen, d.h. es werden weitere Entscheidungen getroffen, die alle in dieselbe Richtung wirken (ebd.). Auch politische Programme aus der Vergangenheit erweisen sich nach einer bestimmten Zeit als ungeeignet oder gar fehlerhaft, insbesondere dann, wenn Probleme weiterhin bestehen. Sowohl das Feedback, als auch die Evaluation als solche stellt im Problemsystem einen weiteren Stimulus der Aufmerksamkeit dar (Gellner/Hammer 2010: 139).

Durch diese drei Punkte werden Probleme identifiziert. Um sie jedoch auf die politische Agenda zu setzen, müssen sie von den Policy Entrepreneurs erkannt und zum Problem erklärt werden. Dies kann in der Konsequenz auch dazu führen, dass bereits als Problem erkannte Sachverhalte wieder von der politischen Agenda verschwinden können, sobald der Unternehmer ein anderes Problem als dringender, als aktueller empfindet und diesem mehr Gewicht beimisst (Rüb 2009: 354).4

[...]


1 vgl.: Cohen, Michael D./March, James G./Olsen, Johan P., 1972: A Garbage Can Model of Organizational Choice, in: Administrative Science Quarterly 17 (1): 1-25.

2 Anm. des Autors: der Einfachheit halber wird der Multiple-Streams-Ansatz im Folgenden als MSA abgekürzt.

3 Anm. des Autors: Da in dieser Arbeit immer wieder auf den Policy Entrepreneur eingegangen wird, hat dieser kein gesondertes Kapitel, sondern wird thematisch eingearbeitet.

4 Anm. des Autors: Um möglichst nachvollziehbar in der Argumentation zu bleiben und nicht zu weit auszuholen, wird sich diese Arbeit im Folgenden mit 3 Probleme der Mindestlohn-Debatte befassen: Altersarmut, Lohndumping und die Gleichstellung zwischen Mann und Frau.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Mindestlohn im Fokus des Multiple-Streams-Ansatzes
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Einführung in die Polich-Analyse
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
19
Katalognummer
V289122
ISBN (eBook)
9783656894063
ISBN (Buch)
9783656894070
Dateigröße
549 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mindestlohn, fokus, multiple-streams-ansatzes
Arbeit zitieren
Timo Meyer (Autor:in), 2014, Der Mindestlohn im Fokus des Multiple-Streams-Ansatzes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/289122

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