Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Exklusion und Inklusion in der Gesellschaft
2.1 Die segmentäre und die stratifizierte Gesellschaft
2.2 Die funktional differenzierte Gesellschaft
2.3 Von der Exklusion zur Inklusion im Bildungssystem
3. Schulische Inklusion
3.1 Aktuelle Zahlen
3.2 Heterogenität in der Schule
3.3 Die „gute“ Schule
4. Ausblick: Voraussetzungen für inklusiven Unterricht
4.1 Die Professionalisierung des Lehrers
4.2 Pädagogische Diagnostik
4.3 Strukturelle Voraussetzungen
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nach der Salamanca-Erklärung zur Pädagogikfür besondere Bedürfnisse im Jahre 1994 fordern die Staaten der vereinten Nationen erstmals, die Erziehung behinderter Personen als festen Bestandteil des Schulsystems umzusetzen. Als Argumente dafür werden unter anderem das Menschenrecht für Alle auf Bildung, „unabhängig von individuellen Unterschieden“ und die „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“ genannt (Salamanca Erklärung, 1994).
Im Dezember 2006 wurde darauf aufbauend auf der UN-Behindertenrechts-konvention ein „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verabschiedet, indem es nun in Art. 1 lautet: „Dass (...) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und „gleichberechtigt mit anderen in einer Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“.
Daraufhin änderte der Stadtstaat Hamburg sein Schulgesetz und formulierte den § 12 neu, dessen Absatz 1 von nun an besagt: „Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen (...)“ (Hamburgisches Schulgesetz, 2014)
Damit war die große Debatte um die Inklusion an allgemeinbildenden Schulen erwacht. Doch was bedeutet eigentlich Inklusion?
Welche Rolle spielt Exklusion dabei?
Können die Schulen dem Anspruch der Inklusion gerecht werden?
Findet Inklusion wirklich statt?
In der vorliegenden Arbeit sollen unter dem Titel „Von der Exklusion zur Inklusion: Schule unter Modernisierungsdruck“ genau diese und darüber hinausgehende Fragen geklärt und erörtert werden. Ziel der Arbeit ist es, einen Überblick über die Entwicklung der Begriffe Exklusion und Inklusion zu geben, deren historische Hintergründe zu beleuchten und aufdas heutige Erziehungssystem zu beziehen.
Es soll deutlich werden, welche Herausforderungen durch die Einführung der Inklusion in den Allgemeinbildenden Schulen entstehen, welche Chancen dies mit sich bringt und welche Voraussetzungen für ein Gelingen wichtig sind.
In dieser Arbeit werden die wissenschaftlichen Disziplinen der Soziologie und der Erziehungswissenschaft miteinander verknüpft, wobei beide Disziplinen oftmals nicht zu trennen sind.
Die Arbeit setzt sich aus drei Teilen zusammen, wobei sich der erste soziologisch mit den Begriffen Exklusion und Inklusion beschäftigt und historisch auf deren Entwicklung in verschiedenen Gesellschaften eingeht und abschließend einen Bezug zum heutigen Erziehungssystem liefert.
Im zweiten Teil wird der Gedanke der Inklusion auf Schulebene, aus hauptsächlich erziehungswissenschaftlicher Sicht weitergeführt. Eswird hier eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der schulischen Inklusion geben, wobei besonders auf den ständigen Modernisierungsdruck, dem die Schule unterliegt, eingegangen wird. Nach einer Einleitung, basierend auf aktuellen Zahlen, zum Gelingen von Inklusion, wird auf das Thema Heterogenität eingegangen und erörtert, was eine „gute Schule“ sein könnte und welche Rolle Inklusion dabei spielt.
Im dritten Teil der Arbeit wird auf fachdidaktischer und struktureller Ebene auf das Thema eingegangen und ein Zukunftsblick gewagt. Es wird hier um die strukturellen Voraussetzungen, spezielle Kompetenzen, welche für eine gelingende Inklusion nötig wären bzw. sind und um die pädagogische Diagnostik gehen.
Im Fazit gibt es eine rückblickende Zusammenfassung dieser Arbeit, einen Ausblick auf Voraussetzungen für gelingende Inklusion in der Zukunft und eine Reflexion meinerseits zu den gewonnenen Erkenntnissen durch die Erstellung dieser Arbeit.
Die Literatur, die als wissenschaftliche Grundlage dieser Arbeit dient, setzt sich unter anderem aus Werken von Niklas Luhmann und Vera Moser, sowie aus informativen
Texten wie Mitteilungen des Hamburger Senats und Zeitschriftenartikel aus dem „Journal für Schulentwicklung“ und einer Studie der Bertelsmann Stiftung zusammen. Das Vorgehen bei der Erarbeitung dieser Bachelorarbeit begann mit einer ausführlichen Literaturrecherche, die sehr bald zu den Autoren Niklas Luhmann und Vera Moser führte. Daraufhin folgte die Erstellung einer Gliederung, die nun in fertiggestellter Form das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit darstellt.
Unter Berücksichtigung der einzelnen Gliederungspunkte des Inhaltsverzeichnisses wurde anschließend die zusammengestellte Literatur den jeweiligen Bereichen zugeteilt und mit der Niederschrift entlang der Gliederung begonnen.
In dervorliegenden Arbeit wird aus Gründen der Einheitlichkeit, zum besseren Lesen und der Gleichberechtigung, die weibliche Form verwendet, wenn es um personalisierte Bezeichnungen geht.
Die Definitionen der Begriffe Exklusion und Inklusion werden in der Arbeit vorausgesetzt und nicht weiter erklärt.
2. Exklusion und Inklusion in der Gesellschaft
Der Deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann stellt in seinem Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, welches 1997 in der ersten Auflage erschien, die Entwicklung und Bedeutung von Inklusion und Exklusion in verschiedenen Gesellschaften dar. Er knüpft dabei an die Theorie Talcott Parsons an und macht wichtige Unterschiede zu dieser deutlich.
Luhmann ersetzt den Begriff Sozialintegration mit den zusammenhängenden Begriffen der Inklusion und Exklusion und legt seiner Theorie das System Gesellschaft zugrunde. Er stellt fest, dass bei Parsons Theorie der Inklusion der „Negativfall“, nämlich die Exklusion fehlt und nimmt diesen in seine eigene Theorie auf. Er geht davon aus, dass Inklusion nur dann existieren kann, wenn die Exklusion vorhanden ist, da „Erst die Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen“ Inklusionsbedingungen heraus bilden (Luhmann, 1997: 621).
Im Folgenden wird näher auf die Exklusion und Inklusion in den segmentären, stratifizierten und funktional differenzierten Gesellschaften eingegangen und diese nach Luhmann beleuchtet.
2.1 Die segmentäre und die stratifizierte Gesellschaft
Die segmentäre Gesellschaft (Luhmann, 1997: 609 ff.; 618 ff.) differenziert sich nach Alter und Geschlecht. Demnach gab es Inklusion und Exklusion nur in Zusammenhang mit Familie, „dem Clan oder dem Stamm“. Inkludiert waren die Personen, die an so einem „Sozialen System“ teilnahmen und exkludiert waren die Personen, welche „den Normen“ nicht entsprachen. Eine Exklusion bedeutete dann, dass kaum ein Überleben in der Gesellschaft möglich war (Noack, 2014: 31).
Luhmann schließt die Exklusion in segmentären Gesellschaften nahezu aus, da die „Möglichkeiten der Mobilität“ in der Gesellschaft in den meisten Fällen automatisch dafür sorgte, dass jede Person einem „Segment“ der Gesellschaft zugeordnet war (Luhmann, 1997: 622). Falls aber doch jemand „den Normen“ nicht entsprach, so „wird“ dies „durch vollständigen Ausschluss sanktioniert“ (Ralfs, 2014: 71) und das Mitglied ist somit auf höchstmöglichem Niveau exkludiert. Hier gibt es nur die vollständige Inklusion oder die komplette Exklusion, ohne weitere Differenzierung (ebd.)
Die gleiche Differenzierung gilt für die „Stratifizierte Gesellschaft“, in denen eine „Soziale Schichtung“ vorherrscht, die eine Inklusion automatisch einschließt und „differenziert“. Exkludiertwerden hier beispielsweise Bettler (Luhmann 1997: 622).
Es wird beschrieben, dass „Der Exklusionsbereich“ besonders durch das Ausfallen „von Reziprozitätserwartungen“ markiert wird. Die Inklusion von Exkludierten kann dadurch nur noch künstlich, zum Beispiel durch „religiöse Pflichten“ herbeigeführt werden. Dadurch, so schreibt Luhmann, wurden die Ausgeschlossenen zu „Täuschungen motiviert“, was zur Folge hatte, dass die inkludierten Personen der Gesellschaft die Exkludierten als Gefahr ansahen.
In der Neuzeit wurde darauf mit der „Organisation der Arbeit“ reagiert, doch auch dies sorgte für Unterschiede im Bereich der Inklusion, denn wer mit keiner Arbeit erfasst wurde, blieb dennoch exkludiert.
Zu Zeiten der „Hochkulturen mit Stadtbildung und Adelsherrschaft (Luhmann 1997: 623) wurden Inklusion und Exklusion „innergesellschaftlich rekonstruiert“. So galt „Sesshaftigkeit“ als Voraussetzung für Inklusion, doch auch dadurch wurden die NichtSesshaften exkludiert, was sich mit der Zeit aufhob (Luhmann, 1997: 624).
Allerdings stellte die Religion einen wichtigen Faktor zu Exklusion oder Inklusion dar. Katholiken waren in der katholisch geprägten Gesellschaft inkludiert, doch wer nicht gläubig war oder eine andere Religion hatte, wurde exkludiert und hatte kaum eine Chance zu überleben (ebd.)
Kennzeichnend für die stratifizierte Gesellschaft war eine Stadtkultur und eine Schichtung in der Gesellschaft. Jede Person, die einer Schicht angehörte, war in dieser Schicht inkludiert, aus jeder anderen jedoch exkludiert. So waren alle Adligen im Adel inkludiert, wobei sich die Schicht des Adels durch diese Abgrenzung automatisch exkludierte (ebd.)
2.2 Die funktional differenzierte Gesellschaft
Niklas Luhmann spricht bei der funktional differenzierten Gesellschaftvon verschiedenen, autonomen Teilsystemen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Hier nennt er unter anderem das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das Erziehungssystem, die Familie und die Religion (ebd.). Die Teilsysteme grenzen sich durch „Codes“, wie „wahr/unwahr“ in der Wissenschaft, voneinander ab und ergänzen sich trotzdem gegenseitig. So spielt beispielsweise das System Wissenschaft eine wichtige Rolle im Teilsystem der Medizin (Noack, 2014: 33).
Im Gegensatz zu der stratifizierten Gesellschaft, sind die Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft „nicht hierarchisch geschichtet“. Die Teilsysteme nehmen zwar unterschiedliche Positionen in der Gesellschaft ein, es gibt aber „Kein Zentrum“ oder ein Besseres oder Schlechteres.
Die Teilsysteme, die Luhmann beschreibt, können sich aber auf einander beziehen und kommen miteinander in Berührung, wenn beispielsweise zwei Menschen heiraten. Dort treffen sich dann das System Familie und das System Religion, wenn es sich um eine kirchliche Trauung handelt, oder das System Familie und das System Staat, wenn es sich um eine standesamtliche Trauung handelt (ebd.).
Jedes Individuum einer Gesellschaft kann in die jeweiligen Teilsysteme inkludiert werden und hat somit ein Recht auf Kunst, Bildung, Familie etc., doch die Teilnahme kann freiwillig erfolgen und damit einhergehend auch die Nichtteilnahme, wodurch Inklusion und Exklusion in einer neuen Dimension stattfinden. An dieser Stelle wird der Begriff „Teilexklusion“ eingeführt. Das bedeutet, dass Personen an verschiedenen Systemen teilnehmen können, bestimmte Systeme aber auch wieder verlassen können. Dies kann passieren, indem der Arbeitsplatz verloren geht, die Teilnahme an anderen Systemen jedoch erhalten bleibt. Oft kann aber eine Teilexklusion bedeuten, dass auch eine Exklusion aus weiteren Systemen als Folge auftritt, sich also die Person nach dem Arbeitsplatzverlust auch den Sportverein oder den wöchentlichen Besuch im Museum nicht mehr leisten kann und dadurch ebenfalls aus den Teilsystemen der Kultur und des Sportes ausgeschlossen wird. Im Umkehrschluss bedeutet eine Teilinklusion nicht automatisch eine Inklusion in weitere Systeme (ebd.). Ulla Ralfs beschreibt diesen Vorgang als Bestrafung durch „Ausschluss aus dem Teilsystem“ (Ralfs, 2014: 71).
Einen weiteren Aspekt, den Luhmann einbringt ist die Unterscheidung der Form der Organisation und den jeweiligen Teilsystemen (Noack, 2014: 34). So kann das Erziehungssystem nicht ohne Schulen existieren, dies bedeutet, dass meistens Menschen an den Teilsystemen beteiligt sind.
Inklusion und Exklusion spielen also eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Gesellschaft zu beschreiben. Luhmann beschreibt Inklusion als „innere Seite der Gesellschaft“ und „Exklusion als äußere Seite der Gesellschaft“.
Die innere Seite, also die Inklusion wird heutzutage „durch Karriere und Leistungsorientierung“ geprägt und die äußere Seite durch „Armut, Isolation“ usw. Luhmann beschreibt in seinem Werk Die Erziehung derErziehung die Übergänge und deren Merkmale von einer Gesellschaft in die andere sehr genau und macht deutlich, dass je komplexer die Gesellschaft wird, desto differenzierter gestalten sich Exklusion und Inklusion.
2.3 Von der Exklusion zur Inklusion im Bildungssystem
Im Jahre 1925 ist aufgrund des 1. Weltkrieges von „Einheitsschule“ die Rede, von einer „tugendhaften Jugend“ und von einer „(...) Staatsumwälzung (...), die die äußere Gestalt des Schulwesens wesentlich verändert hat und der durch Disziplin getrotzt werden muss.“ (Rullnid, 1925: 2). Diese Worte lassen den Eindruck entstehen, als würde sich die Gesellschaft zur damaligen Zeit mit aller Kraft für ein „geordnetes“ und „striktes“ Schulsystem einsetzen. Mädchen und Jungen wurden im Bildungssystem voneinander getrennt, behinderte Kinder ausgeschlossen (v. Münchow/Rittmer, 1925: 115-118).
Und auch Jahrzehnte später, im Jahre 1960, also lange nach dem 2. Weltkrieg, wurde großen Wert auf Ordnung, Gleichheit und feste Verhaltensformen gelegt (Pochert,
1960: 3-8). In beiden Zeitabschnitten, jeweils nach den genannten Weltkriegen, spielten disziplinierte Verhaltensweisen, sittliche Erziehung und fast schon erzwungene Gleichheit eine entscheidende Rolle im deutschen Bildungssystem. Der Begriffder Inklusion existierte nicht.
Erst 1978 spricht Gottfried Zweynert auf einmal von der „Reform als gesellschaftlicher Prozess zur fortschreitenden Selbstverwirklichung des Einzelnen in der Gesellschaft.“ (Zweynert, 1978: 25). Es werden nun schlagartig die bisher gelebten Normen hinterfragt. Die Gesellschaft beginnt sich für die Individualität des Menschen zu öffnen und es tauchen in der Schulpolitik Begriffe wie Bildungsvielfalt, Föderalismus und Individualismus auf.
Doch woher kommt das? Haben die Deutschen plötzlich ein schlechtes Gewissen, nach Zeiten des Nationalsozialismus', in denen Gesellschaftsgruppen wie die der Juden oder der behinderten Menschen exkludiert wurden? Wieso soll die Schülerschaft an den Schulen auf einmal individuell und vielfältig ausfallen, da doch bislang so viel Wert auf Gleichheit gelegt wurde und Menschen, die dem nicht entsprachen, aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden? Diese Fragen können an dieser Stelle leider nicht beantwortet werden und bleiben also vorerst offen.
Winfried Noack hält die Schule für die „vielleicht wichtigste Institution (...), die über Inklusion und Exklusion entscheidet“ (Noack, 2014:127), dasie durch ihre Art, gute und schlechte Schüler zu selektieren, bereits über Beruf und Zukunft des Kindes mitentscheidet. Noackwirft der Institution Schule vor, dass sowohl behinderte Kinder, als auch Hauptschülerinnen exkludiert werden und spricht sogar davon, dass die „ganze soziale Klasse“ der Arbeiter „aus dem Erziehungssystem und somit auch in Zukunft aus weiteren Teilsystemen exkludiert wird.
Im Folgenden werden nach Markus Scholz, stellvertretend für weitere Vertreter, fünf Stufen von der Exklusion zur Inklusion, in die er die Entwicklung des heutigen Bildungssystems zusammenfasst, dargestellt.
Zu Zeiten der Kriege war eine deutliche Exklusion behinderter Kinder aus dem Bildungswesen festzustellen, wie vorher bereits genannt. Die Kinder hatten keine Möglichkeit an dem öffentlichen Schulsystem teilzunehmen und werden kategorisch ausgeschlossen (Scholz, 2007).
In der zweiten Phase, die der Segregation oderSeparation, wurde „die Schülerschaft nach bestimmten Kriterien in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt“, beispielsweise nach geistigen Voraussetzungen, womit die Erwartungshaltung bestand, dass die Schüler unter Gleichgesinnten die besten Voraussetzungen zum Lernen hätten.
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