Die Motive der „Melusinensage“ im Vergleich bei Thüring von Ringoltingen und Ludwig Tieck


Bachelorarbeit, 2014

41 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Melusinensage bei Thüring von Ringoltingen und Ludwig Tieck
2.1. Der Hintergrund des Melusinenstoffs
2.2. Thüring von Ringoltingen
2.2.1. Der Prosaroman
2.3. Ludwig Tieck
2.3.1 Die romantische Erzählung
2.4. Genealogie als Hintergrund der Melusinensage
2.4.1. Die Genealogie bei Thüring von Ringoltingen
2.4.2. Die Genealogie bei Ludwig Tieck
2.5. Das Motiv der Mahrtenehe
2.5.1. Die Mahrtenehe bei Thüring von Ringoltingen
2.5.2. Die Mahrtenehe bei Ludwig Tieck
2.6. Der Tabubruch in der Mahrtenehe
2.6.1. Der Tabubruch bei Thüring von Ringoltingen
2.6.2. Der Tabubruch bei Ludwig Tieck
2.7. Die Person der Melusine
2.7.1. Die Melusine bei Thüring von Ringoltingen
2.7.2. Die Melusine bei Ludwig Tieck
2.8. Analyse weiterer Unterscheidungsmerkmale

3. Resümee

4. Quellenverzeichnis

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der folgenden Arbeit soll ein Vergleich erarbeitet werden, bei dem zwei Versionen der Melusinensage gegenüber gestellt werden. Der verarbeitete Stoff dieser Sage handelt von der Erzählung einer Fee, welche sich an jedem Sonnabend in eine Schlangenfrau verwan­delt, indem ihr vom Nabel abwärts ein Fischschwanz wächst. Sie kann nur dann von ihrem Schicksal erlöst werden, wenn sie einen Mann findet, der sich an ihr Verbot hält und ihr niemals an einem Samstag nachsteigt. Sollte er sich daran jedoch nicht halten, wären beide für immer verloren.[1]

Dieser Stoff wird zum einen in dem Prosaroman von Thüring von Ringoltingen verarbeitet, welcher sein Werk im Jahr 1456 vollendete. Es handelt sich hierbei um eine Auftragsarbeit für den Marktgrafen Rudolf von Hohenberg, der mit diesem Werk beabsichtigte, seine Ab­stammung auf die des Hauses Lusignan zu rechtfertigen. Aus diesem Grund bediente sich Thüring bei seiner Version an der Vorlage von Jean d’Arras, welche in den Jahren 1387-93 verfasst wurde[2].

Dem gegenüber steht das Werk von Ludwig Tieck, der seine Version der Melusine etwa um 1800 verfasst hat und welches das erste Mal unter dem Titel „Sehr wunderbare Historie von der Melusine “ in seinen gesammelten Werken gedruckt wurde. Es handelt sich bei der Erzählung von Tieck um eine Mischung aus Lyrik und Prosa, die zeitlich in die Epoche der Romantik einzuordnen ist[3].

Im Fokus dieser Arbeit stehen die Motive, welche die Melusinensage definieren. Sie sollen in ihrer Darstellung, Ausführung und Interpretation miteinander verglichen werden, um abschließend eine Aussage darüber treffen zu können, ob es sich bei der Version von Lud­wig Tieck um die Kopie von einer Vorlage handelt oder ob Tieck entscheidende Verände­rungen an dem Werk von Thüring von Ringoltingen vorgenommen hat, so dass es sich letztendlich um zwei verschiedene Varianten des selben Stoffes handelt.

Um eine solche Aussage treffen zu können, werden zunächst beide Werke einzeln vorge­stellt. Anschließend erfolgt die Betrachtung der zentralen Motive, angefangen mit der Ge­nealogie. Sie bildet bei Thüring das Grundgerüst der Sage. Daher soll gezeigt werden, was das Motiv der Genealogie beinhaltet und wie es in den beiden Versionen umgesetzt wird.

Danach folgt das Motiv der Mahrtenehe. Sie beschreibt die Verbindung eines Menschen und einem übernatürlichen Wesens, welche der Melusinensage zu Grunde geht.

Aus ihr geht auch das dritte Motiv hervor, was in dieser Arbeit untersucht werden soll.[4] Hierbei handelt es sich um den Tabubruch, welcher das Ende der Mahrtenehe bedeutet. Es wird im Folgenden zunächst diese Form der Ehe definiert und anschließend die Um­setzung bei Thüring und Tieck betrachtet. Dieser Vorgang wiederholt sich ebenfalls bei dem Tabubruch, dessen Eigenschaft ebenfalls analysiert und dann auf beide Werke über­tragen wird. Als viertes und letztes Motiv wird die Person der Melusine untersucht. Wie erfolgt ihre Darstellung in beiden Werken, lassen sich hier Unterschiede finden oder in­terpretieren beide Autoren sie als die identische Person. Letztlich werden auch noch sol­che Unterschiede herausgearbeitet, die über die vier zentralen Motive in den Werken hin­ausgehend sind.

Es soll mit dieser Arbeit zugleich gezeigt werden, wie ein so alter Stoff immer wieder auf­gegriffen und in der Neuzeit umgesetzt und interpretiert wird.

Zunächst erfolgt aber die Vorstellung des hier behandelten Stoffes und der bearbeiteten Erzählungen.

2. Die Melusinensage bei Thüring von Ringoltingen und Ludwig Tieck

2.1. Der Hintergrund des Melusinenstoffs

Die früheste erhaltene Fassung der Melusinensage ist die Historie de Lusignan von Jean d’Arras, welche in den Jahren 1387 bis 1394 als Prosaversion verfasst wurde.

Diese Arbeit gilt als die erste Erzählung über den Melusinenstoff und wurde als Genealogie von dem Herzog Jean de Berry in Auftrag gegeben. So konnte bereits die Abstammung seines Großvaters Johann von Luxemburg mit dem Geschlecht der Melusine in Verbindung gebracht werden.[5]

Die Erzählung beruht auf der Verbindung zwischen einer Fee und einem Menschen. Im Fall der Melusine handelt es sich um eine übernatürliche Frau, die den Verrat ihres Vaters an der eigenen Mutter, welche Persine ist und von ihrem Ehemann im Kindbett aufgesucht wurde, rächte und ihn dafür bestraft. Auf Grund dieser Bestrafung an ihrem Vater, ver­fluchte sie ihre eigene Mutter jeden Samstag einen Schlangenschwanz zu tragen. So voll­zieht sich ihre Verwandlung wöchentlich und von ihrem Nabel abwärts kommt ihr schlan­genähnlicher Körper zum Vorschein. Erlösung kann sie nur finden, wenn sie sich an einen Mann bindet, der ihr lebenslang Vertrauen schenkt und ihr Geheimnis niemals hinterfragt oder versucht diesem auf den Grund zu gehen. Sollte er gegen diesen Schwur verstoßen, würde er bis in die Ewigkeit verdammt werden.[6]

Dieser Stoff, als eine konzentrierte Überlieferung, die in künstlerischer Verarbeitung Ver­wendung findet, wird von einigen Motiven geprägt, die in dieser Arbeit thematisiert wer­den sollen[7]. Als Motiv wird ein erzählender Baustein bezeichnet, welcher zwar noch nicht das gesamte Werk umfasst, aber doch bereits ein inhaltliches und situationsmäßiges Element darstellt[8].

Zunächst steht das Motiv der Genealogie im Vordergrund. Wie bereits zu Beginn festge­stellt, handelt es sich um eine Auftragsarbeit, welche den Sinn hat, dass Geschlecht der Familie Lusignan zu etablieren. Dieses Vorhaben wird mit Hilfe der Melusinensage umge-setzt[9].

Als weitere Motive stehen die Mahrtenehe und der daraus resultierende Tabubruch im Fo­kus dieser Arbeit. Vor allem bilden diese Motive den Kern des Melusinenstoffes. Die Mahrtenehe, welche die Verbindung zwischen einem Menschen und einem übernatürli­chem Wesen beschreibt, stellt das Grundgerüst dieser Sage dar. Um sie herum werden die einzelnen Motive und Erzählungen innerhalb der Geschichte aufgebaut. Demzufolge resul­tiert aus ihr auch der Tabubruch. Er ist ein wichtiges Motiv innerhalb der Mahrtenehe, denn durch ihn nimmt die Geschichte ihre dramatische Wende und er ist zudem notwendig für die Darstellung einer Mahrtenehe.[10]

Weiter ist das Motiv der Frau zu nennen. In diesem Fall handelt es sich um die Gestalt der Melusine, welche zwar ein übernatürliches Wesen ist, aber eben auch gleichermaßen eine Frau. In ihrer Darstellung gibt es viele verschiedene Varianten, je nachdem welche Version der Sage man sich anschaut.[11]

Diese vier Motive sind definierend für den Stoff der Melusinensage und sorgen ebenfalls dafür, dass die Faszination an diesem Werk über die Jahre hinweg nie nachgelassen hat.

Die ungebrochene Popularität der Melusinensage lässt sich auf ihren mythischen Charakter zurückführen, denn bereits zu allen Zeiten waren es die Menschen, welche durch ihre Vor-

Stellung Figuren erschaffen haben und deren Geschichten verbreiteten. Mit Hilfe der Vor­stellung gelang es ihnen, ihre Wünsche, Hoffnungen, Konflikte oder Ängste auf eine fiktive Persönlichkeit zu projizieren, um sie so verarbeiten zu können. Mit dieser Transformation erschufen sie eine solche Faszination und Wirkung auf die übrige Bevölkerung, dass die Anziehungskraft dieser Mythen bis Heute bestehen blieb. Immer wieder wurden einzelne Figuren mit magischen Eigenschaften ausgestattet und ihre Taten waren unvorstellbar. Die­se Mischung von Magie und Unvorstellbarem, vereint in einer Person, begründet auch den Mythos der Melusine.[12]

Die anhaltende Faszination wird vor allem deutlich, wenn man sich die fortdauernde Ver­breitung dieses Stoffes anschaut. Durch alle Epochen hinweg wurde er immer wieder auf­gegriffen und überarbeitet. In dieser Arbeit stehen zwei dieser überarbeiteten Versionen im Mittelpunkt. Zum einen die des Thüring von Ringoltingen aus dem späten Mittelalter und zum anderen die von Ludwig Tieck, welche sich in die Romantik einordnen lässt. Um ein Verständnis für die einzelnen Werke zu schaffen, sollen diese nun nacheinander vorgestellt werden. Den Anfang macht hierbei das Werk von Thüring von Ringoltingen.

2.2. Thüring von Ringoltingen

2.2.1. Der Prosaroman

Die Historie der Melusine wurde im Jahr 1456 von dem Berner Ratsherren und Schultheiß Thüring von Ringoltingen fertig gestellt. Dieser wurde um 1415 in Bern geboren und ver­starb im Jahr 1483 ebenfalls in Bern. Thüring stammte aus der Familie Zigerli, welche zu Wohlstand gekommen war und daraufhin das ausgestorbene Geschlecht derer von Ringoltingen angenommen hatte. Er starb als letzter männlicher Vertreter seiner Familie und wurde im Berner Münster beigesetzt[13].

Er fertigte sein Werk über die Melusine zu Ehren des Markgrafen Rudolf von Hohenberg an. Als Vorlage diente ihm die Version des französischen Kirchenmanns Couldrette, wel­cher sein Werk um 1400 geschaffen hatte. Dieses wiederum geht auf das zuvor erwähnte Werk von Jean d’Arras zurück.

Die Auftragsarbeit von Thüring gilt als der Eintritt des Melusinenstoffes in den deutsch­sprachigen Raum. Bereits 1467 lassen sich die ersten handschriftlichen Überlieferungenfinden; diese Entdeckung lässt auf eine enorme Popularität seines Werkes bei der Bevölke­rung schließen.[14]

Aufgrund der Abstammung von Autor und Auftraggeber lässt sich vermuten, dass es sich bei den Lesern nicht um die gesamte Bevölkerung handelte, sondern überwiegend um den Adel und die städtische Oberschicht.

Bei der Arbeit von Thüring handelt es sich um einen Prosaroman, welcher durch seine Länge im 15. und 16. Jahrhundert zu den Volksbüchern zählt. Durch die Bezeichnung der Historia soll der historiographisch orientierte Wahrheitsanspruch dieses Werkes geprägt werden.[15]

Vor allem aber dient das Werk der Melusine als genealogische Erzählung. Ursprünglich wurde es von dem französischen Adelshaus Lusignan in Auftrag gegeben, um ihre eigene Geschichte weiter zu erzählen. Dieses Motiv wurde von Thüring aufgegriffen und die sich über mehrere Generationen erstreckende Familiengeschichte der Melusine auf die seines Auftraggebers, des Markgrafen von Hohenberg, übernommen. So legitimierte dieser seine Herrschaft auf der Familiengesichte des angesehenen französischen Hauses Lusignan.[16] Der Text ist in 67 Kapitel gegliedert, welche mit Überschriften versehen sind, in denen der nachfolgende Text zusammengefasst wird[17].

Thüring erzählt in seiner Fassung von Reymund, Sohn eines verarmten Grafen, der seinen Onkel, den Grafen von Poitiers, versehentlich tötet. In seiner Not trifft er an einem Wald­brunnen auf die schöne Melusine, welche ihm einen Ausweg aus seiner Lage aufzeigt. Sie verspricht ihm Reichtum und Glück, wenn er sie heiratet. Zeitgleich stellt sie jedoch eine Bedingung, bei der sich Reymund jeden Samstag von ihr fernhalten muss und sie auch nicht aufsuchen darf oder durch andere in Erfahrung bringen darf, worin ihr Geheimnis besteht. Nach der Heirat gelingt es Melusine in kürzester Zeit immer mehr Burgen und Klöster zu errichten und so ihr Land auszuweiten. Außerdem schenkt Melusine Reymund zehn Söhne. Jedoch wendet sich das Blatt der perfekt scheinenden Familie, als Reymund gegen sein Versprechen verstößt und getrieben von der Neugier Melusine an einem Sams­tag aufsucht. Zunächst kann sie ihm seinen Fehltritt noch verzeihen, als er aber ein zweites Mal dagegen verstößt und seine Entdeckung öffentlich macht, verflucht sie ihn und das

Unheil bricht über ihn herein und auch Melusine bleibt von ihrem eigenen Fluch nicht ver­schont.[18]

Neben dem Werk von Thüring von Ringoltingen steht die Version von Ludwig Tieck im Fokus der Betrachtung. Aus diesem Grund wird nun seine Arbeit vorgestellt werden, um einen Überblick über den Autor und sein Werk zu bekommen.

2.3. Ludwig Tieck

2.3.1 Die romantische Erzählung

Johann Ludwig Tieck wurde am 31. Mai 1773 in Berlin geboren und verstarb am 28. April 1853 ebenfalls in Berlin. Er war ein deutscher Dichter, Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer, der in der Epoche der Romantik tätig war.[19]

Bei seiner Version der Melusine handelt es sich um eine romantische Erzählung, welche um 1800 von ihm verfasst und mit dem Titel Sehr wunderbare Historie von der Melusina erschienen ist. Sie erschien zum ersten Mal im Vorbericht des dreizehnten Bandes seiner Schriften, welche als Gesammelte Werke gedruckt wurden.[20]

Als Vorlage diente ihm das eben vorgestellte Werk von Thüring von Ringoltingen. Es han­delt sich bei seiner formalen Gestaltung um eine Mischung von Prosa und Lyrik; seine mo­tivische Umsetzung weicht jedoch nicht von der Version Thürings ab.

Lediglich kleinere Kürzungen und Änderungen in der Beschreibung einzelner Vorgänge, beispielsweise in der Hochzeitsnacht von Reymund und Melusine, lassen sich finden.[21]

Eine Besonderheit bei Tiecks Werk ist jedoch, dass es sich um eine dramatische Ausfüh­rung handelt, welche zur Zeit seines Schaffens eher unüblich war. Da er zu den Romanti­kern zu zählen ist und diese sich eher nicht mit dramatischen Werken befassten. Es handelt sich um eine romantische Erzählung, welche zum größten Teil in Prosa verfasst wurde und da sie sehr nah am Werk von Thüring ist, den typischen Stoff der Melusine aufgreift, wel- cher eben die Dramatik beinhaltet.[22]

Tieck erzählt in seinem Werk gleichfalls über die übernatürliche Fee, welche sich mit Reymund vermählt. Auch die anfängliche Erwähnung eines einzuhaltenden Tabus lässt sich bei ihm finden. Im Verlauf seiner Erzählung lassen sich auch die typischen Motive, welche den Melusinenstoff definieren, finden. Zu Beginn wird die Genealogie thematisiert, wobei hier eine Kürzung der Darstellung durch Tieck vorgenommen wird. Weiter folgen die Mahrtenehe und der dazugehörige Tabubruch, aufgrund dessen die Erzählung ein Ende findet. Auch übernimmt er die Figur der Melusine bei sich und macht deutlich, dass es sich in seiner Version ebenfalls um ein übernatürliches Wesen handelt, welches eine Verbin­dung aus Frau und „Schlangenart“ ist. Tieck erwähnt sie als ein „Meerwunder “ und hält

somit an der Typisierung eines Wasserweibes beziehungsweise einer Schlangenfrau fest[23]. Nachdem nun die Melusinensage und die beiden hier untersuchten Werke vorgestellt wur­den, erfolgt nun die genaue Untersuchung der einzelnen Motive, welche ausschlaggebend für eine Charakterisierung des Melusinenstoffes sind. Begonnen wird mit dem Motiv der Genealogie, da der Leser bereits zu Beginn in beiden Werken damit konfrontiert wird.

2.4. Genealogie als Hintergrund der Melusinensage

Die Genealogie bildet das zuerst untersuchte Motiv in dieser Arbeit. Es soll gezeigt werden, inwiefern der Melusinenstoff dieses Motiv aufgreift und verarbeitet. Zunächst soll geklärt werden, worum es sich bei der Genealogie überhaupt handelt und was man im Mittelalter darunter verstand. Außerdem wird anschließend darauf eingegangen, welche Rolle hierbei die Melusinensage einnimmt. Abschließend folgt dann ein Vergleich der beiden fokussier­ten Werke in dieser Arbeit. Zum einen die Version von Thüring von Ringoltingen und zum anderen die von Ludwig Tieck.

Die Genealogie beschreibt die Ahnenforschung und zählt zu den historischen Hilfswissen­schaften.[24]

In der Gesellschaft des Mittelalters im 15. Jahrhundert wurde immer mehr die Thematik der Herrschaft in den höfischen Romanen in den Vordergrund gestellt. Besonders beliebt waren Erzählungen der „Chanson de geste“, bei denen es immer wieder um die verschiedensten Heldentaten geht. Aus diesem Grund eignete sie sich besonders, um mit einer ihrer Ge­schichten das eigene Geschlecht zu etablieren. Denn im Vordergrund dieser Erzählungen steht immer eine handlungsmächtige und starke Herrschergestalt, die ihr Recht auf Herr-schaft aus ihrer Abstammung heraus legitimiert.[25]

Eben dieses Verhalten lässt sich auch in der Melusine wieder finden. Besonders hervor tritt, dass es bei den ursprünglichen Versionen jeweils um Auftragsarbeiten handelte, welche den Zweck der Legitimation des eigenen Adelsgeschlechtes erfüllen sollten.[26]

Neben diesem Aspekt lassen sich in der Melusine noch zwei weitere Formen finden, bei denen der Erwerb und die Ausübung von Herrschaft präsentiert werden. Dieses Vorgehen trägt vor allem dazu bei, dass die vorgestellte Familie an Ansehen und Einfluss gewinnt. Zunächst lässt sich zwischen Neben- und Haupthandlung unterscheiden. In den Neben­handlungen werden die ruhmreichen Siege der Söhne thematisiert. Durch ihre Aventurefahrten können sie für sich eigene Länder gewinnen oder werden durch die Heirat mit einer höher stehenden Prinzessin an ihr neues Land gebunden. So kann außerdem die Herrschaft des Hauses Lusignan weiter ausgebaut werden. Bei diesem Modell der Herr­schaft handelt es sich um die höfische Ritterepik. Der soziale Aufstieg ist hierbei immer an die Ritterlichkeit gebunden und kann nur über das kämpferische Geschick erlangt werden. Mit diesem Modell wird der mittelalterliche Kriegsadel repräsentiert und ist stets von Män-nern dominiert.[27]

Das Pendant hierzu lässt sich in der Haupthandlung finden. Hier steht die Frau, in unserem Fall Melusine, im Mittelpunkt des Geschehens. Der Mann rückt als Herrscher eher in den Hintergrund und erscheint nicht besonders prädestiniert für diese Aufgabe. Dies wird vor allem an seinem fahrlässigen Handeln zu Beginn der Erzählung deutlich, in der er für den Tod seines Herren verantwortlich ist. Bereits hier nimmt Melusine sein Schicksal in die Hand und zeigt ihm einen Ausweg aus seiner misslichen Lage. Mit der Hochzeit von Reymund und Melusine beginnt ihre Herrschaft. Sie baut aus dem Nichts ein imposantes Anwesen und es folgen in den kommenden Jahren immer mehr Bauwerke, die sie ihr Eigen nennen kann.[28]

Die Melusine übernimmt die Rolle einer Landesherrin und dominierenden Ehefrau. Ihre Macht beruht in herrschaftlichen Angelegenheiten gesehen auf ihrem enormen Reichtum, welcher ihr erlaubt ihren territorialen Besitz immer weiter auszubauen und somit ihren Ein­fluss zu festigen. Es werden somit zwei verschiedene Arten der Herrschaft thematisiert, um das Adelsgeschlecht der Familie Lusignan zu etablieren.[29]

Inwiefern das Motiv der Genealogie zum einen bei Thüring von Ringoltingen und zum an­deren bei Ludwig Tieck umgesetzt wurde, soll nun näher untersucht werden.

2.4.1. Die Genealogie bei Thüring von Ringoltingen

Nachdem geklärt wurde, wie sich das Motiv der Genealogie in der Melusinensage im All­gemeinen definieren lässt, wird nun genauer untersucht, ob sich diese oben erwähnten As­pekte, welche ausschlaggebend für das genealogische Motiv sind, wieder finden lassen.

Um dies zu zeigen, wird zuerst das Werk von Thüring von Ringoltingen betrachtet.

Zur Erinnerung sei erwähnt, dass es sich um vier Punkte handelt, welche das Motiv der Genealogie ausmachen. Zum einen der Vermerk zur Auftragsarbeit, zudem die Nebenhand­lung über die erfolgreichen Söhne und zum anderen die Haupthandlung, welche deutlich macht, dass es sich bei der Melusine um die Herrin des Landes handelt und zugleich die Erwähnung der dazugehörigen Reichtümer, über welche das Land verfügt[30].

Schon zu Beginn der Erzählung wird von Thüring deutlich gemacht, dass es sich hierbei ebenfalls um eine Auftragsarbeit handelt und somit auch diesen Aspekt der Genealogie erfüllt.

„Es ist gewesen vor zeiten ein Graff von Potiers in Franckreich der da war ein Herr zu Portenach uund begerte von einem seinem Caplan daß er ihm auß allen seinen förderen Chronicken wollte zusammen lesen wie oder durch was Leut das Schloß oder die Statt Lusinien in Franckreich gelegen angehebt gebawet und gestiftet wer. Und hieß in mit Rei- men ein Buch machen.“[31]

Auch die siegreichen Söhne lassen sie bei Thüring wieder finden. Es werden zahlreiche Geschichten wiedergegeben, in denen deutlich wird, dass sich um eine äußerst erfolgreiche Familie handelt, welche ihren Herrschaftsanspruch auf weite Teile des Landes ausstreckt, wodurch das Reich ihres Geschlechtes immer weiter ausgedehnt wird.

„ Wie Uriens uund sein Bruder Gyot uber Meer kamen und gen Cypernn das Königreich uund mit den Heydenstritten und der gar viel ernider legten.“[32] „ Wie Gyot gen Armenien kam und zu einem König gekrönet ward und ihm Florie deß Königs Tochter zu gemählet ward mit grossem freuden uund nach Ehren als sichs ziemet.“[33] „ Wie der gefangene König von Elsaß der Hertzogin von Lützelburg uberantwortet ward unnd sie ihn den zweyen Brü­dern von Lusinien williglichen schencket.“[34]

[...]


[1] Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 8. überar­beitete Auflage. Stuttgart, 1992. S.514.

[2] Matthias Vogel: Melusine... das lässt aber tief blicken. Studien zur Gestalt der Wasserfrau in dichterischen und künstlerischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts. Bern, 1989. S.134.

[3] Tieck, Ludwig: Sehr wunderbare Historie von der Melusina. In: Frank. R. Max (Hg.). Undinenzauber. Geschichten und Gedicht von Nixen, Nymphen und anderen Wasserfrauen. Stuttgart, 2009. S.38.

[4] Helena Malzew: Menschenmann und Wasserfrau. Ihre Beziehung in der Literatur der deutschen Romantik. Berlin, 2004. S.165.

[5] Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln, 2006. S.157.

[6] Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. S.514.

[7] Helmut Weidhase: Stoff. In: Günther Schweikle, Irmgard Schweikle (Hgg.). Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. Auflage. Stuttgart, 1990, S.445.

[8] Christine Lubkoll: Motiv, literarisches. In: Ansgar Nünning (Hg.). Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stutt­gart und Weimar, 2004. S.184 f.

[9] Claudia Steinkämper: Melusine - vom Schlangenweib zur „Beauté mit dem Fischschwanz“. Geschichte einer literarischen Aneignung. Göttingen, 2007. S.120.

[10] Helena Malzew: Menschenmann und Wasserfrau. S.165.

[11] Claudia Steinkämper: Melusine. S.103.

[12] Inge Milfull: Mittelalter. In: Michael Neumann (Hg.). Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Regensburg, 2004. S.7.

[13] Gustav Roethe: Ringoltingen, Thüring von. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Band 28. Leipzig, 1889. S.634 f.

[14] Monika Schausten: Suche nach Identität. S.157.

[15] Claudia Steinkämper: Melusine. S.81.

[16] Ebd. S.84 f.

[17] Bea Lundt: Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz in Beziehungs­Diskurs der Geschlechter. Ein Beitrag zur Historischen Erzählforschung. München, 1991. S.145.

[18] Andreas Kraß. Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt am Main, 2010. S.99.

[19] Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart, 1987. S.11.

[20] Ludwig Tieck: Sehr wunderbare Historie von der Melusina. In: Frank. R. Max (Hg.). Undinenzauber. Ge­schichten und Gedicht von Nixen, Nymphen und anderen Wasserfrauen. Stuttgart, 2009. S.38.

[21] Matthias Vogel: Melusine. S.135.

[22] Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik. Berlin, 2003. S.425 f.

[23] Andreas Kraß: Meerjungfrauen. S.124-128.

[24] Sebastian Baumgärtner (Hg.): Genealogie. In: Fremdwörter Lexikon. Rund 20.000 Stichwörter und Begrif­fe leicht verständlich erklärt. Köln, 2003. S.127.

[25] Claudia Steinkämper: Melusine. S.120.

[26] Anna Mühlherr: Melusine und Fortunatus. Verrätselter und verweigerter Sinn. Tübingen, 1993. S.7.

[27] Claudia Steinkämper: Melusine. S.121.

[28] Ebd. S.122.

[29] Ebd. S.123.

[30] Ebd. S.121.

[31] Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Mit 22 Holzschnitten. Hans-Gert Roloff (Hg.). Stuttgart, 2000. S.3 f.

[32] Ebd. S.34.

[33] Ebd. S.41.

[34] Ebd. S.45.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Die Motive der „Melusinensage“ im Vergleich bei Thüring von Ringoltingen und Ludwig Tieck
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik)
Note
2,3
Jahr
2014
Seiten
41
Katalognummer
V293348
ISBN (eBook)
9783656912521
ISBN (Buch)
9783656912538
Dateigröße
760 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anonym veröffentlichen
Schlagworte
motive, melusinensage, vergleich, thüring, ringoltingen, ludwig, tieck
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Die Motive der „Melusinensage“ im Vergleich bei Thüring von Ringoltingen und Ludwig Tieck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293348

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