Interessengruppen im politischen System der USA


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG: INTERESSENGRUPPEN IM POLITISCHEN SYSTEM DER USA

2. AUSGANGSPUNKT UND ENTWICKLUNG DERAMERIKANISCHEN VERBANDSLANDSCHAFT
2.1. Ideentheoretische Wurzeln
2.2. Historische Entwicklung
2.2.1. Von den Anfängen der Republik bis zum Ersten Weltkrieg
2.2.2. Die Zwischenkriegszeit
2.2.3. Die große Welle der Verbandsgründungen in den sechziger und siebziger Jahren
2.2.4. Merkmale der heutigen amerikanischen Verbandslandschaft

3. INTERESSENGRUPPEN UND IHRE FUNKTION IM POLITISCHEN WILLENSBILDUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESS
3.1. Repräsentation, Partizipation und Legitimation - Die Erfüllung essentieller Aufgaben in demokratischen Systemen durch Interessenverbände
3.2. Interessengruppen und politische Parteien - Gemeinsamkeiten und Unterschiede

4. DAS INTERESSENSPEKTRUM – TYPEN VON INTERESSENGRUPPEN
4.1. Ökonomisch orientierte Interessengruppen
4.1.1. Unternehmerverbände
4.1.2. Gewerkschaften
4.1.3. Bauernverbände
4.1.4. Berufsverbände
4.1.5.Political Action Committees - PACs
4.2. Nicht-ökonomisch orientierte Interessengruppen
4.2.1. Single-Issue Groups
4.2.2. Ideologische Interessengruppen
4.2.3. Public Interest Groups

5. ADRESSATEN, STRATEGIEN UND MITTEL VON INTERESSENGRUPPE
5.1. Adressaten
5.2.
5.1.1. Der Kongress: Abgeordnete und Ausschüsse
5.1.2. Die Regierung: Präsident, Bundesverwaltung und Regierungskommissionen
5.1.3. Die einzelstaatliche und lokale Ebene: Bürgermeister, City Council, einzelstaatliche Verwaltung und die State Courts
5.1.4. Zielobjekte außerhalb staatlicher Institutionen: Politische Parteien,
andere Interessengruppen und die Bevölkerung

5.2. Strategien und Mittel
5.2.1. Wahlkampfunterstützung
5.2.2. Direct Lobbying
5.2.3. Mobilisierung der Mitgliederbasis – Grassroots Lobbying
5.2.4. Fachwissen und Erfahrung
5.2.5. Inter-verbandliche Kooperation

6. SCHWACHE PARTEIEN UND REPRÄSENTATION MARGINALISIERTER BEVÖLKERUNGSSCHICHTEN – INTERESSENGRUPPEN ALS „NOTWENDIGES ÜBEL“?

7. LITERATURVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG: INTERESSENGRUPPEN IM POLITISCHEN SYSTEM DER USA

Interessengruppen sind ein essentieller Teil pluralistischer, demokratischer Gesellschaften. Zur Gewährleistung der freien Meinungsbildung- und äußerung sowie einer aktiven und effektiven Partizipation im gesellschaftlichen und politischen System sind Interessenverbände unverzichtbar. Schließen sich freie Bürger zusammen, so ist das „legitimer Ausdruck verfassungsrechtlich begründeter Mitwirkungsansprüche und demgemäß das Lebenselixier politischer und sozialer Freiheit.“[1]Die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit eines Staates durch das Einsetzen für die eigenen Interessen besitzt dabei große Bedeutung für moderne Industrienationen mit ihrer arbeitsteiligen Organisation und hohen wirtschaftlichen wie sozialen Differenzierung. So bedingen Faktoren wie ethnische Herkunft, Religion und Einkommen unterschiedliche Bedürfnisse und daher voneinander abweichende bis hin von miteinander im Widerspruch stehende Interessen. Hier muss jedoch bedacht werden, dass die in einer Demokratie notwendige Repräsentation der unterschiedlichen Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung immer in einem Spannungsfeld mit der Erhaltung und Beachtung des Gemeinwohls steht. Dies gilt im Besonderen für die USA, deren Gesellschaft historisch durch eine Vielzahl von Interessen gegliedert ist. Die organisierte Form dieser Interessen, Verbände oder Interessengruppen, soll Thema dieser Arbeit sein, wobei ihre Entwicklung und Wandel besondere Aufmerksamkeit verdienen werden.

Unter einer Interessengruppe verstehe ich im folgenden „an organized collection of indivuals who are bound together by shared attitudes or concerns and who make demands on political institutions in order to realize goals which they are unable to achieve on their own.“[2]

An diese Einleitung schließt eine Betrachtung der politikphilosophischen Wurzeln der amerikanischen Verbandslandschaft und ihrer historischen Entwicklung an. Im nächsten Kapitel bespreche ich die Funktionen, welche Interessengruppen in Gesellschaft und Politik wahrnehmen. Das vierte Kapitel ist einer Zusammenfassung der verschiedenen Verbandstypen gewidmet. Die Ziele, Adressaten sowie Instrumente und Strategien verbandlicher Einflussnahme sind Gegenstand des fünften Kapitels. Das Schlusskapitel enthält ein abschließendes Fazit und die Darstellung interessanter Ausblicke und Perspektiven.

2. AUSGANGSPUNKT UND ENTWICKLUNG DER AMERIKANISCHEN VERBANDSLANDSCHAFT

2.1. Ideentheoretische Wurzeln

Trotz der hohen Dichte an Organisationen in den Vereinigten Staaten werden Interessengruppen und Verbände von der amerikanischen Öffentlichkeit meist misstrauisch beäugt. Das engagierte Einsetzen für bestimmte Interessen lässt schnell den Verdacht aufkommen, andere, weniger stark vertretene Überzeugungen oder gar das Gemeinwohl könnten in die Mühlen des politischen Entscheidungsprozesses geraten und der Großteil der Bürger übergangen werden: „Special interests get more from the government than the people do.“[3]Die Summe aller Einzelinteressen entspricht eben nicht dem Interesse einer ganzen Nation. Es mutet daher sonderbar an, dass dennoch der überwiegende Teil der US-Bürger Mitglied in mindestens einer Interessengruppe ist.[4]

Dieses Dilemma ist allerdings so alt wie die Vereinigten Staaten selber, seit der Gründungszeit der amerikanischen Demokratie überragt ihre Verbandslandschaft die Frage: „Are interest groups a threat to the well-being of the political system, or do they contribute to its proper functioning?”[5]Die historischen Vertreter beider Seiten sind der Franzose Alexis de Tocqueville, der Amerika zu Anfang des 19. Jahrhunderts bereiste, und der Vater des Gründungsdokuments der USA, derFederalist Papers, James Madison. Ersterer zeigte sich begeistert von der hohen Anzahl und großen Bandbreite der amerikanischen Organisationen. In seinen Augen zeugte diese Vielfalt von einer starken Demokratie.[6]Madison sah hingegen auch die Schattenseite dieses Phänomens. Die Bildung vonfactionsstelle eine Gefahr für das Gemeinwohl des Staates dar, bedeute sie doch die Herausbildung einer tief gespaltenen Gesellschaft auf Kosten des Gemeinwohls. Dies gelte es unbedingt zu vermeiden. Trotz dieser Bedenken plädierte Madison aber nicht für die Unterdrückung derfactions, denn das könne allein durch die Abschaffung der Freiheit geschehen, durch welche sie sich erst bildeten: „Liberty is to faction what air is to fire.“[7]Ein solches Vorgehen würde demnach auch den Kern der amerikanischen Demokratie vernichten. Madison schlussfolgerte, dass die Existenz verschiedener Interessen ein wesentliches und notwendiges Merkmal der Vereinigten Staaten seien. Zudem gäbe es geeignete Mittel ihrer Kontrolle, wie etwa der föderalistische Staatsaufbau mit seiner klaren Gewaltentrennung. Durch das dort verankerte System derchecks and balanceswürden die einzelnen Interessen in Schach gehalten und so die das Gemeinwohl gefährdende Dominanz eines oder mehrerer Interessen verhindert werden. Auch würde der aus der Vielfalt der Interessen resultierende Konkurrenzkampf auf natürliche Weise die Vorherrschaft bestimmter Gruppen erschweren.[8]

Madisons Auffassung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Vertretern der Pluralismustheorie wiederaufgegriffen, um der Behauptung der Elitenforscher zu widersprechen, alleine Eliten seien Träger der politischen Macht. Aus pluralismustheoretischer Sicht liegt diese jedoch in der komplexen Verbindung aus Interessengruppen und staatlichen Institutionen: Interessengruppen halten sich durch den natürlichen Interessenkonflikt gegenseitig in der Waage und die Regierung agiert dabei als Vermittler zwischen den miteinander streitenden Interessen.[9]

Wenngleich heute die Legitimität von Interessengruppen nicht mehr in Zweifel gezogen wird, besteht nach wie vor die Frage nach ihrem destruktiven Potenzial und ihrer möglichen Kontrolle, insbesondere im Hinblick auf das Ungleichgewicht bei der Repräsentation zugunsten wirtschaftlich besser gestellter Bevölkerungskreise.[10]Gemeinnützige Organisationen spielen jedoch besonders in jüngerer Zeit auch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im nächsten Abschnitt über die geschichtliche Entwicklung der amerikanischen Interessenlandschaft möchte ich daher aufzeigen, wie durch sie ein starkes Gegengewicht zu den mächtigen alteingesessenen Organisationen herangewachsen ist.

2.2. Historische Entwicklung

Der Ursprung des amerikanischen Verbandspluralismus liegt in der Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten. Die jahrhundertlangen und bis heute andauernden Einwanderungsströme haben eine einzigartige ethnisch-religiöse Vielschichtigkeit hervorgebracht, die selbst heute noch besteht. So gibt es momentan „several hundred organizations which are based on ethnic or national origins, and nearly a thousand religious groups.“[11]Dazu kommt eine noch größere Zahl an wirtschaftlichen Interessenverbänden und Zusammenschlüssen mit kulturellen oder bildungsrelevanten Forderungen.

Ein weiterer Grund für diese Interessengemengelage ist die strikte Gewaltentrennung und der föderalistische Staatsaufbau. Beides ermöglicht die Einflussnahme und Durchsetzung von Interessen sowohl auf horizontaler wie auch auf vertikaler Staatsebene. Es zeigte sich im Laufe der Jahre, dass „der komplizierte Aufbau des föderalistischen, auf Gewaltenteilung basierenden Systems den einzelnen Interessengruppen vielfältige Möglichkeiten bot und im Gegensatz zu einer hierarchisch-zentralistischen Regierungsform buchstäblich zur Einflussnahme einlud.“[12]

2.2.1. Von den Anfängen der Republik bis zum Ersten Weltkrieg

Im Gegensatz zu religiös-ethnischen Organisationen und Gruppierungen gab es bis zum Ersten Weltkrieg kaum Bedarf für unternehmerische Vereinigungen. Dies lag zum einen an der seit der Gründung der Vereinigten Staaten geltenden Gewerbefreiheit und dem daraus resultierenden Konkurrenzprinzip und zum anderen an dem Fehlen feudalistischer Strukturen wie Gilden oder Zünfte. Auch machte die anfangs noch sehr dünne Besiedelung des Landes staatliche Intervention oder Bürokratie auf lange Zeit nicht erforderlich. Dementsprechend gab es, anders als in Europa, keine Notwendigkeit für die Bürger, sich gegen staatlichen Druck zu organisieren.[13]Eine Ausnahme stellten die wenigen Zusammenschlüsse der Farmer sowie die großen EisenbahngesellschaftenPennsylvania RailroadoderNorthern Pacificim 19. Jahrhundert dar, welche aber ausschließlich nach der Blockierung und nicht Unterstützung von Gesetzen trachteten.[14]Nach dem Bürgerkrieg gründeten sich im Zuge der raschen Industrialisierung dann die ersten Gewerkschaften modernen Typs.

2.2.2. Die Zwischenkriegszeit

Erst durch die Etablierung sozialstaatlicher Strukturen und der Kriegsverwaltungswirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die ersten politisch ernst zu nehmenden Unternehmerverbände. In den 30er Jahren hatten sich schließlich fünf Verbandsgruppierungen herauskristallisiert, die sogenanntentraditional interests. Sie bezogen sich auf die Gebiete Arbeit, Industrie und Wirtschaft, Bildung, Landwirtschaft und kommunale Regierung bzw. Verwaltung und Vereinigungen.[15]Organisationen mit ökonomischen und landwirtschaftlichen Interessen blieben allerdings weiterhin die einflussreichsten und größten Akteure. Die folgende Dekade brachte denNew Dealmit seinen sozialen Errungenschaften wie der Sozial- oder Arbeitslosenversicherung, der Einwandererintegration und der Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Schwarzen. In seinem Zuge erhielten nicht nur die Gewerkschaften größere Bedeutung, indem sie zu ernstzunehmenden Mitspielern im politischen Prozess wurden, sondern es bildeten sich auch viele neue Interessengruppen.[16]Der Hauptgrund für diese Entwicklung lag in der Ausweitung des Staatsapparats zur Erfüllung der neuen Aufgaben, welcher eine Vielzahl von Angriffsflächen zur Einflussnahme bot. Neben Industrie- und Handelsverbänden gründeten sich erstmals auch Organisationen zum Schutz der Minderheiten, wie dasAmerican Jewish Committee, und zur Vertretung von Bürger- und Frauenrechten, beispielsweise dieLeague of Women´s Votersoder dieAmerican Civil Liberties Union.[17]

2.2.3. Die große Welle der Verbandsgründungen in den sechziger und siebziger Jahren

Vorläufer des bis heute rasantesten Anstiegs von Gruppengründungen gegen Ende der sechziger Jahre waren der Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zwei Jahrzehnte vorher und die Anti-Vietnamkriegsbewegung in den 60er Jahren. Zwischen 1960 und 1980 nahm die Zahl und Bandbreite der Interessengruppen um 60% zu.[18]Diese Entwicklung ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen.

Zunächst war die wirtschaftliche Tätigkeit in den Einzelstaaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs stark angestiegen und einem durchgreifenden Strukturwandel unterlegen, da sich die Unternehmen neben der Schwerindustrie neue Wirtschaftsgebiete wie Technologie und Dienstleistung erschlossen. Diese wuchsen im Gegensatz zu den Branchen des Ersten und Zweiten Sektors, beispielsweise die Textil- und Lebensmittelproduktion, sehr rasch.[19]Als Antwort auf diese Veränderungen etablierte sich eine breite Mittelschicht, welche über ein entsprechendes Einkommens- und Bildungsniveau und damit über die nötigen Ressourcen zur Vertretung ihrer Interessen verfügte.[20]Die gleichzeitig erfolgende Zunahme der Regierungsaktivität im Rahmen der neuen Sozialgesetzgebung, Unternehmensregulierung und Umweltpolitik erschloss Interessenverbänden auch neue Bereiche und Institutionen, an denen ihre Einflussbemühungen ansetzen konnten. Unterstützend wirkte hier die Abhängigkeit der neu geschaffenen Regierungsinstitutionen von Expertenwissen – ein Umstand, den sich die neuen Gruppierungen bald zu Nutze machen wussten.[21]Die hinzugekommenen Politikfelder stellten jedoch für die traditionellen Interessenvertretungen der Gewerkschaften und Unternehmensverbände ein Problem dar, sahen sie sich doch nicht mehr in der Lage, die Komplexität aller neu aufkommenden Interessen aufzunehmen und zu vertreten. Diese sahen sich so gezwungen, ihre eigene Vertretung und Lobbyarbeit zu übernehmen. Das durch die außen- und innenpolitischen Ereignisse des Vietnamkriegs und der damit einhergehenden Bürgerrechtsbewegung geweckte politische Interesse, gestiegene politische Partizipationswünsche und neue, der Entwicklung der USA zu einer postindustriellen Gesellschaft Rechnung tragende Werte wie Gewaltlosigkeit und Umweltschutz fanden sich vor allem in der vergrößerten Mittelschicht, aber zunehmend auch bei traditionell schlecht organisierten Bevölkerungsgruppen wie z.B. die Schwarzen, Verbraucher oder Patienten, deren Selbstbewusstsein im Zuge der Veränderungen gewachsen war.[22]

Die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Modernisierungsprozesse dieser Jahrzehnte bewirkten also eine Ausweitung des Interessenspektrums, indem sie neue Interessenfelder erschlossen, welche Bevölkerung und Politik bis dato als unwichtig oder nachrangig erachtet hatten.[23]Nicht die amerikanischen Parteien aber waren der Vereinigungsort dieser neuen Interessen, sondern selbstgegründete Organisationen. Ausschlaggebend dafür war vor allem die durch die geänderten Regeln für die Präsidentschaftsnominierung geschwächte Position der politischen Parteien in den sechziger Jahren, da sie die zentralisierende Kraft der Parteiapparate für Demokraten wie Republikaner schwächten.[24]Die Parteien konzentrierten sich daher auf die Auswahl geeigneter Kandidaten für öffentliche Ämter und deren Wahlen und zogen sich aus ihrer Rolle als dominierender Träger von Veränderungen zurück. Diese Lücke im politischen Entscheidungs- und Willensbildungsprozess füllten nun allmählich die neu entstehenden Interessengruppen, um die Wandlungsfähigkeit der Politik weiterhin aufrechtzuerhalten.[25]Gleichzeitig schwand die finanzielle Unterstützung der Parteien für die Abgeordneten, woraufhin diese empfänglich für Geldmittel von Verbänden wurden. In deren Arme wurden die Politiker auch durch die in die Mitte der siebziger Jahre fallenden Kongressreformen getrieben, welche die bis dato einflussreichen Ausschussvorsitzenden in ihrem Machtpotenzial stark beschnitten, wodurch diese nicht mehr in der Lage waren, ihren Abgeordneten eine politische Richtung vorzugeben. Diese waren nun auf sich selbst zurückgeworfen und wurden empfänglich für die Beratung und Information durch Interessengruppen.[26]

Die Auswirkungen der sozial-politischen Umbrüche in den sechziger und siebziger Jahren auf die amerikanische Verbandslandschaft waren enorm. Vor allem die Anzahl der gemeinnützigen Organisationen wuchs im Vergleich zu der ökonomisch orientierter Verbände überproportional an.[27]Darunter befanden sich auch Gruppen, die als Antwort auf die Überrepräsentierung der „special interests“ in Washington entstanden und sich erstmals nicht für die Partikularinteressen und materiellen Vorteile ihrer Mitglieder einsetzten, sondern für „den Durchschnittsbürger oder die demokratischen Mehrheitsinteressen“.[28]Zudem begannen früher still vor sich hin leidende Personengruppen wie Behinderte, chronisch Kranke, Homosexuelle oder ethnische Minderheiten sich zu organisieren und durchsetzungsfähige Sprachrohre zu erarbeiten, was „erst auf dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Wertwandelsprozesse und der wachsenden normativen Toleranz“ möglich war.[29]Ihre veränderte Wahrnehmung durch die Gesellschaft trug zu einem gesteigerten Selbstbewusstsein und einem unerwarteten Zuwachs ihres Organisationspotenzials bei, obgleich sie nicht zu den klassischen ressourcenreichen und damit leicht organisierbaren Bevölkerungsschichten gehörten.

Die traditionellen, ökonomisch orientierten Verbände standen in dieser Entwicklung hinten an und konnten nur leichte Gewinne bei Mitgliedern und neuen Gruppen verzeichnen, wobei jedoch zwischen einzelnen Branchen differenziert werden muss. Vor allem im Ersten und Zweiten Sektor wuchs ihre Anzahl schwach, wobei die Zahl der Verbände in der Textilindustrie sogar zurückging. Hier spielten strukturelle und regionale Faktoren eine wichtige Rolle, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen.[30]

2.2.4. Merkmale der heutigen amerikanischen Verbandslandschaft

Trotz der tiefgreifenden Veränderungen in den letzten 40 Jahren ist das fundamentale Kennzeichen der amerikanischen Verbandslandschaft weiterhin die Dominanz pluralistischer Elemente, eine dezentrale Struktur, starke lokalistische wie regionalistische Prägung und funktionale Zersplitterung. Gering sind dagegen ihre korporatistischen Züge geblieben.[31]Anders als in Deutschland mit seinen „spitzenverbandlichen Strukturen [...], in welchen eine dominierende Dachorganisation repräsentative Fach- und Fachspitzenverbände zu einem einheitlichen Gefüge vereint“, gibt es in den Vereinigten Staaten bis heute nur sehr wenige große Verbände.[32]Selbst die mächtigen Industrieverbänden wie dieChamber of Commerce of the United Statesoder große Gewerkschaften wie der ArbeitnehmerdachverbandAFL-CIO(American Federation of Labor – Congress of Industrial Organisations) vertreten keine Branchenverbände, sondern Einzelpersonen oder einzelne Unternehmen, und besitzen häufig lediglich koordinierenden Charakter.[33]Dabei ist ihre Konkurrenz untereinander innerhalb eines Themengebiets groß, da sie oft um die selbe Klientel kämpfen.[34]

Völlig unübersichtlich scheint die Lage bei den übrigen Organisationen zu sein. Der Verbandsforscher Martin Sebaldt kommt hier zu dem Schluss: „Die im Spektrum der Wirtschaftsverbände wenigstens noch ansatzweise erkennbaren Strukturmuster fehlen bei der Vielzahl von Sozial- und Kulturverbänden, aber auch von ‚Public Interest Groups’ [...] fast völlig; dort ist dem freien Wettbewerb ohne Einschränkung Tür und Tor geöffnet.“[35]An der Seite der lange Zeit mächtigsten Verbände aus Industrie und Wirtschaft steht heute eine ansehnliche Zahl von Non-Profit-Organisationen als respektable Akteure im politischen Prozess. Sahen sich ökonomisch orientierte Interessengruppen lange Zeit nur mit organisierten Arbeiterinteressen konfrontiert, müssen sie sich heute zudem noch mit Umweltverbänden, Verbraucherschutzgruppen und einer Vielzahl anderer Organisationen auseinandersetzen.[36]

Im folgenden Kapitel soll nun auf die Funktionen von Interessengruppen im politischen und gesellschaftlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess eingegangen werden.

[...]


[1]Horst Mewes,Einführung in das politische System der USA(Heidelberg: C.F. Müller, 1990), S. 118.

[2]Dennis S. Ippolito/Thomas C. Walker,Political Parties, Interest Groups, and Public Policy(Englewood Cliff: Prentice Hall, 1980), S. 271.

[3]Stephen Miller,Special Interest Groups in American Politics(New Brunswick: Transaction Books, 1985), S. 1.

[4]Ippolito/Walker,Political Parties, Interest Groups, and Public Policy, S. 1.

[5]Janda Kenneth/Jeffrey M. Berry/Jerry Goldman,The Challenge of Democracy: Government in America(Boston: Houghton Mifflin Company, 1992), S. 339.

[6]Alexis de Tocqueville,Democracy in America(New York: Harper&Row, 1966), S. 135.

[7]James Madison, “Federalist No. 10”. Page by Page Books. 2001, URL: http://www.pagebypagebooks.com/Publius/Federalist_No_10/Federalist_No_10_p1.html [15.1.2004].

[8]Veronica Donahue DiConti,Interest Groups and Education Reform: The Latest Crusade to Restructure the Schools(Lanham: University Press of America, 1996), S. 2.

[9]DiConti,Interest Groups and Education Reform, S. 3.

[10]Janda/Berry/Goldman,The Challenge of Democracy, S. 371.

[11]Richard Maidment/Anthony McGrew,The American Political Process(Beverly Hills: Sage Publications, 1986), S. 125.

[12]Mewes,Einführung in das politische System der USA, S. 119.

[13]Lösche, Peter, „Interessenorganisationen“, in: Willi Paul Adams/Ernst-Otto Czempiel/Berndt Ostendorf/Kurt L. Shell/P. Bernd Spahn/Michael Zöller (Hrsg.),Die Vereinigten Staaten von Amerika: Band 1, Geographie, Geschichte, politische Kultur, politisches System, Wirtschaft(Frankfurt u.a.: Campus, 1992), S. 484.

[14]Clive S. Thomas/Ronald J. Hrebenar, “Interest Groups in the States”, in: Virginia Gray/Russell L. Hanson/Herbert Jacob (Hrsg.),Politics in the American States: A Comparative Analysis(Washington, D.C.: Congressional Quarterly, 1999), S. 116-117.

[15]Clive/Hrebenar, “Interest Groups in the States”, S. 116-117.

[16]Ippolito/Walker,Political Parties, Interest Groups, and Public Policy, S. 16.

[17]Mewes,Einführung in das politische System der USA, S. 122.

[18]Maidment/McGrew,The American Political Process, S. 125.

[19]Michael P. Conzen, „Landschaften und Regionen: Naturräumliche Gegebenheiten und ihre Entwicklung durch den Menschen“, in: Willi Paul Adams/Peter Lösche (Hrsg.),Länderbericht USA(Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1998), S. 487-489.

[20]Clive/Hrebenar, “Interest Groups in the States”, S. 116.

[21]Maidment/McGrew,The American Political Process, S. 127.

[22]Martin Sebaldt,Transformation der Verbändedemokratie: Die Modernisierung des Systems organisierter Interessen in den USA(Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2001), S. 95, 96; Clive/Hrebenar, “Interest Groups in the States”, S. 117.

[23]Sebaldt,Transformation der Verbändedemokratie, S. 330.

[24]Miller,Special Interest Groups in American Politics, S. 4.

[25]DiConti,Interest Groups and Education Reform, S. 2; Ippolito/Walker,Political Parties, Interest Groups, and Public Policy, S. 21.

[26]Miller,Special Interest Groups in American Politics, S. 5.

[27]Thomas von Winter/Ulrich Willems. Politische Repräsentation schwacher Interessen(Opladen: Leske+Budrich, 2000) S. 9.

[28]Mewes,Einführung in das politische System der USA, S. 121.

[29]Sebaldt,Transformation der Verbändedemokratie, S. 160, 161.

[30]Martin Sebaldt, „Pluralismus zwischen Tradition und Moderne“, in:Zeitschrift für Parlamentsfragen(33, 2002), S. 522; Sebaldt,Transformation der Verbändedemokratie, S. 244.

[31]Lösche, „Interessenorganisationen“, S. 484, 497.

[32]Sebaldt, „Pluralismus zwischen Tradition und Moderne“, S. 515.

[33]Hartmut Wasser, „Die Interessengruppen“, in: Wolfgang Jäger/Wolfgang Welz (Hrsg.),Regierungssystem der USA(München: Oldenbourg, 1998), S. 300.

[34]Sebaldt,Transformation der Verbändedemokratie,S. 95.

[35]Sebaldt, „Pluralismus zwischen Tradition und Moderne“, S. 516.

[36]Ippolito/Walker,Political Parties, Interest Groups, and Public Policy, S. 18.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Interessengruppen im politischen System der USA
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
34
Katalognummer
V29271
ISBN (eBook)
9783638308304
Dateigröße
799 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interessengruppen, System
Arbeit zitieren
Ruth Heidingsfelder (Autor:in), 2004, Interessengruppen im politischen System der USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29271

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