Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
1. Untersuchungsgegenstand
1.1. Die Relevanz des Themas „Politische Korruption“
1.2. Forschungsstand
1.3. Die Relevanz der Neuen Politischen Ökonomie
1.4. Das Beispiel Leuna/Minol
1.5. Abgrenzung des Themas
1.6. Die Hypothesen
2. Methodisches
2.1. Untersuchungsmethode
2.2. Vorgehensweise und Materialauswahl
2.3. Das Allgemeine und das Historisch-Konkrete der Korruption
3. Gliederung
TEIL A: Zur Methode der Korruptionsanalyse
1. Ansätze zur Erklärung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie
1.1. Marxsche Politische Ökonomie
1.2. Wohlfahrtsökonomik und Eigennutzaxiom
1.3. Neue Politische Ökonomie/Institutionenökonomik
1.4. Interessenidentität von Kapital und Gesellschaft
2. Klärung des Begriffs der Korruption
2.1. Die Verhältnisse der Korruptionsbeteiligten untereinander
2.1.1. Das Grundmodell des korrupten Tausches
2.1.1.1. Das Grundmodell
2.1.1.2. Die Grenzen des Modells
2.1.2. Der Begriff der „Beeinflussung“
2.1.3. Die Zeitnähe als Problem des Korruptionsnachweises
2.1.4. Die Umdeklarierung der korrupten Leistung
2.1.5. Der subjektive Faktor als Antikorruptions-Argument
2.1.6. Das Problem der Geheimhaltung
2.1.7. Die unterlassene Handlung als korrupte Leistung
2.1.7.1. Die unterlassene Handlung des Agenten
2.1.7.2. Die unterlassene Leistung des Klienten
2.1.8. Der erzwungene korrupte Tausch (Erpressung)
2.1.8.1. Der erpresste Klient – erzwungenes Schmiergeld
2.1.8.2. Der erpresste Agent – erzwungene korrupte Leistung
2.1.9. Der korrupte Kauf selbstverständlicher Leistungen
2.1.10. Das Problem der Legalität
2.2. Die korrupte Leistung des Agenten
2.2.1. Kauf oder Verkauf zu falschem Wert
2.2.2. Korrupter Tausch bei mehreren Interessenten
2.2.3. Willkürlicher Kauf oder Verkauf
2.2.4. Die Initiierung des Tauschgeschäfts als korrupte Leistung
2.3. Die korrupte Leistung des Klienten
2.3.1. Direkter materieller Bestechungslohn
2.3.1.1. Geld
2.3.1.2. Bezahlung nur scheinbar erbrachter Leistungen
2.3.1.3. Sachwerte
2.3.1.4. Geldwerte Leistungen
2.3.2. Indirekter materieller Bestechungslohn
2.3.3. Immaterieller Bestechungslohn
2.4. Die pauschale Bestechung des Agenten
2.5. Kickback
TEIL B: Der korrupte Eingriff in den Staat
1. Der korrupte Eingriff in die Politik
1.1. Der Agent: Parteien und Politiker
1.1.1. Der Politiker als „homo oeconomicus“
1.1.2 Die Partei als Egoistenverein
1.1.3 Die Grenzen des Eigennutz-Axioms
1.1.4 Der Eigennutz der Regierung
1.2. Das Verhältnis des Agenten zum Prinzipal
1.2.1. Die Klassifizierung der Verträge des Agenten
1.2.1.1. Die Verfassung
1.2.1.2. Das „ganze Volk“
1.2.1.3. Das Gemeinwohl
1.2.1.4. Der Wähler
1.2.1.5. Der Regierungschef bzw. die Regierung
1.2.1.6. Parteispitze, Fraktionsspitze und Fraktion
1.2.1.7. Die Parteibasis
1.2.1.8. Die vier Loyalitäten
1.2.2. Die Leistung des Prinzipal an den Agenten
1.2.2.1. Diäten
1.2.2.2. Parteienfinanzierung durch den Staat
1.3. Das Verhältnis des Agenten zum Klienten
1.3.1. Die Identifizierung des Klienten
1.3.2. Die Leistung des Klienten
1.3.2.1. Unterstützung von Gruppen: Die Parteispenden
1.3.2.2. Gezielte Unterstützung von Personen
1.3.2.2.1. Materielle Leistungen des Klienten: Sachwerte und Geld
1.3.2.2.2. Karriereförderung
1.3.2.2.3. Die Chance zur Selbstbereicherung
1.3.3. Die Leistung des Agenten: Spezielle korrupte Leistungen der Politik
1.3.3.1. Gewährung direkter finanzieller Vorteile
1.3.3.2. Vergabe öffentlicher Aufträge bzw. Privatisierung
1.3.3.3. Immaterielle bzw. mittelbar finanzielle Leistungen
1.3.3.4. Leistungen für die gesamte Wirtschaft
1.3.4. Der Agent als Klient
1.3.5. Die juristische Autonomie der Agenten
2. Der korrupte Eingriff in die Justiz
2.1. Das Objekt der Bestechung - der Agent
2.2. Das Subjekt der Bestechung – der Klient
2.3. Der Gegenstand der Bestechung – die korrupte Leistung
2.4. Methoden der Bestechung – die korrupte Gegenleistung
3. Die Bewertung des korrupten Eingriffs in den Staat
3.1. Die Folgen des korrupten Eingriffs in den Staat
3.2. Die Bewertung durch die Institutionenökonomik
3.3. Der Ansatz der Marxschen Politischen Ökonomie
4. Erscheinungsformen und Merkmale staatlicher Korruption
5. Zusammenfassung der Teile A und B
TEIL C: Der Verkauf von Leuna/Minol an Elf-Aquitaine
1. Die Ausgangslage
1.1. Variante 1: Ein vorbildliches Geschäft zum Nutzen beider
1.2. Variante 2: Kohl als Agent des Klienten Deutschland
1.3. Variante 3: Elf als Klient - Leuna-Geschäft und Subventionen als Paket
1.4. Variante 4: Die isolierte Betrachtung der Geldströme
1.5. Schlussfolgerung
2. Der Klient Elf
2.1. Das Verhältnis von Elf-Aquitaine zu Staat und Politik
2.1.1. Was wussten Kohl und Mitterand?
2.1.2. Korruption als Unternehmensstrategie: Loik Le Floch-Prigent
2.2. Was wollte/erhielt Elf?
2.2.1. Chronik der Privatisierung von Leuna-Raffinerie und Minolkette
2.2.2. Das Geschäft als solches
2.2.3. Die „Goldgrube“ Minol AG
2.2.4. Die Subventionen
2.3. Die Elf-Agenten und ihre Methoden
2.3.1. Der Untersuchungsbericht der Generalstaatsanwaltschaft Genf
2.3.1.1. Bericht I: Die Strafanzeigen von Elf Aquitaine
2.3.1.2. Bericht II: Ermittlungen zur Geldwäsche
2.3.1.3. Bericht III (Tipps an die deutschen Kollegen)
2.3.1.4. Wertung
2.3.2. Das Elf-Agententeam? (Das „System Elf“)
2.3.2.1 Der „Überzeuger“? Alfred Sirven
2.3.2.2 Der Organisator? Hubert Le Blanc-Bellevaux
2.3.2.3 Der „Strohmann“? André Guelfi
2.3.2.4 Die „Nahtstelle“: Pierre Lethier
2.3.3. Das deutsche Team
2.3.3.1. Die „personifizierte Marktwirtschaft“: Dieter Holzer
2.3.3.1.1. Die Person Holzer
2.3.3.1.2. Holzers Auftraggeber in Sachen Leuna/Minol
2.3.3.1.3. Holzers Geschäfte Die Firma Delta International
2.3.3.1.4. Holzers Honorar
2.3.3.1.5. Holzers Leistung
2.3.3.1.6. Holzers „Überredungskünste“
2.3.3.1.7. Holzers Glaubwürdigkeit und die Glaubwürdigkeit der Politik
2.3.3.2. „Doppelagent“ und „Geldbote“: Walther Leisler Kiep
2.3.3.3. „Phantom“ und „Universalgenie“? Ludwig Holger Pfahls
2.3.3.4. „Beraterin“ oder „Geldbotin“? Agnes Hürland-Büning
2.3.3.5. „Ungewöhnliche Maßnahme“ in Person: Hans Friderichs
2.3.3.6. Lobbyist. Ideologe und Ausbilder: Karlheinz Schreiber
2.3.3.7. Die deutsche Antwort auf Elf Aquitaine: Thyssen
2.3.4. Fazit aus 2.3
2.3.4.1. Sinn und Motiv der Zusammenarbeit Elf – Thyssen
2.3.4.1.1. Wozu brauchte Elf den Thyssen-Konzern?
2.3.4.1.2. Warum hat Thyssen überhaupt mitgemacht?
2.3.4.1.3. Wozu brauchte man das „Überredungs-Management?“
2.3.4.2. Der Schmiergeldfluss
3. Der Agent Kohl
3.1. Das „System Kohl“
3.2. Helmut Kohls Kassen
3.3. Was erhielt Kohl von der französischen Seite?
3.4. Helmut Kohls Gegenleistung
3.5. Helmut Kohls Helfer
3.5.1. Die Treuhandanstalt
3.5.1.1. Geschichte der Treuhandanstalt
3.5.1.2. Die Überzeugungstäterin? Birgit Breuel
3.5.1.3. Der „Drahtzieher“? Klaus Schucht
3.5.1.4. Fazit aus 3.5.1
3.5.2. „Helfershelfer“ und „Mann fürs Grobe“? Friedrich Bohl
3.5.3. „Helfershelfer“ aus Überzeugung? Johannes Ludewig
4. Der „Sand im Getriebe“: Wozu musste wer wie „überzeugt“ werden?
4.1. Der Gralshüter des Wettbewerbs? Das Bundes-Kartellamt
4.2. Der Sachwalter des Mittelstandes? Günther Krause
4.3. Der Sachwalter Sachsen-Anhalts? Werner Münch
4.4. Der Zögernde Sachwalter Thüringens? Bernhard Vogel
4.5. Die „Verdächtigte Randfigur“? Gerhard Schröder
5. Zusammenfassung des Teils C
TEIL D: DER KAMPF GEGEN DIE KORRUPTION
1. Die Untersuchung des Leuna/Minol-Geschäfts
1.1. Die Untersuchung durch die Justiz
1.1.1 Die Gesetze
1.1.1.1. Das Individualstrafrecht
1.1.1.1.1. Verfassungsrecht
1.1.1.1.2. Strafrecht
1.1.1.1.3. Die Wiedereinführung des Delikts „Abgeordnetenbestechung“ 152
1.1.1.2. Das Fehlen des Unternehmensstrafrechts
1.1.2. Die Anwendung der Gesetze
1.1.2.1. Die Aktenvernichtung (Der Sonderermittler Burghard Hirsch)
1.1.2.2. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften
1.1.2.2.1. Dienst nach Vorschrift
1.1.2.2.2. Keine Ermittlungen wegen Kohls anonymer Spender
1.1.2.3. Der Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft
1.1.2.4. Sanktionen gegen die Aufklärer
1.1.3. Der korrupte Eingriff in die Justiz
1.1.3.1. Die Gesetze zur Richterbestechung
1.1.3.2. Justizbehinderungen
1.1.3.2.1. Korrupte Eingriffe in die Justiz
1.1.3.2.2. Die „simple“ Behinderung der Ermittlungen
1.1.3.3. Fazit aus 1.1.3
1.2. Die Aufklärung durch die Erste Gewalt: Die Untersuchungsausschüsse
1.2.1. Die gesetzlichen Grundlagen
1.2.2. Der Untersuchungsausschuss „Treuhand“
1.2.2.1. Der Untersuchungsauftrag
1.2.2.2. Die Aktenverweigerung
1.2.2.3. Der Abschlussbericht der Ausschussmehrheit
1.2.2.4. Das Minderheitenvotum der SPD
1.2.2.5. Abweichender Bericht der PDS/Linke Liste
1.2.2.6. Fazit aus 1.2.2
1.2.3. Der Untersuchungsausschuss „DDR-Vermögen“
1.2.3.1. Der Untersuchungsauftrag
1.2.3.2. Die Aktenverweigerung
1.2.3.3. Der Abschlussbericht der Ausschussmehrheit
1.2.3.4. Bewertung durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen
1.2.3.5. Abweichender Bericht der PDS
1.2.3.6. Fazit aus 1.2.3
1.2.4. Der Untersuchungsausschuss „Parteispenden“
1.2.4.1. Der Untersuchungsauftrag
1.2.4.2. Der reguläre Ablauf der Ausschussarbeit
1.2.4.2.1. Aktenvernichtung
1.2.4.2.2. Aktenverweigerung: Die Stasi-Unterlagen
1.2.4.2.3. Aktenverweigerung durch die neue Regierung
1.2.4.2.4. Manipulation (Zeugenabsprachen)
1.2.4.2.5. Fazit von 1.2.4.2
1.2.4.3. Aussagen
1.2.4.3.1. Verweigerung der Aussage oder des Eides
1.2.4.3.1.1. Aussageverweigerung wegen anderer Strafverfahren
1.2.4.3.1.2. Eidverweigerung
1.2.4.3.2. Wirkliche Aussagen - Aussagen als Selbstrechtfertigung
1.2.4.3.3. Die französischen Zeugen
1.2.4.3.4. Anwendung der NPÖ am Beispiel Zeugenvernehmung
1.2.4.4. „Hickhack der Parteien“
1.2.4.4.1. Der konkrete Konkurrenzkampf im Ausschuss
1.2.4.4.2. Das Urteil des BVG zur Ausschussarbeit
1.2.4.5. Die Bewertungen durch die Parteien
1.2.4.5.1. Der Abschlussbericht der Ausschussmehrheit
1.2.4.5.2 Abweichender Bericht der CDU/CSU-Fraktion
1.2.4.5.3. Abweichender Bericht der Fraktion der PDS
1.2.5. Fazit aus 1.2
1.3. Die Aufklärung durch die Zweite Gewalt: Die „Task Force“
1.4. Die eigenständige Aufklärungsarbeit der CDU
1.5. Fazit der Untersuchungen: Korruption im Leuna/Minol-Geschäft?
2. Konsequenzen: Neue Gesetze und Vorschläge gegen Korruption
2.1. Das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 26. Juli 1997
2.2. Parteien und Kommissionen
2.2.1. Die Rau-Kommission
2.3. Die Vorschläge von Transparency International
2.3.1. Die Forderungen im Vergleich mit denen anderer Parteien
2.3.1.1. Höhe der Spenden
2.3.1.2. Veröffentlichungspflicht (im Rechenschaftsbericht)
2.3.1.3. Sanktionen
2.3.1.4. Kontrolle
2.3.2. Verbot nachträglicher Einflussspenden
2.3.3. Sachspenden
2.3.4. Parteinahe Organisationen
2.3.5. Ehrenkodex für Mandatsträger
2.4. Die Novellierung des Parteiengesetzes am 19.04.2002
2.4.1. Der Anlass
2.4.2. Das Gesetz
2.4.3. Beurteilung durch Wissenschaft und Medien
2.4.3.1. „Besser als nichts“
2.4.3.2. Keine Erschwernis für Korruption
2.4.3.3. Kontrolllücke
2.4.3.4. Keine Riegel gegen Abhängigkeit zwischen Politik und Wirtschaft
2.4.3.5. Legale (Dauer)-Bestechung möglich
2.4.3.6. Illegale Barspenden nicht strafbar
2.4.3.7. Keine Änderung der Strukturen
2.4.3.8. Systemgrenze Verfassung
2.4.4. Fazit von 2.4
TEIL E: Aus der Theorie abgeleitete Vorschläge
1. Die Vorschläge der Institutionenökonomik
1.1. Überprüfung von Überregulierung und Bürokratie („Anreize“)
1.2. Legalisierung („Anreize“)
1.3. Überzeugung („Informationen“)
1.4. Strafen
1.5. Symbolische Politik zur Verteidigung korrupter Strukturen („Anreize“)
1.6. Kontrollen („Negative Anreize“)
1.7. Wertung
2. Der ethisch motivierte Ansatz
3. Die Position der Marxschen Politischen Ökonomie
3.1. Vorschläge
3.1.1. Eindeutige Eingrenzung des Korruptionsdelikts
3.1.2. Zuordnung der Verantwortung
3.1.3. Entwertung der Ausrede Fahrlässigkeit
3.1.4. Hohe Strafen
3.1.5. Scharfe Kontrollen
3.1.6. Längere Verjährungsfristen
3.1.7. Nebeneffekte der vorgeschlagenen Maßnahmen
3.2. Mittel der Durchsetzung und Ziel: „Soziale Ächtung“
TEIL F Zusammenfassende Schlussbemerkungen
1. Bestimmung des Tatbestands „Politische Korruption“
2. Korruption im Leuna/Minol-Geschäft
3. Die Einordnung der Fall Leuna/Minol
4. Die Aufklärung
5. Gesetze und Vorschläge gegen die Korruption
6. Die Brauchbarkeit der Untersuchungsmethode
7. Schwächen und Grenzen der Marxschen Politischen Ökonomie
8. Das Problem der immateriellen Korruption
8.1. Die nichtmaterielle Bezahlung im Einzelfall
8.1.1. Der immaterielle korrupte Lohn
8.1.2. Das Problem des Gemeinwohls
8.2. Korruption als Gesamtpaket – Korruption innerhalb der Politik
9. Konsequenzen
Abkürzungen von Publikationen
Literaturliste
Lebenslauf
EINLEITUNG
1. Untersuchungsgegenstand
1.1. Die Relevanz des Themas „Politische Korruption“
Gegenstand der Arbeit ist die Normalität der Politischen Korruption in der Marktwirtschaft am Beispiel des Verkaufs der Leunawerke und des Minol-Tankstellennetzes an den französischen Staatskonzern Elf Aquitaine durch die Treuhandanstalt im Januar 1992.
Bis vor kurzem tat sich die Korruptionsforschung zumindest in Deutschland noch relativ schwer: Zwar benennt der Politologe und Korruptionsforscher Ulrich von Alemann bereits 1989 das Problem und überschrieb einen Aufsatz mit der Feststellung: „Korruption. Ein blinder Fleck in der Politikwissenschaft“.[1]
Andrerseits aber spricht 1992 der Politologe Wolfgang Seibel[2] indirekt sogar von einer jahrzehntelangen Korruptionsforschung und einer zentralen Bedeutung in der Politikwissenschaft: „Dass die staatliche Institutionenordnung, wie sie in den geschriebenen Verfassungsnormen fixiert ist, durch die Arrangements und Interessenskoalitionen zwischen staatlichen und parastaatlichen, verbandlichen und Clan-artig organisierten Akteuren überlagert, und das heißt: relativiert und partiell außer Kraft gesetzt wird, ist eines der Generalthemen der Politikwissenschaft in den westlichen Demokratien seit den 1970er Jahren. Erst allmählich aber ist die Erkenntnis gewachsen, dass diese Verflechtungs- und Interaktionsphänomene zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden relativ komplexe mikrostrukturelle Grundlagen haben. Zu diesen mikrostrukturellen Grundlagen zählt unter anderen die jeweilige Festigkeit, mit der die institutionellen Imperative der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung durchgehalten werden können gegenüber informellen Absprachen, Ämterpatronage, außerparlamentarischen Kompromissen, tauschförmigen Markbeziehungen, Quasi-Korruption usw. usf.“[3]
Aber ebenfalls 1992 beklagte der Verwaltungswissenschaftler und damalige Referent in der Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holsteins, Göttrik Wewer, dass Korruptionsforschung nicht unbedingt gern gesehen sei: „Die Erforschung der Korruption ist methodisch schwierig, praktisch und politisch zumeist heikel und der eignen Karriere nicht unbedingt förderlich. Dass die ‚Schattenpolitik’[4] eher ein Schattendasein in der hiesigen Verwaltungs- und Politikwissenschaft führt und unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet bislang eher bescheiden sind, dürfte auch damit... zu tun haben“.[5]
Auch im öffentlichen Bewusstsein war Korruption kein vorrangiges Problem. Noch vor nicht einmal einer Generation assoziierte man beim Reizwort „Korruption“ Begriffe wie „Bazar“, „Bananenrepublik“, „Entwicklungsländer“ oder „Südeuropa“. Heute gilt: „Wozu in die Ferne schweifen?“ Bereits nach dem Flick-Skandal, spätestens aber nach der Kohl-Affäre kann das Uralt-Phänomen Korruption – für das bereits die Ägypter, Griechen und Römer sogar eigene Vokabeln und Gegenmaßnahmen hatten[6] - weder als volkswirtschaftlich unerhebliche „Randerscheinung“ heruntergespielt noch als „Zeitgeistphänomen“ beklagt werden.
Man kann sogar sagen, dass die Korruption in Deutschland „von Anfang an mit dabei“ war: „... die Reichsgründung von 1870/71 markiert den Ausgangspunkt dieser Entwicklung, in dessen Verlauf das Mittel der Korruption – wenn auch in sehr unterschiedlichem Stil und Ausmaß – zum Begleitphänomen der politischen Kultur Deutschlands in vier verschiedenen Verfassungssystemen wurde. So beginnt die Geschichte der Korruption in der politischen Kultur des deutschen Nationalstaates mit der Bestechung Ludwig II. von Bayern durch Otto von Bismarck. Um König Ludwig II. zu bewegen, dem preußischen König Wilhelm I. die Kaiserkrone anzutragen, sicherte Bismarck dem Bayernkönig jährliche Zuwendungen aus dem berüchtigten Reptilienfonds[7] zu.“[8]
Auch bei der Bundesrepublik Deutschland soll die Korruption zu den „Geburtshelfern“ gehört haben, insbesondere bei der Entscheidung des Bundestages in der Hauptstadtfrage.[9] Bis heute noch nicht entkräftet ist der Vorwurf des damaligen Abgeordneten der Bayerpartei (BP), Hermann Aumer, es seien „insgesamt zwei Millionen DM an Mitglieder verschiedener Fraktionen gezahlt worden, hauptsächlich an die BP. Etwa hundert Abgeordnete sollen Summen zwischen 1.000 und 20.000 DM erhalten haben, damit sie für Bonn stimmten“[10].
Angesichts der Vielzahl von Korruptionsfällen in nahezu allen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und mit immer neuen Spielarten liegt die Vermutung nahe, dass ohne Korruption die internationale und nationale Volkswirtschaft gar nicht mehr funktionieren und auch nicht funktionieren würde. Für den Verfassungsrechtler und Korruptionsforscher Hans Herbert von Arnim ist Korruption gar „die Seele des Systems“[11]. Bartholomäus Grill sagt in der ZEIT: „Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Korruption zu den größten Entwicklungshemmnissen zählt. Sie vertieft die Kluft zwischen Armen und Reichen, weil raffgierige Eliten die öffentlichen Haushalte ausrauben. Sie verzerrt den Wettbewerb, weil Unternehmen immer größere Summen abzweigen müssen, um Aufträge zu erhalten. Sie unterhöhlt die Demokratie, das Vertrauen in den Staat, die Legitimität von Regierungen, die allgemeine Moral. Und: Die Korruption kann Staaten zerrütten.“[12]
Das Thema dieser Arbeit bedarf also kaum einer Begründung: Es drängt sich geradezu auf.
Ausgehend davon, dass die Korruptionsfälle so zahlreich sind , dass sie nicht mehr Einzelfälle schwarzer Schafe aufgefasst werden können, stellen sich zweierlei Fragen:
- Ob und inwieweit das System der Korruption, bei allen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Verästelungen, letztlich in der gegebenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung begründet sind.
- Ob die „Anormalität“ der Korruption nicht in Wahrheit bereits „Normalität“ geworden ist und mithin alle Korruptionswürfe trivial und alle Antikorruptionskonzepte illusionär sind.
Dies soll am Fall Leuna/Minol untersucht werden.
+++
1.2. Forschungsstand
Eine grundsätzliche (nicht nur politik-)wissenschaftliche Diskussion über Politische Korruption in Deutschland – sieht man einmal von den z.T. in dieser Arbeit behandelten sporadischen Einzel-Analysen und den überwiegend deskriptiven Werken bzw. Beiträgen ab – findet faktisch (noch) nicht statt. Noch im Jahr 2001 stellt von Arnim fest: „In Deutschland ist die Korruptionsforschung... bisher ziemlich rückständig.“[13]
Dies mag zum einen damit zu tun haben, dass es eine einheitliche spezifische Methodik der Politikwissenschaft nicht gibt[14], dass anstelle der sogar früher „mit wechselseitigen Exkommunizierungsdrohungen aus der Wissenschaftsgemeine geführten, wissenschaftstheoretischen und politischen Kontroversen“[15] die Praxis wechselseitiger „Theorieanleihen“ trat und seitdem eher die Gefahr bestehe, „dass die Kontroversen ganz unterbleiben, erstickt werden von einer freundlichen, wechselseitigen Indifferenz.“[16] Man forschte lange Zeit quasi nebeneinander her und ignoriert sich mehr oder weniger wechselseitig.
Hinzu kommt, dass praktisch erst durch Helmut Kohls Geständnis über die Annahme von Schwarzgeld am 16. Dezember 1999 im ZDF[17] das Thema „Regierungskriminalität“ und wiederum erst im Gefolge davon das Thema „Politische Korruption“ wirklich ins Interesse der Öffentlichkeit gelangte – und auch das nur in Form des Themas „Bestochene Politiker“. Eine „Entlarvungswelle“ in Gestalt einer in ihrer Gesamtheit kaum noch überschaubare Fülle von empirischem Material in Form von journalistischer Literatur und Einzelmeldungen strömte auf den Bürger ein, ohne dass – mit wenigen Ausnahmen - hinreichende oder überhaupt irgendwelche Deutungsmöglichkeiten angeboten wurden, vor allem zur Frage, ob es sich um eine „Springflut von Einzeltätern“ oder um zwangsläufige Wesensmerkmale des Kapitalismus handelt. Ein weiterer Grund könnte aber zumindest für marxistische Autoren darin liegen, dass sie die Politische Korruption gar nicht als eigenständiges Problem sehen, sondern die Frage durch die allgemeine Ableitung des Staates als „Instrument der herrschenden Klasse für ein für alle Mal geklärt“ halten.
Dennoch gibt es durchaus bemerkenswerte Arbeiten und Ansätze, von denen einige für die Untersuchung des Falles Leuna/Minol von besonderer Bedeutung sind.
1992 versuchten z.B. Ulrich von Alemann/Ralf Kleinfeld, die politikwissenschaftliche Korruptionsforschung zu systematisieren.[18] Als Ausgangspunkt dient dabei das Eigennutz-Axiom, auf dem auch die Neue Ökonomische Politik bzw. die Institutionenökonomik[19] basiert: „Verallgemeinernd rückten hierbei Erklärungsmuster in den Mittelpunkt, die von einem individualistisch-rationalistischen (Gewinn-)Kalkül der beteiligten Akteure ausgehen, das dort zum Tragen kommt, wo diesen Akteuren sozial vermittelte Macht- oder andersartige Ressourcen zukommen, die politisches Handeln beeinflussen können.“[20]
Dabei unterschieden die Autoren zwischen drei grundlegenden Konzeptionen
- Korruption als Rechtsverletzung im Amt zum Zwecke privater Interessendurchsetzung
- Korruption als Konflikt zwischen privater und öffentlicher Moral und Interessen.
- Korruption als tauschförmige Nutzenmaximierung.
Letztere wird aufgefasst als „Austausch ökonomischer gegen politische Belohnungen“[21]. Auch von Arnim „stimmt insofern mit dem Ansatz der sogenannten Neuen Politischen Ökonomie überein, als die Existenz von Eigeninteressen der Politiker anerkannt wird“[22].
Er vertritt die These, dass die Amts- und Mandatsträger sui generis eine eigennützige „Politische Klasse“ bilden[23], sieht „ Die Verfassung im Griff des Systems“[24] und plädiert quasi als Allheilmittel für „Direkte Demokratie“.
Peter Eigen vom Antikorruptions-Netzwerk Transparency International Deutschland (TI-D) geht ebenfalls vom Eigennutz aus. Er sieht das Spannungsfeld Eigennutz – Gemeinsinn einerseits als Frage von „Moral und Anstand“, andrerseits aber will er der Ethik durch Transparenz, Kontrollen und Sanktionen nachhelfen.[25]
Der Politologe Hans-Joachim Lauth[26] untersucht besonders „klientelistische Strukturen“ als Erscheinungsformen Politischer Korruption, ohne die auch der Fall Leuna/Minol in dieser Form kaum möglich gewesen wäre.
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1.3. Die Relevanz der Neuen Politischen Ökonomie
Bei der offenkundigen Bedeutung des Ansatzes der NPÖ versteht es sich von selbst, dass sich die vorliegende Arbeit auch als exemplarische Auseinandersetzung mit diesem Ansatz versteht. Er erhebt den Anspruch, sämtliche gesellschaftlichen Probleme, also auch das der Korruption, mittels ökonomisch-mathematischer Modelle lösen zu können. Es bietet sich also an, den für die Korruptionsanalyse relevanten Teil der NPÖ ausführlich darzustellen und sowohl methodologisch als auch in der Praxis der Anwendung auf das Beispiel Leuna/Minol kritisch zu überprüfen, ohne deshalb den Anspruch einer „Generalkritik“ der NPÖ zu erheben. Bei dieser Kritik greife ich auch auf die Marxsche Politische Ökonomie[27] bzw. den Marxismus zurück, ohne letzteren natürlich erschöpfend beleuchten zu können.
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1.4. Das Beispiel Leuna/Minol
Das Beispiel Leuna/Minol-Geschäft wurde gewählt, weil es einer der spektakulärsten Fälle der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, in denen Politikern bzw. der Politik insgesamt Bestechlichkeit vorgeworfen wurde. Dabei besteht das Herausragende nicht nur in dem außerordentlichen Interesse der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Bislang einmalig war auch das der Vorwurf der Bestechlichkeit gegen einen zur fraglichen Zeit amtierenden Regierungs-Chef und Teile seiner Regierung.
Der Skandal löste darüber hinaus auch eine Lawine an Vorschlägen, Initiativen und neuen Gesetzen bzw. Gesetzesänderungen zum Thema Korruption aus.
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1.5. Abgrenzung des Themas
Nicht oder nicht ausführlich behandelt werden:
a) Die internationale Lage. Zwar ist auch das Leuna/Minol-Geschäft letztlich nur im historischen globalen Kontext zu verstehen, trotzdem muss z.B. auf eine genaue Untersuchung der deutsch-französischen Beziehungen verzichtet werden; zumal man auch diese nur vor noch allgemeinerem Hintergrund klären könnte. Die Darstellung des internationalen Rahmens hat also den Status unbewiesener, aber auch nicht zu beweisender Aussagen – also von Axiomen.
b) Die Rolle der Medien. Nach dem Eigennutz-Axiom stellen auch die Medien und Journalisten ihr eigenes Interesse über die „Wahrheitsfindung“, schreiben also z.B. das, was der Karriere nutzt, nicht was „wahr“ ist.
c) Die genauen parteiinternen bzw. gruppeninternen Widersprüche und Mechanismen. Es wird also nicht das Eigeninteresse jedes einzelnen Entscheidungsträgern erschöpfend untersucht.
d) Der Begriff des Gemeinwohls selbst. Er dient als Kennzeichnung der Gemein-Interessen in Abgrenzung zu den Teilinteressen z.B. der Regierung, der Parteien, des Regierungschefs etc. Nicht problematisiert wird, wer das Gemeinwohl, vor allem bei konkreten Entscheidungen überhaupt feststellen will, wieso man gewählten Abgeordnete eher Entscheidungen zum Gemeinwohl zutraut als der Volksmehrheit.
e) Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Neuen Ökonomischen Politik und der Marxschen Theorieauslegung, sofern dies nicht zur Korruptionsanalyse notwendig ist. Dem Einwand, dass letztlich auch unterschiedliche Korruptionstheorien auf unterschiedliche Ansätze zurückzuführen sind, trage ich insoweit Rechnung, dass ich diese Ansätze diskutiere und ihnen thesenhaft widerspreche. Es müssen Fragen ausgeklammert werden, z.B. warum nicht irgendeine globale Situation alles Kapital der Welt dazu zwingen könnte, aus „Einsicht in die Sachzwänge“ die Korruption für immer abzuschaffen und damit allerdings auch den Kapitalismus.
f) Das Eigennutz-Axiom selbst. Nicht erschöpfend problematisiert wird, dass der Eigennutz als subjektive Kategorie analytisch schwer fassbar ist. Bei immateriellem Lohn wie „Prestige“ und Macht“ wird der Nutzen thesenhaft angenommen. Täte man das nicht, und ließe z.B. Argumente wie „Macht bedeutet ihm nichts“ oder „Orden sind ihm eher peinlich“ gelten, dann wäre man bald bei dem Einwand „Geld bedeutet mir nichts“ und würde ohne axiomatische Festlegung dieser Werte als eigennutzfördernde gar keine Korruptionsanalyse durchführen können. Dies ist aber kein Problem der Marxschen Politischen Ökonomie, sondern der subjektiven Grenznutzenlehre, der die NPÖ ja selbst untreu wird, wenn sie einfach voraussetzt, dass man z.B. ein für alle „rationalen“ Menschen gleiches, also ein objektives, Verhältnis von Korruptionsneigung und Korruptionslohn berechnen könne.
g) Die Analyse der Folgen der Korruption für den Gebrauchswert. Sie kommt nur insoweit zur Sprache, als dadurch die Sichtweise der Wohlfahrtstheorie verdeutlicht werden kann.
h) Die Analyse der Bedeutung der Korruption für das Wertgesetz. Einerseits ist sie für diese Arbeit nicht unbedingt erforderlich; andrerseits basiert die Marxsche Politische Ökonomie darauf, so dass die Frage der Modifikation des Wertgesetzes durch Korruption im Anhang in Thesenform erläutert wird.
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1.6. Die Hypothesen
Überprüft werden sollen folgende Hypothesen:
+ Korruption - die Beeinflussung Handlungsbevollmächtigter (Agenten) mittels materieller und immaterieller Bestechung - ist in der Marktwirtschaft kein Einzelfall, nicht einmal ein „Auswuchs“, sondern von vornherein im System der Marktwirtschaft angelegt. Auch Politische Korruption – die Beeinflussung staatlicher Handlungsbevollmächtigter durch Bestechung - ist ein Kennzeichen der Marktwirtschaft.
+ Korruption im Allgemeinen und Politische Korruption im Besonderen erschöpfen sich weder im materiellen Tausch noch im korrupten Einzeltausch (konkrete korrupte Leistung gegen konkreten korrupten Lohn), Politische Korruption liegt auch dann vor, wenn „die Politik“ ( Politiker, Partei, Gruppe etc.) immateriell oder pauschal davon profitiert, dass sie bestimmte Teilinteressen zu Lasten des „Gemeinwohls“ bzw. des „ganzes Volkes“ vertritt bzw. begünstigt.
+ Aus strukturellen Gründen können weder die Politik noch die Justiz eine wirkliche Aufklärung des Leuna/Minol-Geschäfts leisten geschweige denn einen wirksamen Kampf gegen die Korruption führen. Die Politik agiert keinesfalls unabhängig vom Einfluss der Ökonomie; vielmehr unterliegt sie auch konkret massiven Einflüssen und Einflussversuchen durch die Wirtschaft.
+ Das von der Neuen Politischen Ökonomie entwickelte Korruptionsmodell kann zwar ein durchaus brauchbares Instrument zur Analyse des einzelnen korrupten Tausches sein, das aber wegen seines mikroökonomischen Ausgangspunktes keine Aufschlüsse über die Politische Korruption als Struktur liefern kann.
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2. Methodisches
2.1. Untersuchungsmethode
Die Arbeit verwendet als Untersuchungsmethode die auf dem dialektischen und historischen Materialismus basierende Marxsche Politische Ökonomie. Wichtigste Prämissen sind das dialektische Verhältnis von Sein und Bewusstsein bei Dominanz des Seins sowie das dialektische Verhältnis von ökonomischer Basis und politisch-juristischem Überbau bei Dominanz der Basis.[28] Das bedeutet, dass auch die Phänomene der Korruption, insbesondere der Politischen Korruption aus den Produktionsverhältnissen zu erklären sind. Ich wähle diese Methode, obwohl oder gerade weil die Möglichkeit der Anwendung auf die Realität, also des von Marx postulierte Schritts vom Abstrakten zum Konkreten[29], selbst von Marxisten seit jeher bezweifelt[30] oder durch das Verweisen auf die „Klassenkonstellation als Tätigkeitsgrenze“[31] quasi für überflüssig erklärt wurde.
Bei der Erprobung der Methode der NPÖ und bei ihrer Kritik mit dem Ansatz der Marxschen Politischen Ökonomie wird sich zeigen, dass nicht alles an einem „konkurrierenden Ansatz“ falsch sein muss. Insofern ist mir im Hinblick des Vorwurfs einer „Ansatzvermengung“ jene Bemerkung des Politologen Carl Böhret sehr sympathisch: „Ich sehe für mich keinen Anlass und für mein Verständnis von Politikwissenschaft keine Notwendigkeit, die Grundlinien der wissenschaftlichen Arbeit zu verändern.. Ich bleibe offen für viele ‚Ansätze’: ich fertige eine Politikfeldanalyse dann an, wenn mich mein Erkenntnisinteresse dorthin drängt ... Ich bin Institutionalist, wenn mich eine neue Fragestellung reizt... Ich argumentiere heftig normativ, wenn es nötig ist und ich forsche mittels Computer und historischer Quellenanalyse, wenn ich es brauche. Wenn es das Erkenntnisinteresse und der Gegenstand erfordern, dann mache ich das auch alles gleichzeitig.“[32]
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2.2. Vorgehensweise und Materialauswahl
Die Aktualität der Vorgänge waren für die Arbeit Schwierigkeit und Vorteil zugleich: Einerseits wurde ich während der Arbeit (Beginn Juni 2001) mit immer neuen Enthüllungen, Entwicklungen und Wendungen konfrontiert, was ein ständiges Umdenken und Umdisponieren erforderte. Andrerseits kam ich eben deshalb gar nicht erst in Versuchung, die Untersuchung durch etwaige vorgefasste Meinungen einzuengen. Die Tatsache etwa, dass sich der juristisch relevante Bestechungsvorwurf zusehends aus Beweismangel auflöste, enthob mich der Gefahr, Politische Korruption mit ihrer kriminellen Form zu verwechseln und ihre „geldlosen“ Formen zu vernachlässigen.
Die Arbeit ist folglich keine kriminalistische Untersuchung. Das gewählte Beispiel könnte also für den Zweck dieser Arbeit – die Untersuchung der Strukturen im Zusammenwirken zwischen Politik und Wirtschaft – genauso gut erfunden sein. Dieser Aspekt erscheint deshalb wichtig, weil nicht auszuschließen ist, dass der konkrete Sachverhalt sich im Nachhinein ganz anders darstellt als zum jetzigen Zeitpunkt bekannt. Folglich muss es Ziel der Arbeit sein – und zwar unabhängig von den konkreten Details des Falls Leuna – bestimmte Strukturen freizulegen und den Blick für ihre Erscheinungsformen zu schärfen: Schon jetzt lösen Reizworte wie „Landschaftspflege“, „Berater“, „Gutachten“ oder „Parteispenden“ in der Bevölkerung skeptische bis allergische Reaktionen aus. Die Arbeit soll dazu beitragen, diese Skepsis zu widerlegen oder aber zu untermauern.
Als Quellen verwende ich sämtliche „frei zugänglichen“ Publikationen. Für die Untersuchung des Leuna/Minol-Geschäfts stütze ich mich vor allem auf Veröffentlichungen der Medien sowie auf Dokumente der Untersuchungsausschüsse, Parteien, Parlamente und sonstiger Organisationen.
Der Versuch, darüber hinaus gehende Quellen – etwa persönliche Interviews oder vertrauliche Dokumente – zu nutzen, stieß auf die unüberwindliche Schwierigkeit, dass es sich eben um strafrechtlich oder zumindest moralisch relevante Fragen handelt: Es erscheint mir nicht realistisch, zitierfähige Aussagen oder gar bislang unbekanntes Belastungsmaterial zu erhalten.
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2.3. Das Allgemeine und das Historisch-Konkrete der Korruption
Obwohl diese Arbeit die Strukturen untersucht, können Chronologie und Personen nicht unberücksichtigt bleiben, da „das, was man unter Korruption versteht, aus der Perspektive des Beobachters ständig variert. Zwar hat der Begriff der Korruption eine weite Verbreitung und Anwendung gefunden, aber die damit transportierten Inhalte und Wertungen sind auch nichts annähernd deckungsgleich“[33]. Das heißt
a) Es ist nicht nur „interessant zu wissen“, sondern auch für die Strukturanalyse von Bedeutung, welche zeitliche Abfolge und damit möglicherweise welche Kausalität zwischen den Entscheidungen der einzelnen Beteiligten bestand. Ähnliches gilt z.B. für die Frage, ob ein und dieselbe Person zwei konkurrierende Unternehmen in zeitlichem Abstand von fünf Jahren oder zeitgleich – sozusagen als „Doppelagent“ – beraten hat, oder die Frage, ob ein Minister eine Entscheidung vor oder kurz nach einem intimen Zusammentreffen mit an der Entscheidung interessierten Personen revidiert hat.
b) Es ist trivial festzustellen, dass jegliche politische Aktion sich letztlich durch Personen realisiert. Darüber hinaus aber besitzt Korruption schon per definitionem ein starkes subjektives Element. Schon allein bei der Definition von Korruption kommt man ohne Bestimmung der Akteure – Bestechende und Bestochene – nicht aus. Entsprechend ist eine Identifizierung von Korruption im Zusammenhang mit dem Leuna/Minol-Geschäft ohne die Identifizierung von Bestechenden und Bestochenen, insbesondere der tatsächlichen oder vermeintlichen Entscheidungsprozesse, unmöglich.
Die Beschäftigung mit der Chronologie und den Akteuren ist also keineswegs eine Alternative oder Antithese zur Strukturanalyse, vielmehr ihre notwendige Voraussetzung. Von Alemann/Kleinfeld schreiben dazu: „Der ubiquitäre Charakter des Phänomens Korruption legt es zunächst nahe, Definitionsversuche auch bei raum- und zeitungebundenen Erklärungsversuchen ansetzen zu lassen. Derartige Erklärungsmuster finden sich entweder in individuellen Eigenschaften und Dispositionen der beteiligten Akteure oder im Rückgriff auf grundlegende Probleme sozialer Beziehungen.“[34]
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3. Gliederung
Teil A behandelt die Methode der Korruptionsanalyse und entwickelt den Korruptionsbegriff. Was ist überhaupt Korruption und was nicht?
Dabei werden die „Geschäfts“- und Abhängigkeitsverhältnisse der Beteiligten untersucht und die von der Institutionenökonomik verwendeten Begriffe „Prinzipal“, „Agent“ und „Klient“ eingeführt.
Im Mittelpunkt stehen die Wechselbeziehungen zwischen den Nutznießern der Korruption untereinander – also dem Bestechendem (Klient) und dem Bestochenem (Agent) – sowie zwischen Bestochenem und Geschädigtem (Prinzipal). Dabei geht es um die Frage, ob die Korruption als „Störfall“ oder als notwendige Erscheinungsform des Systems zu betrachten ist, ob Korruption also den Kapitalismus qualitativ verändert.
Dies erfordert eine Bewertung der Korruption, also die Erörterung ihrer einzel- und gesamtwirtschaftlichen Folgen, wobei (in Auseinadersetzung mit der Institutionenökonomik) das offenbar gar nicht mehr für wichtig erachtete Thema der Wertschöpfung ausführlich untersucht wird: a) einzelwirtschaftlich: Schafft der an der Korruption beteiligte Akteur einen „Wert“? b) gesamtwirtschaftlich: Wie stichhaltig ist die These, Korruption werde (wegen Geheimhaltungskosten etc.) auf die Dauer zu teuer? Wird durch Korruption der Volksreichtum gemehrt oder vermindert? Können die „reinen“ mathematischen Ansätze den Unterschied bzw. Zusammenhang von „Gebrauchswert“ (Nützlichkeit) und Tauschwert (Preis, BSP etc.) erfassen? Kann man die Einzelinteressen zu einem einheitlichen Gesamtinteresse zusammenfügen (Pareto-Optimum)? Wird wirklich die optimale Nützlichkeit optimal bezahlt? Wird dieses Ziel durch Korruption befördert oder behindert?
Teil B analysiert den korrupten Eingriff in den Staat: Ist Korruption positiv, negativ oder wertfrei zu beurteilen? Ist sie unter Umständen wünschenswert? Ist Korruption „moralisch?“ Welche Konsequenzen hat der direkte korrupte Eingriff in den Staat, also vor allem in die Justiz und die Politik? Gefährdet die Korruption die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung? Hierbei wird die Eigennutz-These der NPÖ diskutiert – und was dieser Menschenbegriff für die Analyse des korrupten Eingriffs in den Staat bedeutet.
Wenn man nämlich auch Macht, Prestige und Karrierevorteile als „ideelles Schmiergeld“ für eine korrupte Handlung gelten lässt, dann droht einem der Korruptionsbegriff zwischen den Händen zu zerrinnen: Wieso soll ein Politiker korrupt sein, wenn er für eine Entscheidung 100.000 Euro kassiert - wenn er als Lohn für diese Entscheidung aber Minister wird (was ihm perspektivisch sogar noch mehr Geld verheißt), aber integer? Wie aber will man verhindern, dass willkürlich alle möglichen Leistungen, die ein Minister zuvor zur Zufriedenheit derer erbracht hat, die ihn dann zum Minister machen, als korrupte Leistungen gewertet werden?
Weiterhin werden u.a. Versuche der Wohlfahrtstheorie dargestellt, dem Vorwurf zu begegnen, die Ethik des „homo oeconomicus“ verabsolutiere kapitalistische Geldgier zur menschlichen Eigenschaft schlechthin. Was sind die Ursachen der Korruption: Ist Korruption eine zufällige (willkürlich entstandene und wieder abschaffbare) oder eine zwangsläufige Erscheinung? Kann man mittels Korruption bewusst auch „links“ steuern? Ist Wirtschaft und Politik mit Korruption überhaupt lenkbar?
Teil C untersucht auf dieser Grundlage das gewählte Beispiel des Leuna/Minol-Geschäfts. Eingangs werden verschiedene Sichtweisen diskutiert. Sichtweise 1: Nach Vollzug der Deutschen Einheit trafen im Leuna-Deal verschiedene Interessen aufeinander: Elf-Aquitaine wollte erklärtermaßen neben dem rein ökonomischen Profit auch entscheidenden auf die östlichen Märkte erlangen. Die Entscheidungsträger ließen sich aus Habgier bestechen. Sichtweise 2: Die Kohl-Regierung brauchte von sich aus den Deal, um „blühende Landschaften“ zu schaffen oder im Hinblick auf Wiederwahl wenigstens den Eindruck „die tun was“ zu erzeugen. Sichtweise 3: Der Deal war vorher vereinbarte Gegenleistung der Kohlregierung für die Zustimmung Frankreich zur Einigung. Wozu aber war dann die Korruption nötig? Um „Sand“ im Getriebe zu beseitigen, also einzelnen „Quertreibern“ (Treuhand, Kartellamt, Minister) ihre Zustimmung abzukaufen? Um Alternativprojekte bzw. Konkurrenten auszuschalten? Um einfach die Parteifinanzen aufzubessern? Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass man mit der modellhaften „Identifizierung“ der Korruptionsbeteiligten nichts gewonnen hat, sondern dass die Frage, wer wen bestochen hat, wozu und womit, nur in der Realanalyse beantwortet werden kann.
Aus deutscher Sicht und für diese Arbeit ist von zentralem Interesse das sogenannte „System Kohl“: Es stellt sich dar als sehr komplexes und konspiratives korruptes System, in dem die Akteure wechselseitig Bestechende und Bestochene sind: Schmiergeld dient den Empfängern als „Betriebskapital“ um selbst die innerparteiliche Gewogenheit anderer zu erkaufen. Dabei soll nicht nur das System Kohl als „Staat im Staat“ untersucht werden, sondern auch die Frage, ob nicht die bisherigen (und womöglich alle künftigen) Gesetze, Strafen und sonstige Maßnahmen gegen Korruption zwangsläufig ins Leere laufen. Anders ausgedrückt: Ob nicht derartige Skandale nur deshalb ruchbar und kriminell werden, weil den Akteuren überflüssige, für den reinen korrupten Akt selbst nicht notwendige Fehler unterlaufen.
Teil D untersucht den praktischen Kampf gegen die Korruption in Deutschland. Zunächst werden die bestehenden Gesetze kritisch bewertet und gefragt, ob der Leitgedanke nicht eher ein größtmöglicher legaler Handlungsspielraum für die Politik ist, und ob ein zweiter Gedanke nicht darin besteht, im dennoch eintretenden Fall des Vergehens und dessen Aufdeckung die Verfolgung durch schnelle Verjährung zu vereiteln bzw. durch glimpflichste Strafen möglichst erträglich zu gestalten. Die Anwendung dieser ohnehin kritikwürdigen Gesetze im Leuna/Minol-Fall erscheint als Paradebeispiel für die Anwendung des Mittels der Korruption auch in seiner negativen Form (Drohung mit Repressalien) auf die Justiz. Es soll untersucht werden, ob sich durch das Muster „W (Wirtschaft) kauft P (Politik), P kauft J (Justiz), damit J nicht gegen W und P vorgeht“ der korrupte Kreis schließt und nach Meinung von Systemkritikern „die Demokratie im Kapitalismus sich selbst entlarvt“. Ähnlich stellt sie die Frage für die drei mit Leuna befassten Untersuchungsausschüsse, insbesondere den Untersuchungsausschuss „Parteispenden“. Hier geht es vor allem um das Wechselspiel von erbitterter Parteienkonkurrenz, die bei wechselseitig vorhandenen Überführungsmöglichkeiten auf das „eine Hand wäscht die andere“ hinauslaufen könnte.
Teil E befasst sich mit allgemeinen Vorschlägen zur Korruptionsbekämpfung, die aus der Theorie abgeleitet sind. Dabei setze ich mich vor allem mit dem Konzept der Neuen Politischen Ökonomie auseinander, besonders in Hinblick auf ihren Anspruch der umfassenden und unmittelbaren Anwendbarkeit. Unter anderem wird die These überprüft, dass es sich bei diesen „Wenn-dann-Modellen“ teils um simple und in ihrer Naivität irreführende Ratschläge, teils aber auch um sozialstaatsfeindliche Anregungen handelt.
Dem wird die Sichtweise der Marxschen Politischen Ökonomie gegenübergestellt, wobei auch das Dilemma dieser Sichtweise herausgearbeitet wird: Wenn der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und damit das Problem der Korruption (wenn überhaupt) nur durch ein anderes Gesellschaftssystem lösbar wäre, mit welcher Perspektive sollte dann eine sozialistische Politik im Kapitalismus der Korruption begegnen?
Der zuweilen von Kritikern der westlichen Marktwirtschaft implizit aufgestellte These, im Kapitalismus könne man im Prinzip auch gegen die Korruption nicht viel mehr unternehmen als fatalistisch auf die „revolutionäre Situation“ zu warten, wird abschließend mit eignen Vorschlägen begegnet.
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TEIL A: Zur Methode der Korruptionsanalyse
Bei oberflächlicher Betrachtung entsteht der Eindruck, als bestünden die Theorie der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und erste Ansätze zu einer Theorie der Korruption im Besonderen fast gänzlich aus Variationen der Wohlfahrtsökonomik, speziell der Institutionenökonomik bzw. der Neuen Politischen Ökonomie. Viele dieser Arbeiten verzichten auf irgendeine Art der Darstellung der historischen Entstehungsgeschichte dieser Theorie und insbesondere auf eine Auseinandersetzung mit der Marxschen Politischen Ökonomie.
Lapidar und wissenschaftlich recht fragwürdig, wird sinngemäß erklärt, der Marxismus sei mit dem Scheitern der Modelle des Ostblocks endgültig erledigt. So schreibt z.B. Roland Sturm: „Es ist kaum verwunderlich, dass mit dem Scheitern der politischen Alternative des Sozialismus, die marxistische politische Ökonomie, die bereits vorher Mühe hatte, über historische und theoretisch-systematische Arbeiten hinaus, ihren Anspruch einzulösen, sich produktiv in laufende gesellschaftliche und v.a. ökonomische Konflikte einzumischen, weiter und insgesamt stark an Boden verloren hat.“[35] Nach dieser Logik aber, dass die Marxsche Politische Ökonomie inklusive ihrer recht ausdeutungsfähigen Sozialismusperspektive zwangsläufig zu Misswirtschaft und Stalinismus führe, könnte man auch Pareto-Optimum und Keynesianismus für den 2. Weltkrieg verantwortlich machen.
Die drei relevanten Nachkriegstheorien – Wohlfahrtsökonomik, Marxismus und NPÖ – lassen sich nach folgendem für die Korruptionsanalyse unabdingbaren Aspekt unterscheiden:
„Alle Theorie der Marktprozesse ist entweder Lehre von der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und sucht von dieser her das Preisgeschehen in seinen Grundzügen zu erklären; oder sie ist Lehre von der Marktpreisbildung allein, ohne nach ‚dahinter’ liegenden Umständen zu fragen“.[36] Dem entsprechen unterschiedliche Problemstellungen: „Die Werttheorie fragt nach Gesetzen, die Preislehre nach Bedingungen der Preisbildung.“[37]
Die objektive Werttheorie ist Grundlage der Marxschen Politischen Ökonomie, die subjektive Preistheorie ist Grundlage von Wohlfahrtsökonomik und NPÖ.
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1. Ansätze zur Erklärung des Verhältnisses Politik - Ökonomie
1.1. Marxsche Politische Ökonomie
Historische Vorgängerin der Marxschen Politischen Ökonomie war die klassische Wertlehre[38]. Die Arbeit als wesentliche Ursache für Wert und Preis der Waren zu sehen, war revolutionär, solange der Kapitalismus sich gegen den Feudalismus durchsetzen musste. Welchen Sprengstoff die Theorie von der wertbildenden Kraft der Arbeit aber besaß, zeigt beispielhaft die Position des Ökonomen William Petty. Für ihn sind z.B. Händler „nichts als eine Art von Spielern, die miteinander um die Arbeitsergebnisse der Armen spielen, ohne selbst etwas hervorzubringen.“[39] Und er gibt zu bedenken: „Wenn die zahlreichen Ämter und Sporteln, die mit Regierung, Rechtswesen und Kirche zusammenhängen, und wenn die Menge der Geistlichen, der Advokaten, Ärzte, Kaufleute und Krämer, die alle hohe Entgelte für geringe Arbeit erhalten, die sie an der Gesellschaft leisten, gleichfalls herabgesetzt würde – wie viel leichter könnten die öffentlichen Ausgaben bestritten werden!“[40]
Spätestens die Marxsche Arbeitswertslehre lieferte die theoretische Begründung für die sozialistische Vision: „Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse... Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt dank dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum.“[41]
Das Grundprinzip der Marxschen Politischen Ökonomie „orientiert sicham Gesamtsystem des Kapitalismus als Ausdruck einer durch ökonomische Machtverhältnisse dominierten Gesellschaftsformation.“[42]
Politik erscheint als „Oberflächenphänomen, das nur dann richtig verstanden werden kann, wenn die eigentliche Triebkraft der Gesellschaft, die aus ökonomischer Ungleichheit entstehenden Klassenkämpfe, analysiert werden.“[43] Allerdings ist das Verhältnis von Politik und Ökonomie keineswegs als deterministisches, sondern als dialektisches – also sich gegenseitig beeinflussendes – aufzufassen.[44]. Das heißt für die Korruptionsanalyse: Weder kann man sagen, dass eine auf Marktwirtschaft basierende Gesellschaft nahezu ausschließlich aus potentiellen Korrumpierenden und Korrumpierten besteht, noch dass es diese Spezies in einer anderen Gesellschaftsordnung überhaupt nicht mehr gebe. Dennoch hängt Korruption eng mit Marktwirtschaft zusammen: Sie ist kein systemübergreifender Unterfall des Überlebenstriebs in Form eines Nutzenmaximierungstriebs.
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1.2. Wohlfahrtsökonomik und Eigennutz-Axiom
Insofern scheint es zumindest logisch, dass eine Theorie benötigt wurde, die zweierlei leisten musste:
a) Die Gleichheit der Einkommensansprüche musste postulierte werden. Daher nennen Kritiker die gesamte subjektivistische Theorie (Grenznutzen-, Grenzproduktivitätstheorie) pauschal eine Rechtfertigungsideologie.[45] „Der eigentliche Grund zum Ausbau einer subjektivistischen ‚Wert’-Lehre ist ... in jenem gesellschaftlichen Bedürfnis zu sehen, als schon vorher zur Ablehnung der klassischen Arbeitswertlehre, mit ihren sozialkritischen Folgerungen, geführt hatte.“[46] Und zwar: „Die Träger des entfalteten ‚Hochkapitalismus’ sehen sich einem neuen Widersacher gegenüber: der Sozialkritik aller Richtungen, einer wachsenden Arbeiterbewegung, schließlich dem ‚wissenschaftlichen Sozialismus’. Die Arbeitswertslehre, die in der Theorie des ‚Mehrwerts’ ausmündete, erscheint als verderblich.“[47]
b) mittels der Wohlfahrtsökonomik erscheinen Politik und Wirtschaft als getrennte Sphären. „Die Wirtschaft erscheint nicht als öffentliche, sondern als rein private Angelegenheit.“[48]
Aus der Sicht der ahistorischen Theoriebetrachtung entstand die Wohlfahrts-Ökonomik aus dem Scheitern der Versuche, objektive oder subjektive Kriterien für Reichtum und Wohlstand zu finden – und zwar als Versuch der wertfreien Herausarbeitung der notwendigen Bedingungen für ein gesellschaftliches Optimum.
Zu diesem Zweck werden Modelle konstruiert und mit dem Status Quo verglichen. Das vorgegebene Ideal der Wohlfahrtsökonomik ist das Pareto-Optimum (Pareto-Effizienz): eine Situation, in der positive Veränderungen selbst für eine einzige Person nicht möglich sind, ohne mindestens eine andre Person schlechter zu stellen[49], wobei das Kriterium des Optimums aber rein subjektives Wohlbefinden ist.[50] Diese Prämisse wird im Folgenden „Eigennutz-Axiom genannt.
Schon hier sei auf den Streit um die Wertfreiheit des Ansatzes des Pareto-Modells, also von Wohlfahrtsökonomik und NPÖ, hingewiesen. Unabhängig davon, ob mit dem Begriff „homo oeconomicus“ ausgedrückt werden soll, dass jeder klardenkende Mensch jedweder Gesellschaftsordnung eigennützig und habgierig ist, oder ob er den Menschen nur bei seinen ökonomischen Handlungen beschreibt[51], kritisieren einige Autoren die Auswirkungen auf die Gesellschaftsanalyse:
„Die Paretianische Wohlfahrtsfunktion beruht auf einer ‚individualistischen’ Gesellschaftsordnung. Wenn man es als Wohlstandsziel bezeichnet, jedes Individuum so gut wie möglich zu stellen, dann liegt damit ein Werturteil vor, das individuelle Wohlbefinden zum ausschließlichen Kriterium der gesellschaftlichen Wohlfahrt macht.“[52] Damit aber entlarvt sich der Ansatz dann doch als einer des allgemeingültigen Egoismus, denn er „lässt außer acht, dass die relativen Unterschiede des Versorgungsniveaus verschiedener Individuen oder Gruppen eine Bedeutung für die individuelle Wohlfahrt haben.“[53]
Aufgrund des Vergleichs eines Ideals mit dem Status Quo erscheinen in der Wohlfahrtsökonomik Politik und Wirtschaft als voneinander getrennte gesellschaftliche Bereiche, „wobei über die Möglichkeit politischer Vorgaben für die Wirtschaft, wenn auch nicht über deren Wünschbarkeit, Übereinstimmung besteht“[54].
Damit ginge es in bezug auf Korruption darum, ob es eine gute Idee der Wirtschaft ist, Politiker zu bestechen, und eine gute Idee der Politiker, sich bestechen zu lassen, und nicht in erster Linie darum, was die Beteiligten daran hindern sollte. In den Hintergrund träte also die Frage, ob also die Politik das tut, wofür sie gewählt ist, oder das, wofür sie von Dritten bestochen wird.
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1.3. Neue Politische Ökonomie/Institutionenökonomik
Nach eignem Anspruch wendet die NPÖ „die ökonomische Theorie auf das Gebiet der Politikwissenschaften an und richtet ihr Augenmerk auf Problembereiche im politischen System.“[55] Sie entstand – dies drückt schon die Wahl des Namens aus – als Kampfansage an den in den späten 60ern wiederauferstandenen Marxismus und als Versuch der Rettung der Wohlfahrtstheorie. Sie gründet sich auf das Werk „An Economic Theory of Democracy“ von Anthony Downs, das 1957 in den USA und als deutsche Übersetzung 1968 erschien.[56]
„Während marxistische Ansätze ökonomische Probleme im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang diskutieren, plädiert die Neue Politische Ökonomie für einen strikten methodischen Individualismus, also eine Gesellschaftssicht aus der Individualperspektive. Ökonomische Erwägungen dienen dazu, Individualentscheidungen zu strukturieren und ihnen eine gewisse Rationalität zu verleihen.“[57]
Anders als die Wohlfahrtsökonomik geht die NPÖ von bestehenden Situationen, nicht von Idealvorstellungen aus. Der Ökonom Coase moniert bei der Wohlfahrtstheorie: „...the whole discussion is largely irrelevant for questions of economic policy since what ever we may have in mind as our ideal world, it is clear that we have not discovered how to get to it from where we are.“[58]
Der Wohlfahrtsökonomik wirft sie vor, sie berücksichtige nur die Beziehung Mensch-Ressource, nicht aber die Beziehung Mensch-Mensch[59].
Auf Basis des Pareto-Optimums müssten „die normative Ideale gegebenenfalls gegen den Willen der Betroffenen“ durchgesetzt werden - was zu Ärger führen könnte, und zwar „durch die unausbleibliche Reaktion der so Betroffenen[60] “ (weil die ihr eignes Wohl nicht hinter das angebliche Gemeinwohl zurückstellen wollen), die das ganze „... bis hin zur Undurchführbarkeit verteuert“[61]. Das bedeutet im Klartext: Die „wertfreie“ paretianische Frage, viel Streichung von Sozialhilfe, gesetzlicher Lohnabbau, Zwangsarbeit etc. ökonomisch bringen würde und ob es den Staat nicht billiger käme, auf sämtliche Sozialleistungen und Umweltgesetze zu verzichten und das Geld lieber in die Innere Sicherheit bei den zu erwartenden „sozialen Unruhen“ zu verwenden, ist eine Milchmädchenrechnung.
Denn selbst wenn man bei Verrechnung mit den Kosten für den dann notwendigen „Polizeistaat“ zu einem zunächst positiven Profitergebnis kommt, kann diese Strategie durchaus an dieser „unausbleiblichen Reaktion der so Betroffenen“ scheitern, wie die Geschichte wiederholt gezeigt hat. Man denke nur an Aufstieg und Fall des 3. Reiches, das man durchaus paretianisch analysieren kann und aus Sicht des Institutionenökonomen sogar muss.
Um also soziale Unbill zu vermeiden, dehnt die NPÖ ihre ökonomische Analyse auf die gesamte Gesellschaft, also auch auf die Politik aus. Teilweise wird sogar von „Imperialismus“ gesprochen.[62] Die Selbstsucht ist nicht mehr nur ökonomische, sondern gesellschaftliche Maxime. Altruismus erscheint „irrational“[63].
Genauer gesagt, arbeitet Downs mit einer Art „charmanter Zumutung“: Er will „den tautologischen Schluss vermeiden, dass das Verhalten jedes Menschen stets rational ist, weil es immer auf irgendein Ziel gerichtet ist und die sich aus diesem Verhalten ergebenden Erträge in den Augen des betreffenden Menschen die Kosten des Verhaltens überwogen haben müssen. Denn sonst hätte er sich nicht so verhalten... Um dieser Falle auszuweichen, konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit einzig und allein auf die wirtschaftlichen und Politischen Ziele eines jeden Individuums und jeder Gruppe im Modell. Zugegebenermaßen ist die Trennung... falsch und willkürlich, wenn man (Gewinnmaximierung, T.W.) als einziges wahres Motiv ansieht. Trotzdem ist festzuhalten, dass die vorliegende Abhandlung... sich mit wirtschaftlicher und politischer Rationalität befasst, nicht mit Psychologie.“[64] Auf Deutsch: Downs weiß zwar, dass die Prämissen irreal sind, aber er setzt sie trotzdem, damit es keine Tautologie gibt.[65]
Entsprechend „wird die Pareto-Optimalität durch die der Pareto-Superiorität ersetzt. Der Wissenschaftler untersucht die Ausgangssituation daraufhin, ob ein pareto-superiores institutionelles Arrangement denkbar und erreichbar ist, in dem mindestens ein Akteur bessergestellt, dabei aber kein Akteur schlechtgestellt ist.“[66] Dies klingt einerseits nach Kohls legendären blühenden Landschaften, andrerseits – im Lichte der Arm-Reich-Schere - danach, wie man die Reichen immer reichen machen kann, ohne den Rest „schlechter zu stellen“.
Mit anderen Worten: Wie kommt man zum Ideal, ohne irgendwem oder zu vielen auf die Füße zu treten? Dies aber heißt auf Grundlage der Theorien der subjektivistischen Wertlehre und der Wahlhandlungen: Wichtig ist nicht das Wirkliche, sondern was die Leute empfinden – was man ihnen EINREDEN kann. Wichtig ist nicht, ob die Armen immer ärmer werden, sondern ob sie es so empfinden. Die Institutionenökonomik, fordert im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomik, die Leute nicht zu verprellen und gewaltsam niederzuhalten, sondern zu „überzeugen“.[67]
Dass diese Theorie noch weitere normative Grenzen kennt, wird deutlich an Hinweisen für die ganz Naiven: „Entscheidend ist letztlich, dass alle Akteure den Maßnahmen zur Realisierung des fraglichen Zustandes zustimmen können. (Folglich muss es sich um eine relevante, also erreichbare Alternative handeln und nicht um ein utopisches Wunschbild.)“[68] Klartext: ‚Konsens’ durch Manipulation des „mündigen Bürgers“ durch Werbung, Wahlkampfagitation und ähnliches ja – und schließlich kann man offenbar fast alles (Unliebsame) zur „Utopie“ erklären.[69]
Stellvertretend für viele, zieht Roland Sturm das Fazit zur Neuen Politischen Ökonomie: „Geordneter Verlust an Informationen und Modellbildung führen unter dem Etikett der ‚Verwissenschaftlichung’ zu einer Entpolitisierung des Politischen. Die Priorität der Ökonomie über die Politik wird von der Neuen Politischen Ökonomie anders als im Marxismus nicht über die Ableitung von Gesellschaftlichkeit aus ökonomischen Zusammenhängen hergestellt, sondern durch die Scharnierfunktion des Ökonomischen. Relevante gesellschaftliche Beziehungen werden als alleine über ökonomische Kosten-Nutzen-Mechanismen hergestellte analysiert. Erfolgreich ist eine Politik in allen Bereichen dann, wenn sie in diesem Sinne ökonomisch denkt und handelt. Der leichte Zugang zu diesem einfachen Grundgedanken erklärt die vordergründige wissenschaftliche Attraktivität der Neuen Politischen Ökonomie. Ausgehend von sehr begrenzten Prämissen lassen sich hochkomplexe, mathematische Modelle für soziales Verhalten in einer eigenen Wissenschaftssprache erstellen und damit eine Kommunikationsgemeinschaft mit wissenschaftlichem Gewicht konstituieren.“[70]
Der Wirtschaftstheoretiker Werner Hofmann resümierte grundsätzlich für die auch der Institutionenökonomik und der NPÖ zugrundeliegenden Grenzwertlehre, sie erschöpfe sich „im bloßen Konstatieren, in der gelehrten Umschreibung allgemeiner Sachverhalte.“[71] Und der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Karl Gunnar Myrdal, polemisierte gegen die Grenznutzenlehre, sie führe „zu einer leeren Formel, deren psychologischer Erkenntnisgehalt glich Null ist. Mit großem Aufwand theoretischen Scharfsinns bringt man schließlich auf der Basis reiner Zirkeldefinitionen nichts anderes zustande als eine umständliche Formulierung einer begrifflichen Tautologie.“[72]
Die Neue Politische Ökonomie ist aber nicht einfach als Theorie für simple Gemüter und Blender abzutun; sie ist auch die direkte Antithese zu jeglichen Wertesystemen und Moralvorstellungen und ein Freibrief für „Fachidioten“, die hinterher „von nichts gewusst“ haben wollen.
In seiner Polemik gegen staatlichen Umweltschutz sagt der sich christlich gerierende Protagonist für „Ökonomische Ethik“[73], Andreas Suchanek, die Umweltschützer gingen „von der falschen Voraussetzung aus, dass Umweltschutz durch moralische Normen gesteuert werden könnte, d.h. es wird verkannt, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr werte- sondern vielmehr regelintegriert ist.“[74] Diese wertfreien „Regeln“ sind allerdings in Wahrheit ebenfalls Werte, nämlich die der Profitmaximierung.
Daher ist NPÖ ist keinesfalls eine reine „Nonsens-Theorie. Ihr Kunstgriff besteht lediglich darin, marktwirtschaftstypische Probleme und Verhaltensweisen zu allgemeingültigen zu erklären.
Daraus ergibt sich 1. Indem die NPÖ den Allgemeingültigkeitsanspruch erhebt, beansprucht sich gleichzeitig, sämtliche Fragen des gesellschaftlichen Lebens nach den Prinzipien der Profitmaximierung zu lösen. Dabei fasst sie aber alle Fragen als Einzelfragen und gesellschaftliche bzw. Struktur-Fragen lediglich als Summe dieser Einzelfragen 2. Ihr überzogener Anspruch spricht aber nicht gegen diese Theorie. Vielmehr drückt sie exakt die Prinzipien des Kapitalismus aus. Dass Firmen um des Profits Willen Gesundheit und Leben von Menschen riskieren, ist keine Erfindung unmoralischer NPÖ-Theoretiker, sondern hier nicht zu belegende Realität, die dem Zwang zur Kapitalverwertung entspringt. 4. Es wird zu zeigen sein, dass die NPÖ eben wegen ihres Charakters als Theorie der Profitmaximierung auch für Korruptionsanalyse durchaus brauchbare Methoden anbietet, die an der Oberfläche denen der Politischen Ökonomie ähnlich sind. Man könnte auch sagen: Solange sich eine Theorie des Kapitalismus auf Kapitalismusanalysen beschränkt, ist es unerheblich, ob sie sich für darüber hinaus allgemeingültig hält oder nicht. 5. Dies gilt allerdings nicht für die grundlegende Strukturanalyse und die daraus resultierenden Vorschläge zur Korruptionsbekämpfung. Es wird deutlich werden, dass die NPÖ sich schlicht übernimmt bzw. zu einer grundlegenden Theorie der Korruptionsbekämpfung aus methodischen Gründen überhaupt nicht in der Lage ist.
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1.4. Interessenidentität von Kapital und Gesellschaft
Während der subjektive Effekt des Wertfreiheitspostulats also in einer Art moralischem Persilschein für Theoretiker und Praktiker der (Wirtschafts-) Politik besteht, führt dieses Postulat auf Basis des Axioms der „Allgemeingültigkeit“ bzw. „Naturgegebenheit“ des (ökonomischen) Egoismus im Allgemeinen und der Marktwirtschaft im Besonderen geradewegs zum Postulat der Identität von Kapitalinteressen und Gemeinwohl:
„Will der Staat einwirken, muss er Angebote formulieren, die für die privaten Kapitaleigner attraktiv sind, etwa als Signal im Sinne des Investitionsanreizes oder der Standortwahl. Damit wird der Einsatz des Staates für das wirtschaftliche Gemeinwohl synonym mit der Förderung der Unternehmerinteressen“[75] Das Problem: Verteidiger und Kritiker der Marktwirtschaft sind sich einig, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Die Verteidiger, deren allerhöchstes Normativ die Aufrechterhaltung dieses System ist, stellen ein ums andere Mal mit Bedauern fest, dass es in der konkreten Situation leider keine Alternative zu unternehmerfreundlichen und volks-unfreundlichen Maßnahmen gebe: Eine Situation, in denen es der Bevölkerung relativ besser geht als den Kapitalbesitzern, ist in der Marktwirtschaft weder praktisch noch theoretisch denkbar. Im Gegenteil: Der Gesamtkonsens lässt sich überhaupt nur auf eine mögliche Art realisieren: Wenn „das Volk“ einsieht, dass es z.B. nur dann Arbeitsplätze gibt, wenn es dem Investor profitabel erscheint, dass also wenigstens ein paar Brotkrumen nur dann abfallen, wenn „die am Tisch“ satt sind.[76]
So ähnlich sieht das auch Marx, der das allerdings nicht von subjektiver Bösartigkeit oder angeborener Habgier ableitet, sondern von den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise, insbesondere vom Zwang zur Profitmaximierung, als dessen Folge der Kapitalist als „personifiziertes Kapital“[77] agiert. Während aber die Kritiker dieses System eben wegen dieses Tributs als überlebt bzw. überwindenswert ansehen, fordern die Verteidiger der Marktwirtschaft die (so natürlich nicht bezeichnete) relative Verelendung als notwendigen Tribut an dieses vorgeblich bestmögliche Gesellschaftssystem ein. Deshalb handeln Politiker, die aus Sicht der Kritiker dem Kapital Profite zu Lasten der Gesellschaft verschaffen, aus Sicht der Verteidiger in Wahrheit im Interesse des Gemeinwohls. Die Frage, ob eine solche unternehmerfreundliche Politik eine gegen die Interessen des Prinzipals verstoßende Gegenleistung eines geschmierten Agenten oder gar eines ganzen Parlaments sein könne, verstehen sie daher gar nicht oder wollen es nicht: „Die Gesellschaft ... will, dass sie (die Unternehmen, T.W.) gut verdienen, wenn sie so die nötigen Anreize für gesellschaftlich notwendige Aktionen erhalten. Dabei weiß die Gesellschaft, dass sie sich dies angesichts der hohen Kooperationsgewinne..., von denen letztlich jedes Gesellschaftsmitglied profitiert, leisten kann.“[78] Deshalb ist es auch überhaupt nichts absurd, dass ein Politiker sozusagen „ehrlichen Herzens“ Entscheidungen trifft, die bestimmte Unternehmen oder Branchen bevorzugen oder gar Gesetze verletzen. Es kann gut sein, dass Politiker einem Unternehmen eine illegale Exportgenehmigung geben, Umweltzerstörung durchgehen lassen oder ihm trotz eines schlechteren Gebots einen Auftrag erteilen, weil sie „aufrichtig“ davon überzeugt sind, dass die Profitmaximierung für dieses Unternehmen oder diese Branche der Schlüssel zum Maximierung des Gemeinwohls ist. Aber führt dies – realistisch betrachtet - auch dazu, „dass jedes Gesellschaftsmitglied profitiert“?
Betrachtet man als „Gesellschaft“ die Gesamtbevölkerung inklusive der Armen, dann wäre die These, „dass letztlich jedes Gesellschaftsmitglied profitiert“, bodenloser und höchst unwissenschaftlicher Propaganda-Zynismus. Einen Sinn ergibt die These nur, wenn man „die Gesellschaft“ ähnlich selektiv fasst wie weiland die Griechen und Römer und später die Apartheid-Weißen Südafrikas - oder wie die Boulevard-Soziologie die „Spaßgesellschaft“.
Die Korruptionsfrage stellt sich jedenfalls aus diesem Blickwinkel in ganz anderem Lichte dar: Wenn immer die Politik ein Unternehmen mit Subventionen, Aufträgen und anderen Vergünstigungen überschüttet und die Begünstigten großzügig spenden, dann hat das mit einem korrupten Tausch nicht das Geringste zu tun: Die Begünstigung des Unternehmens dient dem Gemeinwohl – ebenso wie die Parteispende, da starke Parteien ja vor allem im Interesse des Bürgers sind, der diese Parteien ja zudem in verantwortliche Positionen gewählt hat. Das Korruptionsproblem wird schlicht wegdefiniert.
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2. Klärung des Begriffs der Korruption
Im Lexikon findet man unter Korruption z.B. folgende Definition: „Benutzung staatl. Machtmittel oder der Vorteile einer öffentlichen Position, um sich gesetzeswidrige, private Vorteile zu verschaffen.“[79]. Obwohl diese Gleichsetzung von „Korruption“ mit „staatlicher Korruption“ eine Einengung dieses Begriffs darstellt, kommt diese Einengung des Begriffs dem Ziel dieser Arbeit sehr entgegen. Dennoch muss der Begriff weiter präzisiert werden und dazu zunächst erweitert werden. Als „Korruption“ werden nämlich umgangssprachlich auch so unterschiedliche Handlungen Verhaltensweisen bezeichnet wie Untreue, Verschwendung, Selbstbereicherung, Unterschlagung, Betrug oder Ähnliches. Für meine Arbeit entscheidend aber ist der korrupte Tausch, das heißt: Die genannten Delikte können auch als „einseitige Handlung“[80] begangen werden. Das Interesse dieser Arbeit dient aber nicht dem sich bereichernden Akteur an sich, sondern dem Akteur, der sich dadurch bereichert, dass er Dritten die Bereicherung ermöglicht. Es ist allerdings davor zu warnen, gerade im Falle der Politiker voreilig von einer einseitigen, also nicht korrupten, Handlung zu reden. Auch wenn ein Politiker z.B. Staatskarossen für private Zwecke missbraucht, so ist dies keineswegs eine Bereicherung ohne Gegenleistung; denn zweifellos hat er die Möglichkeit zum Missbrauch nur in seiner Eigenschaft als Politiker. Um aber überhaupt in diese Funktion zu gelangen, muss er möglicherweise[81] die im Laufe der Arbeit zu identifizierenden korrupten Leistungen erbringen.[82]
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2.1. Die Verhältnisse der Korruptions-Beteiligten untereinander
2.1.1. Das Grundmodell des korrupten Tausches
2.1.1.1. Das Grundmodell
Für die Korruptionsanalyse wird folgendes Grundmodell mit seinen gängigen Bezeichnungen[83] verwendet:
a) An einem korrupten Tausch sind mindestens drei Akteure beteiligt:
Der Bestechende = „Klient“,
der Bestochene = „Agent“,
der Geschädigte und eigentliche Vertragspartner des Agenten = „Prinzipal“.
Als „Vertrag“ werden dabei Vereinbarungen und Geschäfte zwischen den Akteuren bezeichnet, und zwar unabhängig davon, ob sie schriftlich, mündlich oder durch stillschweigendes Übereinkommen (‚ungeschriebenes Gesetz’, Gewohnheitsrecht, Gentlemen’s Agreement etc.) fixiert werden.[84]
b) Prinzipal und Agent unterhalten eine Vertragsbeziehung, die dem Agenten eine Position bringt, die der Klient nicht hat. Es findet ein Tausch zwischen Agent und Klienten statt. Die Leistung des Agenten ist hierbei ein Verstoß gegen eine im Vertrag mit dem Prinzipal festgelegte Regel.
c) Zum Regelverstoß nutzt der Agent seine Position auf zwei verschiedene Arten:
+ Er überschreitet seinen vertraglich vereinbarten Ermessensspielraum bzw. seine Kompetenz. Beispiel: Ein Treuhänder, dessen einzige Vorgabe die Gewinnmaximierung ist, verkauft ein Grundstück gegen Schmiergeld an einen schlechter bietenden Interessenten.
+ Er überschreitet den Ermessenspielraum bzw. seine Kompetenz nicht, lässt sich aber in seiner Aktion durch eine Gegenleistung beeinflussen, ohne dass der Prinzipal dieser Gegenleistung zugestimmt hätte oder die Zustimmung vorauszusetzen war. Beispiel: Besagter Treuhänder verkauft das Grundstück unter zehn Gleichbietenden an den Schmiergeldzahler. Der Regelverstoß besteht darin, dass der Agent „den Vorteil auf die Waagschale seiner Entscheidung legt“[85].
Im Vorgriff auf Teil D ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der Kompetenzüberschreitung auch den juristischen Unterschied bei Straftaten im Amt markiert: §331 (Vorteilsnahme) und § 333 (Vorteilsgewährung) StGB regeln den Regelverstoß im Rahmen der Kompetenzen, §332 (Bestechlichkeit) und §334 (Bestechung) den Regelverstoß mit Kompetenz-Überschreitung sowie §335 die Fälle der §§ 332 und 334 in besonders schweren Fällen.
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2.1.1.2. Die Grenzen des Modells
Bei der konkreten Anwendung des Modells hängt die Zuordnung der Rollen Agent und Klient vom Betrachter ab, ist also insofern willkürlich[86]. Beispiel: Ein Unternehmen zahlt einem Politiker Geld für einen Staatsauftrag. Betrachtungsweise 1: Das Unternehmen ist der Klient und der Politiker der Agent, der einen Regelverstoß gegenüber dem Prinzipal „ganzes Volk“ begeht. Betrachtungsweise 2: Der Politiker braucht dringend Geld und „schmiert“ den Prokuristen des Unternehmens mit einem Staatsauftrag, der mehr der Karriere des Agenten als dem Unternehmen nutzt. Hier ist der Politiker der bestechende Klient und der Prokurist der bestochene Agent, der einen Regelverstoß gegenüber dem Unternehmen begeht. Dieses Problem, dass uns bei der gesamten Analyse des Leuna/Minol-Geschäfts beschäftigen wird, zeigt die Beschränktheit des ansonsten brauchbaren Modells: Denn allem Allgemeingültigkeitsanspruch zum Trotz, kann es nämlich die Frage nicht beantworten, wer denn hier Bestechender und wer Bestochener ist, welcher Prinzipal also hintergangen wurde und seinen Agenten tunlichst aus dem Verkehr ziehen müsste: Hat der Prokurist die „Schmiergeldkasse“ für eigene Zwecke missbraucht und einen unattraktiven Auftrag übernommen oder exakt seine Aufgabe erfüllt? Hat umgekehrt der Politiker die Billigung des Prinzipals, für die Vergabe eines unattraktiven Auftrags „Provision“ zu kassieren? Diese Fragen entziehen sich der institutionenökonomischen Methode. Wenn sie aber den „Korruptionssünder“ gar nicht identifizieren kann, wie will sie ihn dann mit ihren „Informationen und Anreizen“ von der Korruption abhalten? Diese Kritik ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieses Modell als Modell für die Korruptionsanalyse durchaus brauchbar ist.
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2.1.2. Der Begriff der ‚Beeinflussung’
Korruptionsverdächtige versuchen häufig, ein Art „Katz- und Maus-Spiel“ zu veranstalten, indem sie einfach behaupten, sie hätten die Entscheidungen auch ohne Gegenleistung genau so getroffen, sie hätten von der Gegenleistung erst nachträglich erfahren oder die Gegenleistung sei gar keine, sondern ihr Zusammentreffen mit der erbrachten Leistung sei rein zufällig. Selbstverständlich kann sich weder der geduldige Bürger, noch die Korruptionsanalyse auf Derartiges einlassen, zumal es hier auch gar nicht um Schuldnachweise im juristischen Sinne geht. Beispiel: Man stelle sich vor, ein Tapezierer behauptet, er habe einem Bekannten aus purer Nachbarschaftshilfe die Wohnung tapeziert und sei ganz überrascht gewesen, anschließend Geld zu erhalten bzw. das Geld habe mit dem Tapezieren nichts zu tun, sondern sei eine Spende für einen notleidenden Familienvater gewesen. Obwohl so etwas im Einzelfall natürlich stimmen kann, dürfte kaum ein Finanzamt diese Version akzeptieren. Ebenso geht es bei der Korruptionsanalyse um zwei Leistungen und deren objektiven inneren Zusammenhang. Ist dieser Zusammenhang gegeben, wird die Leistung des Agenten als korrupte Aktion und die Leitung des Klienten als korrupte Bezahlung gewertet.
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2.1.3. Die Zeitnähe als Problem des Korruptionsnachweises
Ein korrupter Tausch wird nicht immer so offensichtlich durchgeführt, dass die beiden zusammenhängenden Leistungen zeitnah erfolgen. Es liegt aber auf der Hand, dass eine Obergrenze für den Zeitraum, in die Leistungen erfolgen müssen, um einen Zusammenhang zu beweisen, nicht zu benennen ist. Wie viel später darf eine „Dankeschön-Spende“ kommen, um als solche identifiziert zu werden? Eine Woche, einen Monat ein Jahr, fünf Jahre nach der ‚Gefälligkeit’? Da Zeitnähe also nicht definierbar ist, kann sie auch kein Kriterium der Identifizierung von Korruption sein. Nun bedeutet aber ein scheinbar perfektes Verbrechen – in diesem Fall eines ohne nachweisbares Motiv – noch lange nicht, dass es nicht stattgefunden hat. Und die Tatsache, dass einem Agenten der Erhalt eines konkreten, projektbezogenen korrupten Lohnes nicht nachgewiesen werden kann, zeigt bestenfalls die Grenzen der Analyse des isolierten Korruptionsfalls, nicht aber, dass der Agent nicht insgesamt davon profitiert, dass er seinen Klienten zu Vorteilen auf Kosten des Prinzipals verhilft. Es ist nämlich substantiell kein Unterschied, ob jemand z.B. alle zwei Jahre eine Million überweist und dafür bei zehn Grundstücksvergaben bevorzugt wird, oder ob er jede Bevorzugung mit 100.000 DM bezahlt. Der Schluss, dass Bestechung nicht zeitnah sein muss, betrifft besonders das im Rahmen dieser Analyse zu erörternde Problem der Parteispenden bzw. die Unterscheidung zwischen verbotenen projektbezogenen und zulässigen allgemeinen Spenden.
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2.1.4. Die Umdeklarierung der korrupten Leistung
Ein weiteres Problem stellt die Umdeklarierung der korrupten Leistung dar. Es soll vertuscht werden, welche Leistung tatsächlich erbracht und bezahlt wurde. Genauso wie kein Auftragskiller seinen Lohn als ‚Mörderentgelt’ verbuchen wird, sondern z.B. als ‚Beraterhonorar’ etc., so tarnen meist auch Klient und korrupter Agent den wirklichen Grund für einen Geldfluss, z.B. auch als ‚Beraterhonorar’ oder als Honorar für ‚Studien’.[87] In der Korruptionsuntersuchung wird dann häufig der Nachweis versucht, dass es sich wirklich nur um Scheinstudien handelt; aber dieses Vorgehen ist problematisch und zudem überflüssig.
Problematisch ist der Nachweis, weil der Begriff „Studie“ ähnlich dehnbar ist wie der Begriff „Kunst“. Und ähnlich wie die Auffassung, „Alles ist Kunst“ eine durchaus gängige Auffassung ist, so ist es bei halbwegs sorgfältiger Tarnung so gut wie unmöglich, eine Studie als wertlose Scheinstudie zu identifizieren. Zudem wäre dies selbst im Erfolgsfall bestenfalls ein Beweis für die mangelnde Qualifikation des Autors.
Überflüssig ist dieser Nachweis, weil die Qualität der Studie völlig unerheblich ist. Überhaupt ist es unwichtig, was Klient und Agent als Grund für die Gegenleistung angeben. Was zählt, ist der Zusammenhang zwischen Leistung des Agenten und Gegenleistung durch den Klienten. Denn bei Lieferung einer weiteren echten Leistung (neben der korrupten) durch den Agenten wäre schon der bloße Kauf dieser Leistung als korrupter Lohn zu werten, weil bekanntlich auch der Verkaufsakt bzw. der Auftrag an sich schon einen Wert an sich darstellt, für den Bestechungshonorar gezahlt wird.
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2.1.5. Der subjektive Faktor als Antikorruptions-Argument
Der subjektive Faktor ist für die Korruptions-Analyse im allgemeinen und auch für den Fall Leuna/Minol deshalb besonders wichtig, weil man gelegentlich mögliche korrupte Leistungen allein dadurch der Analyse entziehen will, dass man z.B. behauptet, man sei „wegen Überlastung nicht dazu gekommen“, „zu unerfahren und gutgläubig gewesen“ oder „der Komplexität der Sache nicht gewachsen gewesen“. Zugegebenermaßen ist im Einzelfall die subjektive Schuldzumessung – die Unterscheidung von Absicht, Fahrlässigkeit und Unfähigkeit – recht schwierig, aber gerade deshalb muss von ihr abstrahiert und das Problem von der Seite der korrupten Bezahlung her angegangen werden. Dies ist keine strafrechtliche Untersuchung; deshalb zählt nur die Frage, ob ein Agent einem Klienten einen Vorteil verschafft hat und davon profitiert hat. Ob der Agent dies tatsächlich aus „Gutgläubigkeit“ getan hat und demzufolge sich das Glück des korrupten Lohns gar nicht erklären kann, ist nicht Gegenstand dieser Analyse
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2.1.6. Das Problem der Geheimhaltung
Geheimhaltung wird in der gängigen Theorie als wichtiges Kriterium für Bestechung angesehen. Natürlich ist Geheimniskrämerei charakteristisch für Korruption. Wenn aber damit gemeint ist, „dass der Prinzipal von den Vorgängen grundsätzlich nichts wissen darf“[88], so ist das in dieser Allgemeinheit falsch.
Der Trend scheint eher dahin zu gehen, scheinbar offenkundige Fälle von korruptem Tausch insofern zu leugnen, dass selbst die zeitliche Nähe von Leistung (z.B. Verkauf von Staatseigentum, Kreditvergabe, Mietgarantie) und Gegenleistung (Parteispende) als „Zufall“ hingestellt wird. Besonders forsch und beleidigt abgestritten wird der Korruptionscharakter von Sachwerten. Selbst Kreuzfahrten von fünfstelligem Wert werden nicht etwa heimlich unternommen, sondern als „viel zu geringfügig“ dargestellt, als dass sie den integren Politiker in seinem Handeln beeinflussen könnten.
Am vehementesten und generell geleugnet wird der Bestechungscharakter von Parteispenden, obwohl „Landschaftspfleger“[89] wie Karlheinz Schreiber ganz offen und nachvollziehbar zugeben, dass der Spender natürlich eine Gegenleistung erwartet.
Die trotzdem noch relativ große Zurückhaltung bei der Offenlegung von Spenden hat eher zwei andere Gründe als die der Kriminalisierung: zum einen die Befürchtung von Imageverlust und im Gefolge davon auch ökonomischer Nachteile, zum anderen die Verquickung mit anderen Delikten wie Steuerhinterziehung.
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2.1.7. Die unterlassene Handlung als korrupte Leistung
Sowohl Klient als auch Agent können durch das Unterlassen bestimmter für die Gegenseite unerwünschter Handlungen ihre korrupte Leistung erbringen: Die Unterlassung einer Handlung ist auch eine Handlung.
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2.1.7.1. Die unterlassene Handlung des Agenten
Der Klient bezahlt den Agenten für die Unterlassung einer Handlung.
Beispiel 1: Ein Staatsanwalt unterlässt die Strafverfolgung. Im Gegenzug veranlasst der Beschuldigte die Beförderung des Staatsanwalts oder verzichtet auf dessen Strafversetzung. Beispiel 2: Ein Aufsichtsratsmitglied unterlässt die genaue Kontrolle von Parteifreunden im Vorstand, um sich Karrierevorteile zu verschaffen bzw. sich keine Karrierenachteile einzuhandeln.
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2.1.7.2. Die unterlassene Leistung des Klienten
Der Klient bezahlt den Agenten mit der Unterlassung einer Handlung.
Beispiel 1: Ein Beschuldigter unterlässt die Veranlassung der Strafversetzung eines Staatsanwalts und erkauft damit Verfahrenseinstellung. Beispiel 2: Ein Vorstandsmitglied unterlässt es, ein Aufsichtsratsmitglied z.B. durch private Enthüllungen hochgehen zu lassen und erkauft damit laxe Kontrollen.
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2.1.8. Der erzwungene korrupte Tausch (Erpressung)
Der Begriff „Erpressung“ im Rahmen von Korruption ist eine subjektive Kategorie. D.h. ob ein korrupter Tausch erzwungen oder freiwillig ist, kann letztlich nicht objektiv bestimmt werden. Dies klingt merkwürdig, weil z.B. die Drohung mit dem Tode der Angehörigen offenbar ungleich gravierender erscheint als die Drohung, jemanden nicht ins Kino mitzunehmen. Auch dies ist aber nur eine – wenn auch kaum in Zweifelgezogene – Annahme. Der Gesetzgeber spricht in §253 StGB von einer „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ - was ohnehin sehr ausdeutungsfähig ist – und fügt hinzu: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Das heißt: Wenn der Erpresste den Tod der Angehörigen ohnehin begrüßen würde, dafür aber eine pathologischer Kinofreund ist, wäre die Kino-Drohung für ihn die schlimmere und die Todesdrohung überhaupt kein Druckmittel. Dies aber heißt: Ähnlich wie bei der ‚normalen Bestechung’ klammert die Korruptionsanalyse auch hier das subjektive Element aus: Sonst nämlich könnte umgekehrt jeder beliebige „Landschaftspflege“ der Bestechungscharakter abgesprochen werden mit der Behauptung, einen wahren Staatsmann interessiere der schnöde Mammon in keiner Weise. Im Gegenteil: Die Korruptionsanalyse darf auch allgemein als „Bagatellen“ gewertete ‚Aufmerksamkeiten’ nicht a priori ausklammern. Wenn es um die Frage geht, ob eine bestimmte politische Entscheidung durch einen dem Politiker, der Regierung, einer Partei oder Gruppen gewährten Vorteil beeinflusst wurde.
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2.1.8.1. Der erpresste Klient – erzwungenes Schmiergeld
Beispiel: Die Regierung droht mit einem Exportverbot, falls keine „Landschaftspflege“ erfolgt.[90]. Aus der Sicht des Konzerns ist jegliche angedachte Einschränkung der Profitmaximierungsmöglichkeiten eine „Erpressung“. Sogar Schmiergeld zur Erlangung eines Staatsauftrags, den sonst ein anderer bekäme, kann als „erpresste Landschaftspflege“ angesehen werden.
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2.1.8.2. Der erpresste Agent – erzwungene korrupte Leistung
Beispiel: Der Konzern droht mit einer Kürzung oder Nicht-Erhöhung von „Landschaftspflege“, falls keine Exportgenehmigung erfolgt. Aus der Sicht der Regierung ist jegliche angedachte Einschränkung ihrer Gelder eine „Erpressung“, zu deren Vermeidung durch eine korrupte Leistung ihr keine Alternative bleibe.
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2.1.9. Der korrupte Kauf selbstverständlicher Leistungen
Der Agent nimmt Geld für Leistungen, die er normalerweise billiger oder gratis erbringen müsste. Stephen P. Riley nennt als Beispiel für diese „Privatisierung des Ermessensspielraums“.[91] Wegezölle, die die Polizei von Sierra Leone bei offiziellen Straßensperren auf eigene Rechnung erhebe.[92] Im Alltag erlebt man das, wenn ein Obolus die Bearbeitungszeit eines Antrags verkürzt, wenn man nur gegen ‚Trinkgeld’ einen Restaurantplatz oder eine Talkshow-Einladung erhält. Ebenfalls in diese Rubrik fällt der Verkauf eigentlich nicht geheimer Informationen. Sagt z. B. ein Beamter, diese oder jene (öffentlich zugängliche und nicht geheime) Akte finde er nicht, findet sie aber gegen Honorar eines Nachrichtenmagazins dann plötzlich doch, so ist dies natürlich Korruption. Grundsätzlich aber ist es unerheblich, ob der Bestechungslohn verlangt wurde oder nicht, zumal dieses Verlangen oft schwer nachzuweisen ist. Klar ist: Wenn ein Politiker für eine wie auch immer geartete Leistung eine Gegenleistung annimmt, dann handelt es sich um Korruption.[93] Diese Feststellung ist keine theoretisierende Wortklauberei, sondern auch ein praktisches Erfordernis. So spielt z.B. bei politischen Entscheidungen häufig auch die Schnelligkeit eine Rolle: Sie bedeutet für das betroffene Unternehmen bares Geld. Wenn dies auch der entscheidende Politiker weiß, dann könnte er sich ohne weiteres eine ‚zügige Entscheidung’ honorieren lassen. Nun könnte man einwenden, es handle sich nicht um Korruption, weil der Klient sowieso nur das ihm Zustehende erhalten hat. Genau dies ist aber falsch. Bestandteil des „ihm Zustehenden“ ist genau genommen auch das Bearbeitungstempo – und gerade das soll ja durch das Bestechungsgeld beeinflusst werden. Das Tempo ist also genau so eine Ermessungsentscheidung wie etwa die Auftragsentscheidung zwischen gleichwertigen Konkurrenten.
Die Kehrseite dieser Aktion ist die Nötigung des Agenten zur selbstverständlichen Leistung. Sie liegt dann vor, wenn der Klient sein legitimes Anliegen statt durch eine Belohnung durch eine Drohung untermauert. Dies wäre der Fall, wenn besagtes Unternehmen die schnelle Bearbeitung nicht durch Geld erreichen wollte, sondern mit der Drohung, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern.
Entscheidendes Motiv für den korrupten Kauf selbstverständlicher Leistung aber dürfte die Drohung bzw. Befürchtung sein, ein Konkurrent könnte mit korrupten Mitteln den Agenten beeinflussen. Markantes Beispiel ist eine Auftragsvergabe, die in eine Schmiergeld-Auktion ausartet, in der einem auch das ‚normalerweise’ beste Angebot nichts nutzt. Umgekehrt kann aber auch die einfache Bereitstellung öffentlicher Leistungen oder Erteilung von Genehmigungen gegen Bezahlung durch den Konkurrenten durchaus behindert werden
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2.1.10. Das Problem der Legalität
Einige Autoren, wie der erwähnte NPÖ-Ökonom Schwyzer, sehen als Bedingung für Korruption die Illegalität[94]. Folgerichtig landen sie bei dem Problem, dass in einigen Ländern erlaubt, geduldet oder gar gefördert wird, was in anderen Ländern als Korruption verboten ist[95] und – vor allem – „dass unter gewissen Umständen Korruption legalisiert wird oder einst legale Transaktionen plötzlich korrupt sind“.[96] Schwyzer nennt sogar ein außerordentlich wichtiges Beispiel: „Beispielsweise können Bestechungsgelder zur Finanzierung von Parteien über eine Anpassung zur Parteienfinanzierung legalisiert werden.“ Dann aber fährt er fort: „Die Gefahr der Manipulation der Rechtsordnung und damit und damit der Bestechungstatbestände dürfte insbesondere in diktatorischen Regimen gegeben sein.“[97] Und schließlich rettet er das für die praktische Politik bzw. für Rechtfertigung verdächtigter Politiker so wichtige Postulat, dass nur Korruption sein kann, was illegal ist, durch die unbewiesene Behauptung, auch die Diktatoren hätten „einen Anreiz, zumindest eine legale rechtsstaatliche Fassade zu errichten... Regeln, welche Korruption von legalen Handlungen unterscheiden, existieren deshalb“.[98]
Meiner Arbeit liegt die These zugrunde, dass Korruption im Sinne des oben vorgestellten Modells nicht im mindesten etwas mit der Frage zu tun hat, ob der Regelverstoß legal oder illegal ist. Daher wird diese Frage zunächst ausgeklammert. Umso wichtiger aber ist die Gesetzeslage allerdings für die in den Teilen D und E behandelten Fragen der Korruptionsbekämpfung und darüber hinaus für die Bestimmung der Rolle der Korruption in einer Markwirtschaft.
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2.2. Die korrupte Leistung des Agenten
Im folgenden werden die für diese Arbeit wichtigsten Formen der korrupten Leistung vorgestellt und anhand einiger Beispiele erläutert.
2.2.1. Kauf oder Verkauf zu falschem Wert
Die Bestimmung des Wertes ist selbst wieder ein Problem. Die gängige Schutzbehauptung Korruptionsverdächtiger ist es, sie hätten ein Objekt keinesfalls günstiger kaufen bzw. verkaufen können als geschehen. An dieser Stelle der Analyse wird ein ‚echter’ Wert unterstellt (wie z.B. bei Büchern in Form des festgelegten Endpreises).
Beispiele für Güter, die der Staatsagent billiger verkauft oder teurer kauft (oder mietet), sind Immobilien[99] oder Firmen sowie im Prinzip „alles was nicht angeschraubt ist“.
Beispiele für teurer gekaufte Dinge sind öffentliche Projekte, Fortbildungskurse, Gutachten, aber auch überhöhte Abfindungen (die den Freikauf von einer Verpflichtung darstellen) oder unangemessene Subventionen (die z.B. ‚Arbeitsplätze kaufen’ sollen).
Beispiele für billiger verkaufte öffentliche Leistungen sind Infrastrukturmaßnahmen[100], Steuernachlässe und Billigkredite.
Zu beachten ist, dass all diese Fehlhandlungen natürlich nicht Korruption an sich darstellen, sondern nur Aktionen, die dem Klienten nutzen. Zur Korruption werden sie durch einen - allerdings wie auch immer gearteten – Vorteil für den Agenten.
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2.2.2. Korrupter Tausch bei mehreren Interessenten
Der Agent kauft (verkauft) bei der Existenz mehrerer Interessenten vom (an den) Bestechenden. Obwohl dies eine Ermessensentscheidung ist, handelt es sich bei Annahme einer Gegenleistung um Korruption, auch wenn immer wieder beteuert wird, man hätte diese Entscheidung „sowieso“ getroffen. Wie schon gezeigt, ist auch die ‚eigentlich’ korrekte Entscheidung, wenn sie honoriert wird, eine korrupte Handlung.
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2.2.3. Willkürlicher Kauf oder Verkauf
Der Agent kauft (verkauft) Dinge, die der Prinzipal nicht unbedingt kaufen (verkaufen) wollte, um damit dem Klienten einen Vorteil zu verschaffen. Hier kann der Preis durchaus korrekt sein. Beispiel: Ein öffentlicher Bauauftrag für ein nicht (zwingend) benötigtes Projekt gegen Bezahlung durch den Bauunternehmer. Auch hier steht und fällt alles mit der korrupten Gegenleistung (was ja ohnehin die Voraussetzung für Korruption ist). Mit anderen Worten: Hat ein Politiker für die Auftragserteilung eine wie auch immer geartete Gegenleistung erhalten, ist es völlig unerheblich, ob eine neue Umgehungsstraße völlig überflüssig oder ein dringendes Verkehrserfordernis ist.
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2.2.4. Die Initiierung des Tauschgeschäfts als korrupte Leistung
Auf Korruption bei der Initiierung von Tauschverhältnissen weist u.a. die Korruptionsforscherin Susan Rose-Ackerman hin. „Korrupte Käufer und Verkäufer entwickeln oft Systeme, die sich gegenseitig verstärken und perpetuieren. Solche Systeme ... können auch so organisiert sein, dass sie beeinflussen können, welche Art Dienstleistungen und öffentliche Aufträge die öffentliche Hand vergibt.“[101] Zwar bezieht Rose-Ackerman diese Art der Korruption hier auf den öffentlichen Sektor, er ist aber natürlich auch innerhalb der Privatwirtschaft möglich. Das Besondere daran ist, dass hier erst die Möglichkeit zu einem lukrativen (korrupten oder „ehrlichen“) Geschäft erkauft wird. Beispiel: Der Agent redet dem Arbeitgeber ein, man müsse die gesamte Belegschaft mit Handys (oder alle Räume mit Kaffeemaschinen, Kühlschränken etc.) ausstatten. Davon profitiert zunächst die gesamte entsprechende Branche, ohne dass es schon geklärt ist bzw. eine Rolle spielt, welche Unternehmen die Handys (oder Kaffeemaschinen, Kühlschränke) liefern soll. Bei korrupten Geschäften mit der Politik wird diese allgemein-bestechende Funktion häufig von Lobbyisten wahrgenommen. Die „Überredung“ zur Aufweichung der Straßenverkehrsordnung, zum Bau neue Autobahnen etc. dient ja zunächst der Automobilindustrie und dem Baugewerbe allgemein: Es ist quasi ein neuer Kuchen da, um den sich die einzelnen Branchenmitglieder streiten können.
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2.3. Die korrupte Leistung des Klienten
2.3.1. Direkter materieller Bestechungslohn
2.3.1.1. Geld
Geldzahlungen scheinen sehr beliebt, sind aber wegen des Geheimhaltungsaufwands und vor allem bei Entlarvung recht problematisch, wie die großen Korruptionsskandale zeigten. Der Kausalzusammenhang mit der Gegenleistung wird auch bei zeitlicher Nähe zwar vehement, aber in den Augen der veröffentlichten Meinung häufig wenig überzeugend, bestritten. Vor allem bei Bargeld kommt an der simplen Frage, warum dass Geld nicht überwiesen, sondern „zugesteckt“ wurde, kommt meist kein Verdächtigter vorbei.
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2.3.1.2. Bezahlung nur scheinbar erbrachter Leistungen
Wie schon oben (2.1.4.) ausgeführt, wird der korrupte Lohn häufig als Lohn für eine andere, nicht wirklich erbrachte Leistung gezahlt. Dies hat den Vorteil, dass man über die Methode „Frechheit siegt“ den umdeklarierten Bestechungslohn ganz offen zahlen kann.
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2.3.1.3. Sachwerte
Sachgeschenke (z.B. Briefmarken, Kreuzfahrten) oder stark verbilligte Sachwerte (z.B. Immobilien, Mietnachlässe, Fahrzeuge, aber auch vom Klienten bezahlte Anzeigen etc.) haben den Vorteil der - wenn auch oft unverfrorenen und nicht akzeptierten - Standardausrede, es seien belanglose Kulanzen, die mit Korruption nichts zu tun hätten.
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2.3.1.4. Geldwerte Leistungen
Geldwerte Leistungen bieten sich besonders an, wenn der Klient diese Leistungen am Markt anbietet (z.B. für den Hausbau).
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2.3.2. Indirekter materieller Bestechungslohn
Indirekte Leistungen zahlt der Klient nicht an den Bestochenen, sondern an einen Dritten, der sich wiederum mit dem Bestochenen einigt. Beispiel: Ein Konzern zahlt dem Bekannten eines Bestochenen ein Stipendium oder kauft ihm ein Scheingutachten ab, und der Bestochene kassiert vom Bekannten ein Äquivalent in Form von „Beraterhonorar“, Bargeld oder Sachgeschenken. Diese Vernebelungsmethode findet ihre Grenzen nur in der Bezahlung und der Vertrauenswürdigkeit der ‚Strohleute’.
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2.3.3. Immaterieller Bestechungslohn
Wie schon erwähnt, ist immaterieller Bestechungslohn auch für die NPÖ eine durchaus harte Währung[102]. Neben „Prestige“ (persönliche Schleichwerbung) und „Macht“ zählen vor allem – als Vehikel zur Erreichung der Hauptziele - ‚Beziehungen’ (‚Vitamin B’) dazu. Der Korruptionsnachweis erscheint hier außerordentlich schwierig. Beispiel: Dem kooperativen’ Betriebsrat man kaum nachweisen können, dass sein korrupter Lohn im Kennenlernen „interessanter Leute“ mit der Folge eines Spitzenjobs in der Wirtschaft bestand. Noch drastischer ist es, wenn ein bestochener Agent als Lohn in die Firma des Bestechenden übernommen wird.
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2.4. Die pauschale Bestechung des Agenten
Bei längeren Geschäftsbeziehungen kann der Klient den Agenten durch regelmäßige Geld- oder Sachgeschenke zu regelmäßigen korrupten Leistungen bewegen. Beispiele wären vierteljährliche Pauschal-Zahlungen eines Lieferservice an einen für die Essensbestellungen zuständigen Firmen-Mitarbeiter. Der Regelverstoß liegt auch ohne Kompetenzüberschreitung darin, dass sich der Mitarbeiter durch die Zahlung zur Bevorzugung dieser Lieferfirma gegenüber Konkurrenzfirmen bewegen lässt.
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2.5. Kickback
Unter Kickback versteht man eine „Provision“ vom Bestechungsgeld, das der Agent des Klienten einstreicht: der Bestochene belohnt den Prokuristen für das Zustandekommen des korrupten Tausches. Es ist dies der korrupte Eingriff in einen korrupten Eingriff. Nun erscheint also der korrupte Agent seinerseits als Klient, der den Agenten des ihn bestechenden Klienten besticht.
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TEIL B: Der korrupte Eingriff in den Staat
1. Der korrupte Eingriff in die Politik
Politische Entscheidungen sind durch Bestechung direkt (also unabhängig von gekaufter öffentlicher Meinungsmache etc.) manipulierbar, und zwar durch Kauf (oder Erpressung) der Entscheidungsträger.
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1.1. Die Agenten: Parteien und Politiker
1.1.1. Der Politiker als „homo oeconomicus“
Entsprechend dem universellen Anspruch der NPÖ und ihres Ansatzes des „homo oeconomicus“ ist der Mensch auch als im Staatsauftrag Tätiger zunächst ein ‚rationaler’ Egoist, also auf Eigennutz-Maximierung bedacht.
Von Alemann/Kleinfeld[103] greifen auf die allgemeine Definition des Historikers Jacob van Klaveren zurück[104]: „Unter Korruption wollen wir also verstehen, dass ein Beamter sein Amt als Betrieb betrachtet, dessen Einnahmen er im Extremfall zu maximieren versucht. (...) Die Höhe der Einnahmen hängt dann also nicht ab von einer ethischen Einschätzung seiner Nützlichkeit für das Gemeinwohl, sondern eben von der Marktlage und von seiner Geschicklichkeit, den Maximumgewinnpunkt auf der Nachfragekurve des Publikums herauszufinden.“[105]
Wie schon gezeigt, gibt es allerdings Unterschiede in der Interpretation des eigennützigen Ziels. Einige Vertreter beschränken Eigennutz auf Habgier nach Materiellem. Folglich ist für sie, wie etwa für Streissler, die Korruption ein „einfacher Anwendungsfall der Preistheorie“[106].
Entsprechend erscheint Korruption als „ein Tauchgeschäft zwischen einem Korrumpeur und einem Korrumpierten, die über unterschiedliche Güter oder Chancen verfügen: Der Korrumpeur meist über Geld oder Naturalien, der Korrumpierte meist über mehr Macht, dank derer er etwas zu vergeben hat, sei es nun einen Auftrag, eine Stelle oder ein Amt“.[107]
Allerdings ist die Reduktion des Eigennutzes von Politikern und Parteien auf rein Materielles mitnichten ‚im Sinne des Erfinders’ Anthony Downs: Ihr Motiv sei (wie bereits zitiert) „ihr persönliches Verlangen nach Einkünften, Prestige und Macht.“[108]. Immaterielle Tauschobjekte werden also durchaus als gleichwertig anerkannt. Polemisch könnte man sagen: Die Einschränkung des Eigennutzes auf das Materielle rückt den „rationalen Egoisten“ in die Nähe eines geistig und kulturell unterbelichteten Kretins, der seinen Egoismus tatsächlich ausschließlich mit Geld und Sachwerten befriedigt und sich gar nicht vorstellen kann, dass sich ein nicht minder rationaler und eigennütziger Akteur im Zweifelsfall lieber für das Kanzleramt und den Nobelpreis als für den Geldkoffer oder die Hochseejacht entscheidet. Fatal für die Analyse wird diese Einschränkung aber dadurch, dass konsequenterweise immaterielle Bezahlung gar nicht als solche und damit auch nicht als Bestechungslohn wahrgenommen wird.
Helmut Kohls Ex-Büroleiter, der Politologe und Journalist Wolfgang Bergsdorf, sieht das Verhältnis sogar tendenziell umgekehrt: „Wer sich für die Politik entscheidet, darf nicht die Hoffnung haben, sein Einkommen zu maximieren zu können. Der größere Teil seines Honorars besteht in der Teilhabe an der politischen Macht, die ihre eigene politische Ausstrahlung hat. Dazu gehört Publizität, die von vielen genossen wird, auch politische Lebenserfahrung, die man in der Politik erwirbt, ob man es will oder nicht.“[109]
Interessanterweise relativiert Downs sogar seinen um das Immaterielle erweiterten Eigennutz-Begriff. Zwar begründet er ihn prinzipiell mit Adam Smith[110]: „Nicht von der Güte des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeiten, sondern von deren Rücksicht, die jene auf ihr eigenes Interesse nehmen.“[111] Aber er erläutert relativierend: „In keinem Lebensbereich ist eine Beschreibung menschlichen Verhaltens vollständig, wenn sie den Altruismus übergeht; jene, die ihn besitzen, zählen zu den heroischen Gestalten, die von den Menschen bewundert werden.“[112] Sollte das nicht sarkastisch gemeint sein, worauf nichts hinweist, dann ist dies die Andeutung, dass Eigennutz speziell unter markwirtschaftlichen Bedingungen ‚rational’ im Sinne von ‚existenznotwendig’ ist, keinesfalls aber “allgemeingültig“‚ „angeboren“ oder wünschenswert.[113]
Noch differenzierter scheint der Begriff „Politisches Unternehmertum“ von Joseph A. Schumpeter[114], der zu den Grundbedingungen für ein erfolgreiches Wirken u.a. moralische Integrität, einen gut ausgebildeten, verantwortungsbewussten und angesehenen öffentlichen Dienst, funktionierende demokratische Selbstkontrolle, die Ausgrenzung politischer Abenteurer und verantwortungsvollen Umgang mit der Regierungsverantwortung zählt.[115]
Ob aber der Eigennutz des Politikers nun „zeitlos allgemeingültig“ oder nur auf Marktwirtschaften bezogen als Haupttriebkraft seines Handelns angesehen wird, ist für diesen Abschnitt der Analyse nebensächlich. Es kam darauf an, den an Egoismus und Eigennutz anstatt an Altruismus und Gemeinwohl orientierten Menschen, den „homo oeconomicus“, als Heuristik für die Korruptionsanalyse abzuleiten.
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1.1.2. Die Partei als „Egoistenverein“
Auf der Basis des Eigennutz-Axioms erscheint die Partei als eine Art ‚Egoisten-Verein.’ Wie banal sich das teilweise äußert, zeigt das Beispiel der mit Einkaufsrabatten bei diversen Partner-Unternehmen verbundene „SPD-Card“ für Parteimitglieder[116] . Man könnte boshaft fragen, welche Zielgruppe das ist – und man als Mitglieder erhält - die ihren Parteieintritt von einer verbilligten Urlaubsreise abhängig macht. Jedenfalls handelt es sich um unpolitische Werbung, was die Frage aufwirft, welche Bedeutung das politische Programm für die Mitglieder überhaupt hat.
Downs sagt dazu: „Parteimitglieder haben als Hauptmotiv den Wunsch, sich die mit dem Regierungsamt verbundenen Vorteile zu verschaffen; daher streben sie nicht die Regierung an, um vorgefasste politische Konzepte zu verwirklichen, sondern formulieren politische Konzepte, um an die Regierung zu kommen“[117]
Dies führt zu zweierlei Konsequenzen:
1. für die Partei als Gruppe. Downs folgert ebenso unverblümt wie logisch: „Unsere Hauptthese lautet, dass die Parteien in der demokratischen Politik den Unternehmen in einer auf Gewinn abgestellten Wirtschaft ähnlich sind. Um ihre privaten Ziele zu erreichen, treten sie mit jenen politischen Programmen hervor, von denen sie sich den größten Gewinn an Stimmen versprechen, so wie die Unternehmer... diejenigen Waren produzieren, von denen sie sich den meisten Gewinn versprechen.“[118]
2. für das Verhältnis der Mitglieder zur Partei bzw. untereinander. Von Alemann schließt sich dabei „ganz unbefangen“[119] der These des Fraenkel-Schülers und Politologen Winfried Steffanis an: „Parteien sind Interessengruppen in eigner Sache, die an politischen Führungsaufgaben interessierten Bürgern Karrierechancen eröffnen.“[120] Daraus ergeben sich weitere Problemstellungen:
a) zum Verhältnis von einfachem Parteimitglied (Parteibasis) und Parteiführung. Nicht alle sind oder werden Parteimitglied, um Reichtum, politische Macht, außerpolitische Karrierevorteile[121] oder Ruhm zu erwerben, obwohl sie – was trivial ist – ebenfalls einen Nutzen von der Mitgliedschaft anstreben. Viele versprechen sich als ‚rationale Bürger’[122] (genauso wie Wähler) eine individuelle Nutzenmaximierung als Bürger (wie etwa Unternehmer in einer Unternehmerpartei oder Arbeitnehmer in einer Arbeitnehmerpartei) oder verfolgen nicht eigennützige Ideale, ohne an eine Parteikarriere zu denken; und dann würde die Ideologie doch wieder eine Rolle spielen. Während vom Karrieristen nämlich angenommen wird, dass ihm die jeweilige Parteilinie – z.B. für oder gegen Krieg, oder Sozialbau – persönlich egal und nur als Mittel zur Wählergewinnung wichtig ist, dürfte die Parteilinie für den „Selbstverwirklicher“ keineswegs irrelevant sein, also ob er in einer Unternehmerpartei über Möglichkeiten des Steuerbetrugs oder in einer Arbeitnehmerpartei über soziale Gerechtigkeit diskutiert.
Das heißt aber für die Korruptionsanalyse: Setzt man einmal – auch wenn das natürlich nicht exakt der Realität entspricht[123] – die Karrieristen mit Parteispitze und die Nicht-Karrieristen mit Parteibasis gleich, dann ergibt sich folgendes Bild:
aa) Die pauschale Bestechung einer Partei richtet sich de facto an die Parteispitze; denn die Parteispitze hat für die korrupte Leistung der Partei zu sorgen.
bb) Dafür muss sich die Parteispitze von der Basis in entsprechende Positionen wählen lassen bzw. gegebenenfalls die Zustimmung zu Einzelhandlungen holen[124]. Dadurch wird sie als Agent der Partei legitimiert.
cc) Die Basis hat damit lediglich die Funktion von „Stimmvieh“. Sie ist in keiner Weise „Geschäftspartner“ des Korrumpeurs.
dd) Profiteur der Bestechung einer Partei ist im Kern die Parteispitze.
ee) Die Basis bzw. das nichtkarrieristische einfache Parteimitglied profitiert von der Bestechung nur vermittelt: wenn z.B. vom Bestechungsgeld Parteibüros renoviert werden oder – sollte der korrupte Lohn eine Regierungsbeteiligung sein - durch die subjektive Freude am Machtzuwachs der eigenen Partei und entsprechende Erwartungen zur Verbesserung der eignen Lage.
Hier zeigt sich aber die Begrenztheit der NPÖ: Die Selbstsucht als allgemeine Triebfeder ist zu allgemein und unausgewiesen. Denn nach dieser Sichtweise können sämtliche Parteimitglieder als gleichermaßen korrupt dastehen. Derartige Versuch aber, jedwede Motive einschließlich von offensichtlich altruistischen als letztendlich gleichermaßen egoistische darzustellen, enden in tautologischen Spitzfindigkeiten und Fehlanalysen. Denn ein vom einfachen Parteimitglied eingegangener politischer Kompromiss kann unter dem Gesichtspunkt der besseren Durchsetzung seiner politischen Gesamtziele durchaus vernünftig sein. Natürlich kann man ohne weiteres die Volksweisheit „Jeder hat seinen Preis“ mathematisch darstellen und auch hier anwenden. Dass eine solche Aussage aber im Rahmen der NPÖ durchaus korrekt ist, bestätigt die Grundkritik: Korrekt, aber oft unbrauchbar. Festzuhalten bleibt: Weil nicht die Partei, sondern die Parteispitze den korrupten Vertrag geschlossen hat und von ihm profitiert, begeht die Parteispitze einen Regelverstoß gegenüber der Gesamtpartei.
b) zum Verhältnis der Parteispitze untereinander. Entsprechend obiger Annahme besteht die Parteispitze aus Karrieristen, die ihr persönliches Ziel am besten erreichen zu können glauben, wenn sie mit ihren Parteispitzenkollegen, die ja von Wesen her ihre erbitterten Konkurrenten sind, kooperieren. Diesen Sachverhalt – zeitweilige notgedrungene Kooperation bei prinzipieller Konkurrenz, bezeichnet also das schon beschriebene „Gefangenendilemma“ der Institutionenökonomik[125]. Der einzelne Karrierist muss eine Vielzahl von Überlegungen zur eigenen Nutzenmaximierung anstellen, die sich von den fiktiven Überlegungen der Gesamtpartei und der Gesamtparteispitze unterscheiden z.B.:
aa) unter der Bedingung, dass eine Regierungsbeteiligung, bzw. ein Meinungsschwenk vom Wähler honoriert würde: Wird sie auch von der Basis - gegenüber der Parteispitze und gegenüber ihm selbst - honoriert?
bb) Stärkt oder schwächt die Aktion seine Stellung in der Parteispitze?
cc) Könnte es für ihn vorteilhaft sein, wenn die Partei in eine Krise gerät?
dd) Fördert oder behindert seine Stellung in der Parteispitze seine Nutzenmaximierung? Wäre ein Amtsverzicht besser?[126]
ee) Stärkt die Aktion seine eigne und der Partei Attraktivität als Korruptionspartner?
ff) Ergeben sich gesonderte Kooperationsmöglichkeiten innerhalb der Parteispitze (Flügelkämpfe)?
gg) Erscheint ihm die Ausnutzung seiner Führungsposition für außerpolitische Nutzenbefriedigung erstrebenswerter?[127]
Es zeigt sich, dass auf Basis des Eigennutz-Axioms die Ideologie für eine Partei ebenso wie für den politischen Karreristen keinen „Wert an sich“, sondern nur ein beliebig austauschbares Mittel zum Stimmenfang ist. Ebenso klar ist aber, dass die institutionenökonomische Anwendung auf Realanalysen, insbesondere konkrete Korruptionsanalysen, ein offenes Einfallstor für pauschale Verdächtigungen und entsprechend für pauschale Zurückweisungen bietet.
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1.1.3. Die Grenzen des Eigennutz-Axioms
Da die NPÖ den uneigennützigen Akteur als ‚irrational’ ausblendet, erlangt das Eigennutz-Axiom des Status einen Freibriefs für Spekulationen. Es ist kein Wunder, dass eine Theorie mit Phänomen, die man apodiktisch ignoriert, im Falle ihres Auftauchen nichts anfangen kann. Nicht erfasst werden z.B. die politischen „Überzeugungstäter“. Beispiel: Ein Politiker, der ehrlichen Herzens davon überzeugt ist, im Interesse des freien Westens, der freien Wirtschaft und damit der Menschheit müsse man den Tod von Frauen und Kindern unter „Kollateralschaden“ („dumm gelaufen“) abhaken, braucht dazu nicht notwendiger Weise „Beraterhonorar“ von der Rüstungsindustrie, Amt und Würden eines Verteidigungsministers oder einen Spitzenplatz in der Beliebtheitsskala. Die NPÖ steht gegenüber einem solchen Politiker – und darüber hinaus jedem Politiker – vor der intellektuell peinlichen Situation, ihm seine Integritäts-Beteuerung zu glauben oder nicht. Eine Klärung müsste sie der Kriminalistik übergeben und damit jenen Anspruch aufgeben, der ja nach dem Selbstverständnis ihrer Vertreter ihr Wesen ausmacht: Nämlich jedes Problem dieser Welt ohne die methodische Hilfe irgendeiner anderen Wissenschaft lösen zu können. Die Folge: Wenn man die Frage des Altruismus oder Egoismus kriminalistisch und gerichtstauglich beweisen muss - wozu braucht man dann die Institutionenökonomik?
Benutzt man das Eigennutz-Axiom – oder die These vom „personifizierten Kapital“ – dagegen für die Strukturanalyse, so kommt man gar nicht erst in die Verlegenheit des Einzelnachweises. Dann kann man die Frage z.B. so stellen, welche Entscheidungen eine Partei, eine Parteispitze oder eine Regierung) in bestimmten Zeiträumen getroffen haben und wie sie und ihre Mitglieder davon profitiert haben. Ein Beispiel: Eine Testabstimmung unter 100 Abgeordneten ergibt 2 Gegenstimmen oder 90 Gegenstimmen. Es wäre unverantwortlich und erst recht nicht wissenschaftlich, bestimmten Abgeordneten willkürlich die Gegenstimmen zu unterstellen. Für die Analyse aber wäre die SICHERE Feststellung über 2 oder 90 Gegenstimmen von höchster Wichtigkeit.
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1.1.4. Der Eigennutz der Regierung
Der Eigennutz der Regierung wird hier nicht gesondert behandelt, da er sich im wesentlichen analog zu dem der Parteispitze ableitet. Dies gilt insbesondere für die Ablehnung der These der traditionellen Wirtschaftstheorie, „dass sowohl die soziale Funktion als auch der private Beweggrund der Regierung in der Maximierung des sozialen Nutzens oder der sozialen Wohlfahrt bestehen“[128], und für die Gegenthesen, dass das Hauptmotiv der Regierung „Maximierung der Stimmen, nicht des Nutzens oder der Wohlfahrt“[129] sind und dass „die Regierenden... eine Partei (darstellen), die mit anderen Parteien um die Beherrschung des Staatsapparates im Wettstreit steht.“[130]
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1.2. Das Verhältnis des Agenten zum Prinzipal
Nachdem eben die vom Eigennutz abgeleiteten Interessen der Politiker, Parteien und Regierungen betrachtet wurden, ist nun ihre Stellung innerhalb des Schemas Prinzipal – Agent – Klient zu analysieren.
1.2.1. Die Klassifizierung der Verträge des Agenten
Offenbar unterhält der Politiker Verträge[131] mit mehreren Partnern, aus denen sich Verpflichtungen ergeben.[132] Im Folgenden werden am Beispiel eines Ministers mit Abgeordnetenmandat die wichtigsten dieser Verträge bzw. der Vertragspartner klassifiziert: Die Verfassung, das Gewissen, die Gesellschaft, das Gemeinwohl, der Wähler, der Regierungschef, die Regierung, die Parteispitze und die Parteibasis.
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1.2.1.1. Die Verfassung
Nach Artikel 38 GG ist der Abgeordnete ein „Vertreter des ganzen Volkes, der an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen ist“. Diese Formulierung ist schwammig - wer außer dem Abgeordneten selbst will beurteilen, ob er sich gewissensgetreu verhält? Wie will man also jemals einen Verstoß, geschweige denn eine korrupte Handlung nachweisen? Ganz offenbar erhält „Gewissen“ die Bedeutung von „Gutdünken“. Lässt man den gesamten staatsrechtlichen Aspekt außer Acht, dann ist dieser Paragraf, der nichts anderes darstellt als den allen anderen Verträgen übergeordneten Vertrag des Agenten mit dem Prinzipal, ein Freibrief für jegliches Handeln, sofern es sich im Rahmen von Recht und Gesetz bewegt. Hinzu kommt: Dieser Vertrag ist in keiner Weise sanktions- oder strafbewehrt.[133] Dasselbe gilt entsprechend für den Amtseid der Regierungsmitglieder nach Artikel 56 GG[134].
Dies könnte zu dem Schluss verleiten, der Abgeordnete bzw. Minister habe zwar einen Vertrag mit dem „ganzen Volk“, könne aber nahezu jede Handlung als vertragskonform ausgeben, sei also de facto ungebunden und könne einfach Verträge mit Dritten eingehen. Aber dem ist nicht so. Vielmehr ist zu prüfen, ob es sich bei den anderen Beziehungen tatsächlich um Verträge handelt und ob sie Regelverstöße gegenüber dem Vertrag mit dem Prinzipal „ganzes Volk“ darstellen.
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1.2.1.2. Das „ganze Volk“
Die Verpflichtung auf das „ganze Volk“ impliziert ein Neutralitätsgebot, also das Verbot der Bevorzugung einzelner und einzelner Gruppen[135] bzw. entsprechender Verträge. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht für den Einzelfall, sondern nur für bestimmte Zeiträume oder Gesamtzusammenhänge gelten kann. Beispiel: Die Besetzung eines Referatsleiterpostens mit einem männlichen SPD-Mitglied wäre keine Bevorzugung des Geschlechts oder einer Partei, die Besetzung aller zehn Referatsleiterposten mit männlichen SPD-Mitgliedern dagegen schon.
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1.2.1.3. Das Gemeinwohl
Aus der in Teil A 1.4. („Interessenidentität von Kapital und Gesellschaft“) vorgenommenen Interpretation des Begriffs „Gemeinwohl“ könnte man folgern, dass Abgeordnete und Regierungen zur Wahrnehmung von Kapitalinteressen geradezu verpflichtet wären. Aber unabhängig davon gilt auch hier, analog zur Verpflichtung gegenüber dem „ganzen Volk“, das Neutralitätsgebot, also der Neutralität gegenüber den einzelnen Unternehmern, Branchen und Firmen. Festzuhalten ist: Gerade um das „Gemeinwohl“ drehen sich aber die Hauptauseinandersetzungen in der praktischen (wie auch in der theoretischen) Politik. So kann Gemeinwohl als identisch mit „Kapitalwohl“ (vgl. Teil A 1.4.) begriffen werden, da es der Gemeinschaft nur gut gehe, wenn es der Wirtschaft gut gehe. Gemeinwohl kann aber auch als subjektiv empfundenes „Mehrheitswohl“ bzw. „Wählerwohl“ (vgl. Teil B 1.2.1.4.) verstanden werden, da die Mehrheitsmeinung ein immer noch besseres Kriterium sei als gar kein Kriterium Daher ist „Gemeinwohl“ also letztlich „Ansichtssache“ und somit kein geeigneter Maßstab zur Beurteilung konkreter politischer Handlungen.
Der Begriff ist aber noch unter einem anderen Aspekt zu problematisieren. So sieht Hans Herbert von Arnim in der Verpflichtung auf das Gemeinwohl den Gegenpol zur „Demokratie im Sinne von Selbst- beziehungsweise Mitentscheidung des Volkes (Partizipation).[136] Sie sei „der Versuch, den Interessen und Belangen des Volkes unabhängig[137] von seinem Willen Geltung zu verschaffen.[138] Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: „Natürlich kann das Gemeinwohl in einer echten Demokratie niemals der alleinige Grundwert sein.“[139] Er verweist auf das BVG-Urteil zum KPD-Verbot: "In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert ... Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das, dass es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von 'Untertanen' zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg zu öffnen."[140] So aber stellt sich nach von Arnim die Frage anders: „Der Inhalt dessen, was den Amtsträgern als Gemeinwohl aufgegeben ist, ist undeutlich und vage. Klar ist nur, dass das Repräsentationsprinzip eine Motivation fordert, die das Gegenteil vom Streben nach eigenem Nutzen ist. Ist diese Voraussetzung in der Praxis gegeben oder geht im Kollisionsfall meist der Eigennutz vor? Kann man wirklich erwarten, dass Amtsträger sich „irgendwie“ an jene Verpflichtung halten, oder wird diese Erwartung zunehmend zum reinen Wunschdenken, das die eigentlichen Probleme zukleistert?“[141]
1.2.1.4. Der Wähler
Der Wähler wird hier verstanden als Bürger, der den Politiker gewählt hat oder dessen Stimme der Politiker gewinnen will.[142] Laut NPÖ denkt auch der Wähler nur an seine eigne individuelle Nutzenmaximierung.[143] Einfach ausgedrückt: Er erwartet, dass es ihm selbst möglichst gut geht und die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Für altruistische „irrationale“ Ziele ist er nicht empfänglich.[144] Diese Konstellation, das Aufeinandertreffen zweier am Eigennutz interessierter Akteure, bietet eigentlich die ideale Voraussetzung für korrupten Tausch. Dabei aber wird oft die Wählerbestechung in den Vordergrund gerückt[145], und tatsächlich gibt es nicht nur skurrile Einzelfälle des direkten Stimmenkaufs[146], sondern auch und häufig den Vorwurf der Wählerbeeinflussung durch „Wahlgeschenke“. So wurde der rotgrünen Regierung ein Gesetz gegen Schwarzarbeit als „schönes Wahlgeschenk“ für die Gewerkschaft ausgelegt.[147]
Wenngleich diese Sichtweise plausibel erscheint: Die umgekehrte Sichtweise erscheint im Rahmen der Korruptionsanalyse zweckmäßiger. Demnach hätte der Klient Gewerkschaft die Regierung zu diesem Gesetz bestochen, und zwar mit dem unausgesprochenen Versprechen, ein Teil der Gewerkschaftsmitglieder würde dann eher rotgrün wählen. Das heißt, so eigenartig es klingt: Wahlgeschenke sind per definitionem die Bestechung der Schenkenden durch die Beschenkten. Wichtig – auch für die Analyse des Leuna/Minol-Geschäfts[148] – ist die Feststellung, dass die Frage, wer wen besticht, letztlich vom Blickwinkel der Analyse abhängt. Das resultiert daraus, dass man bei jedem Tausch das eine als Leistung und das andere als Gegenleistung werten kann und umgekehrt.
Nicht unmittelbar einleuchtend ist das Resultat, dass nämlich Entscheidungen der Regierung zugunsten ihrer Wähler Politische Korruption darstellen, weil doch genau dies die Wähler erwarten (dürfen). Dazu ein extremes Beispiel: Eine Partei verspricht, im Falle eines Wahlsieges werde sie Rentnern, Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen und Beamten ein Existenzminimum von 20.000 Euro zahlen. Die Parteimitglieder in der Regierung aber wären mit ihrer Vereidigung eben nicht mehr dieser Wählergruppe, sondern dem „ganzen Volk“ verpflichtet. Die Einhaltung des Wahlversprechens wäre demnach die Erfüllung einer Verpflichtung aus einem korrupten Tausch; und schon das Wahlversprechen wäre korrupt. Daraus aber folgt, dass sämtliche an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (Klientel) gerichteten Wahlversprechen korrupt sind. Darauf könnte entgegnet werden, dass es ja gerade Sinn unterschiedlicher Parteien ist, unterschiedliche Gruppen zu vertreten und es also folgerichtig ist, dass eine von der Mehrheit gewählte Regierung die Mehrheitswünsche umsetzt[149] ; und die Frage ist, ob dieses offensichtliche Problem ein Problem des Analyse-Ansatz oder ein Problem des gesellschaftlichen Systems selbst ist. Ich vertrete die Auffassung, dass es sich nicht um ein Problem des Analyse-Ansatzes handelt und auch nur in zweiter Linie um ein juristisches Problem, sondern dem Wesen nach um ein Problem der Marktwirtschaft, also der Warentauschgesellschaft.
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1.2.1.5. Der Regierungschef bzw. die Regierung
Genauso wenig wie ein Angestellter mit dem Abteilungsleiter zum gemeinsamen Vorteil und zu Lasten des Betriebes kooperieren darf, so wenig darf ein Minister mit dem Regierungschef zu Lasten des Prinzipals „ganzes Volk“ kooperieren. Natürlich ist der Regierungschef – wie der Abteilungsleiter – weisungsbefugt, aber Prinzipal ist nicht er, sondern das „ganze Volk“. Dies hindert den Regierungschef aber nicht daran, als Klient aufzutreten und den Minister als Agenten des ‚ganzen Volkes’ zu bestechen. Beispiel: Der Regierungschef sichert dem Minister (oder dem Abgeordneten) einen Platz im neuen Kabinett zu, wenn er als Propagandist des Regierungschefs agiert. Organisierte Beziehungsgeflechte dieser Art nennt man „Hausmacht“, „Seilschaft“ oder sogar „Mafia“. Besonders evident wird der korrupte Charakter dieses Tausches, wenn es z.B. um Propaganda für einen Regierungsbeschluss geht, für den der Regierungschef bzw. die Regierung ihrerseits von privat geschmiert wurden[150].
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1.2.1.6. Parteispitze, Fraktionsspitze und Fraktion
Parteispitze, Fraktionsspitze und Fraktion werden gemeinsam behandelt, weil sich das Problem für den Minister oder Abgeordneten gegenüber allen drei Gruppen gleich darstellt und so ähnlich wie gegenüber den Wählern: Seine Position verdankt er Leuten, die bestimmte Ziele damit verbinden. Nun aber ist er gesetzlich nur noch dem Gewissen bzw. dem ‚ganzen Volk’ verpflichtet. Der Abgeordnete wäre ‚nichts’ ohne diese Gruppen. Macht ein Minister oder Abgeordneter von seinem Recht auf Gewissensentscheidung Gebrauch und entscheidet er gegen den Wunsch der Partei- oder Fraktion(spitze), drohen Sanktionen seitens Parteispitze und Fraktionsspitze.[151] Entscheidet ein Minister oder Angeordneter aus dem eigennützigen Karriere-Motiv heraus, so ist dies eine korrupte Handlung, auch dann, wenn dies nichts nützt oder überflüssig ist.[152] Auch hier droht wieder Verwirrung durch das subjektive Moment und die Frage der Kausalität. Aber diese Fragen sind hier ‚auszublenden’: Wichtig für diese Stufe Analyse ist die korrupte Konstellation, also der mögliche korrupte Tausch, nicht der vollzogene. Das heißt: Auch wenn noch nie irgendein Fraktionsvorsitzender oder Parteiführer einem Abgeordneten für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Partei- oder Fraktions“wunsch“ mit Sanktionen gedroht und damit den korrupten Tauch geradezu lehrbuchmäßig angemahnt hätte, auch dann besteht für jede Konstellation dieser Art die Möglichkeit eines korrupten Tausch. Es bedarf keiner Erläuterung, dass eine derartige korrupte Konstellation als solche – unabhängig von der Art und Häufigkeit ihren realen Umsetzung – als Korruption und gegebenenfalls als korruptes System zu werten ist. Basiert ein parlamentarisches System auf diesen Abhängigkeiten von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten von ihren Parteien und Fraktionen bzw. deren Spitzen, dann kann man insoweit von einem korrupten System sprechen.
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1.2.1.7. Die Parteibasis
Mit der Parteibasis verhält es sich ähnlich wie mit den Wählern: Sie hat dem Abgeordneten (und im weiteren Sinne auch dem Regierungsmitglied[153] ) zu seiner Position verholfen, und er ist von ihr abhängig. Auch dies ist folglich eine korrupte Konstellation, d.h. es ist dem Abgeordneten möglich, aus ureigensten Interesse und ohne Berücksichtigung der Interessen des Prinzipals „ganzes Volk“ mit der Basis einen korrupten Tausch etwa nach dem Motto ‚populäre Forderungen gegen Nominierung’ zu vollziehen.
Ein zusätzliches Dilemma besteht dann, wenn Wähler und Parteibasis unterschiedliche Erwartungen hegen. Dies ist häufig bei radikalen Kurswechseln einer Partei der Fall, wie dies z.B. den bei den Grünen[154], im Zusammenhang mit dem Regierungsbeitritt 1998 oder der PDS[155] zu konstatieren ist. Das Regierungsmitglied oder der Abgeordnete ist möglicherweise unsicher, ob er mehr seinen Wählern oder der Parteibasis verpflichtet ist. Aufgrund des bisher Festgestellten ist aber klar, dass er letztlich weder der Basis noch dem Wähler verantwortlich ist, sondern eben dem „Gemeinwohl“ und dem „Gewissen“.
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1.2.1.8. Die „vier Loyalitäten“
Im Widerspruch zum bisher Entwickelten wird das Problem teilweise als „Loyalitätskonflikt“ und der Politiker quasi als „Diener mehrerer Herren“ dargestellt, denen grundsätzlich die gleichen Rechte zugebilligt werden. In dem vom Juristen Günter Tondorf herausgegebenen Werk „Staatsdienst und Ethik: Korruption in Deutschland“ von 1995 findet sich ein interessanter Aufsatz des damaligen Geschäftsführers und späteren Chefs der Kölner SPD-Ratsfraktion, Norbert Rüther. In dem Aufsatz „Versuche zu einer Ethik kommunalpolitischen Handelns“[156] entwickelt er eine Theorie der „vier Loyalitäten“[157]. Die ersten beiden „Loyalitäten“ sieht er in „dem abstrakt zu definierenden Gemeinwohl und dem konkret nachzuvollziehenden programmatischen Entwurf einer Partei“.[158] In diese „Loyalitäten“, also gegenüber dem „ganzen Volk“ und gegenüber seiner Partei“ ist der Politiker „in seinem alltäglichen Handeln... grundsätzlich gestellt“, Aber dazu kommt noch eine „Loyalität“ gegenüber „einem bestimmten Sektor der Gesellschaft, dessen Interessen ihm näher liegen als die anderen Bereiche. Da reicht die Bandbreite vom Gewerkschaftsmitglied, das in seinem Betrieb langjähriger Betriebsratsvorsitzender ist bis zum Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer.“[159] Die vierte „Loyalität“ „ist die Loyalität, die das gewählte Ratsmitglied zu sich selbst – und damit seinen eignen Interessen gegenüber hat“.[160] Innerhalb dieses „Loyalitätskonflikts“ setzt Rüther Prioritäten. „In einer individualistisch-egoistischen Wohlstandsgesellschaft ist die Problematik ‚Wie viel verdient jemand am Mandat’ für viele Bürgerinnen und Bürger und die Medien häufig die entscheidende Frage nach der Motivation zur Übernahme eines kommunalen Mandates.“[161] Unmissverständlich sagt Rüther: Es gilt, um eine Ethik kommunalpolitischen Handelns zu entwickeln, insbesondere die Problematik der ‚vierten Loyalität’ aufzuarbeiten. Dabei sind selbstverständlich Querverbindungen zur ‚dritten Loyalität’ gegeben. Die erste und zweite Loyalität (Gemeinwohl und Programmausrichtung) werden von dieser Problematik eher weniger berührt.“[162] Mit anderen Worten: Rüther sieht in dem Vertrag mit dem Prinzipal „ganzes Volk“ lediglich eine „abstrakt zu definierende“ Verpflichtung, die – ebenso wie die Loyalität gegenüber den Zielen seiner Partei - zurücktritt hinter dem Eigennutz unter Berücksichtigung seiner „Bereichs“-Zugehörigkeit. Genau genommen ist das die theoretische Begründung einer „Seilschaft“: An erster Stelle der „Loyalitätenliste“ steht der Politiker selbst, gefolgt vom „Bereich“; erst dann kommt die Partei und ganz am Ende das „ganze Volk“. Rüther selbst hat seine Theorie eindrucksvoll umgesetzt: Gegen ihn wurde am 14.. Juni. 2002 Haftbefehl wegen Bestechlichkeit erlassen, weil er im Zusammenhang mit dem Kölner „Klüngel-Skandal“ zwei Mio. DM Schmiergelder angenommen haben sollte.[163]
Es wird in dieser Arbeit nicht behauptet, dass theoretische Unklarheit darüber, dass die Amts- bzw. Mandatsträger vorrangig dem Prinzipal „ganzes Volk“ verpflichtet sind, zwangsläufig in die Kriminalität und ins Gefängnis führt. Fest steht aber, dass man Rüther keinesfalls „theoretische Heuchelei“ vorwerfen kann. Sein Ansatz ist vielleicht keine Anleitung, in jedem Fall aber eine Rechtfertigung der ihm zur Last gelegten Handlungen.
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1.2.2. Die Leistung des Prinzipal an den Agenten
1.2.2.1. Diäten
In seinem „Diäten-Urteil“[164] von 1975 nannte das BVG als oberstes Ziel, den Abgeordneten „für die Dauer ihrer Zugehörigkeit zum Parlament eine ausreichende Existenzgrundlage“ und damit ihre die politische Unabhängigkeit zu sichern. Dies klingt vernünftig, birgt aber auf Grundlage des Eigennutz-Axioms ein beträchtliches Problem. Die Diäten sind das Gehalt das der Abgeordneten[165], und wie alle ‚rationalen’ Agenten fragen sie sich, ob es nicht irgendwo noch etwas dazuzuverdienen gibt. Diese Frage sollen Diäten überflüssig machen. „Sie sollen nicht darauf angewiesen sein, dazuzuverdienen.“[166] Anders ausgedrückt: „ Unabhängigkeit muss sich wieder lohnen“.[167] Es ist nur so, dass die Redwendung, „jemand könne seinen Hals nicht voll genug kriegen“, durchaus eine (wenn auch polemische) korrekte Anwendung der NPÖ beschreibt.[168] Daraus folgt, dass die Diätenerhöhung keine wirkliche Maßnahme gegen den Korruptionsanreiz ist, sondern umgekehrt diese Behauptung zur Diätenerhöhung benutzt wird.
Mehr noch: die Diäten und Zulagen schaffen im Gegenteil einen erhöhten Korruptionsanreiz: „ Bedroht wird die Unabhängigkeit des Parlamentariers heute weniger durch die Scheckbücher mächtiger Konzerne als durch die Parteien, die ihre Abgeordneten mit Vergabe und Entzug bezahlter Ämter zu disziplinieren versuchen.“[169] Diese Sicht wird bestätigt durch eine BVG-Entscheidung vom Juli 2000, die höhere Diäten nur für Fraktionsvorsitzende der Landtage akzeptiert, nicht jedoch für deren Stellvertreter und für Ausschussvorsitzende.[170] Das heißt also: Die Diäten stellen einen materiellen Anreiz für den Abgeordneten da, nicht seinem Gewissen bzw. dem „ganzen Volk“ zu dienen, sondern gegenüber Partei- und Fraktion bzw. ihren Spitzen[171] korrupte Leistungen zu erbringen. Das Problem entsteht schlicht deswegen, weil der Prinzipal nicht selbst über die Entlohung seines Agenten entscheidet, sondern dies anderen Agenten überträgt.
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1.2.2.2. Parteienfinanzierung durch den Staat
Die Parteienfinanzierung durch den Staat ist im Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz)[172] geregelt. So heißt es in § 18 (Grundsätze und Umfang der staatlichen Finanzierung) u.a.:
„Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Mittel bilden der Erfolg, den eine Partei bei den Wählern bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitgliedsbeiträge sowie der Umfang der von ihr eingeworbenen Spenden“[173]. Diese Spenden honoriert der Staat mit „0,50 Deutsche Mark für jede Deutsche Mark, die sie als Zuwendung (Mitgliedsbeitrag oder rechtmäßig erlangte Spende) erhalten haben; dabei werden nur Zuwendungen bis zu 6.000 Deutsche Mark je natürliche Person berücksichtigt.“[174]
Das heißt: Der Gesetzgeber, der an dieser Stelle Parteispenden nicht einmal hypothetisch als Bestechungslohn in Betracht zieht, zahlt zu Spenden 50 Prozent dazu - mit der Folge, dass sich zumindest der Gedanke aufdrängt, man könne durch ‚Luftbuchungen’ Staatsgelder abschöpfen.
Bemerkenswert ist auch die Obergrenze: „Das jährliche Gesamtvolumen staatlicher Mittel, das allen Parteien höchstens ausgezahlt werden darf, beträgt 245 Millionen Deutsche Mark (absolute Obergrenze).“[175] Ganz offensichtlich soll die Obergrenze, die als absolute Zahl willkürlich erscheint, symbolisch klarmachen, dass der Gesetzgeber den Parteien ihre Finanzierung möglichst selbst überlassen will. Noch deutlich wird das in der Passage: „Die Höhe der staatlichen Teilfinanzierung darf bei einer Partei die Summe ihrer jährlich selbst erwirtschafteten Einnahmen ... nicht überschreiten (relative Obergrenze). Die Summe der Finanzierung aller Parteien darf die absolute Obergrenze nicht überschreiten.“[176] Abgesehen davon, dass alle Bundestagsparteien z.B. 1997 auf etwa ein Drittel Staatsgeldanteil kamen[177] und damit von dieser Obergrenze noch weit entfernt waren: Mit dieser Bestimmung wird zum Ausdruck gebracht, dass die Vertretung der spezifischen Interessen der Wähler, der Sponsoren, aber auch der Parteibasis geradezu erwartet wird.
Es wurde eben hergeleitet, dass die Bezahlung des Agenten durch den Prinzipal nur eine graduelle Rolle für das Korruptionsverhalten des Agenten spielt. Dennoch erscheint der quasi staatlich verordnete Spendenanteil aufschlussreich: Nach der NPÖ spendet jeder Akteur nur, weil er sich etwas davon verspricht. Die Sozialhilfeempfängerin für ihre 5 Euro ebenso wie der Bau-Unternehmer für seine 500.000 Euro. Der Unterschied ist nur der, dass die Sozialhilfeempfängerin mit ihren 5 Euro kaum etwas bewirken kann. Die 500.000 Euro dagegen sind „Landschaftspflege“.
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1.3. Das Verhältnis des Agenten zum Klienten
Die einfachste Form des korrupten Tausches besteht darin, dass eine natürliche oder juristische Person für Geld von der Politik eine Entscheidung kauft.
Besonders anschaulich wird das Grundprinzip vom Satiriker Ephraim Kishon beschrieben: „Eine Arbeiterregierung wie die unsere kann nicht ohne weiteres vom Volk die Steuern einheben, um sie dann auf die einzelnen Bürokraten zu verteilen. Man braucht einen Vertuschungsfaktor dazwischen. Also bediente man sich des (Unternehmers, T.W.) Schubinski, der als eine Art Kontokorrent zwischen den verschiedensten Beteiligten fungiert hat... Schubi bekommt öffentliche Mittel in Form von staatlichen Anleihen, Zuschüssen und Schutzzöllen, und diese Gelder ließ er dann wieder in Form von Rabatten, Geschenken, Stipendien, Diäten und ähnlichem an die Staatsdiener zurückfließen... Der volle Terminus technicus lautet: Der Zahlungsmittelumschlag von der Tasche des Steuerzahlers an die Spitzengremien über Katalysator Schubinski.“[178]
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1.3.1. Die Identifizierung des Klienten
Klienten und Agenten schaffen meist ein kaum durchschaubares Organisations- und Strukturwirrwarr, um sich selbst der Identifikation und erst recht der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Wichtiges Mittel dafür ist es, den Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung zu verschleiern. Häufig benutzt der Klient professionelle Bestecher („Berater“), die in seinem Auftrag die Staatsorgane bestechen oder ihrerseits weitere „Berater“ mit der Bestechung beauftragen usw. usf.. Fliegt dann die Sache auf, so bleibt sie an irgendeinem dieser „unteren Chargen“ hängen, oft an solchen, die tatsächlich nichts als simple Geldboten sind und mit dem eigentlichen Deal (schon aus intellektuellen Gründen) nichts zu tun haben. Im Extremfall bringt X ein Päckchen von einem Postschließfach in ein anderes, ohne Absender und Empfänger zu kennen.
Auch bestochene Agenten fungieren zuweilen ihrerseits als Klienten. Beispiel: Ein Minister kassiert pauschal eine Summe, die er in Eigenverantwortung zum „Kauf“ anderer Ministerkollegen verwendet.[179]
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1.3.2. Die Leistung des Klienten
1.3.2.1. Unterstützung von Gruppen: Die Parteispenden
Aus der Theorie, nur Egoismus sei rational, folgt logisch, dass Spenden „Landschaftspflege“ sind, für die eine Gegenleistung erwartet wird. Folgerichtig werten einige Ansätze Parteispenden generell als Korruption. Nach der Logik der Institutionenökonomik aber ist z.B. die (legale) Parteispende als Anerkennung für eine bestimmte Regierungspolitik keine Korruption, sondern eine Art „Trinkgeld“, die der Agent (Partei) mit Billigung des Prinzipals (Gesellschaft) erhält. Und das ist auch legal so: Schließlich sind Parteispenden lediglich zweckungebundene Beihilfen zur Stärkung der Parteien und damit der Demokratie und des „Gemeinwohls“ schlechthin, und umgekehrt werden Kapitalinteressen als identisch mit „Gemeinwohl“ dargestellt, also wird jede Subvention und jede Genehmigung „schon irgendwie die Wirtschaft ankurbeln“. Allerdings ist eine Korruptionsvermutung dennoch herstellbar: Wenn eine Regierung ein Steuergeschenk zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beschließt und ein Konzern im – nicht nachweisbaren - Gegenzug an die Regierungspartei spendet, kann gerade das (scheinbare) Fehlen einer konkreten Gegenleistung auch als Indiz für eine allgemeine (korrupte) Gegenleistung gewertet werden, dass also die Parteien „auf der Gehaltsliste“ der Spender stehen und man die Einzelleistung gar nicht gesondert zu bezahlen braucht. Im speziellen Fall Leuna/Minol wäre es aber ohnehin kaum praktikabel gewesen, dass Elf Aquitaine der CDU Millionenbeträge als „Beitrag zur allgemeinen Stärkung der deutschen Demokratie“ hätte „spenden“ können.
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1.3.2.2. Gezielte Unterstützung von Personen
Gezielte Unterstützung von Personen oder Unterabteilungen der Gesamtpartei zieht der Klient dem Gießkannenprinzip vor[180], da die Erfolgskontrolle (die Rentabilität der Investition Spende) ungleich größer ist - ebenso allerdings die Gefahr des Korruptionsvorwurfs, was zu besonders sorgfältiger Geheimhaltung zwingt. Daher sind als unverblümte Variante auch (Schein)- Arbeitsverträge, etwa die ganz offizielle Anstellung als Geschäftsführer eines Interessensverbandes, recht beliebt. Ausgehend von der Egoismusthese (Geld, Macht, Ansehen) ist die Palette der korrupten Bezahlung eines Politikers unerschöpflich, allerdings oft äußerst schwer nachweisbar, da hier die gesamte Palette immaterieller oder indirekter Bezahlung greift. Im Kern geht es um die „personellen Formen der ‚politischen Landschaftspflege’“.[181] Worum es dabei geht, schildert in seltener Offenheit der frühere Chef der Rechtsabteilung der Thyssen AG, Hans Joachim Klenk, vor dem Untersuchungsausschuss „Parteispenden“: „Wir hatten bei uns eigene Bundestagsabgeordnete, den Ihnen sicher bekannten Herrn Wieczorek... Das sind SPD-Mitglieder gewesen. Sie versuchten dann, auf irgendeinen Menschen der Verwaltung einzuwirken, damit der Auftrag hierher ging. Gut, diesen Wünschen wurde Rechnung getragen. Das führte dazu, dass sich die Firmen verpflichtet fühlten, sich auch den Parteien durch Spenden oder ähnliches erkenntlich zu zeigen. Das ist doch nichts Besonderes.”[182] Es geht hier gar nicht um den Sonderfall des Ex-Thyssen-Managers Wieczorek oder um irgendwelche gegen ihn erhobenen Vorwürfe.[183] Klenks Aussage und insbesondere die Formulierung „eigene Abgeordnete“ deuten aber auf ein Beziehungsgeflecht hin, das zuweilen mit der Redewendung „auf jemandes Gehaltsliste stehen“ umschrieben wird: Ein Politiker zieht dauerhaften Vorteil daraus, dass er sich für ein Unternehmen einsetzt; und dieser Vorteil muss keineswegs immer materieller Natur sein. Fest steht: Eine Beziehung in der Art der von Klenk beschriebenen ist Korruption; und wenn sie „nichts Besonderes“ ist, dann macht sie dies nicht harmloser: Wird eine Brandstiftung für eine Stadt dadurch harmloser, dass sie nur eine von 2000 Brandstiftungen pro Nacht ist? Im Gegenteil: man wird eine solche Stadt als „Brandstifter-Stadt“ bezeichnen und eine „Brandstifter-Mafia“ vermuten.
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1.3.2.2.1. Materielle Leistungen des Klienten: Sachwerte und Geld
Zur Vielfalt der materiellen Vorteile für den korrupten Amtsträger sei hier beispielhaft der Korruptionsexperte Schaupensteiner zitiert, der das ganze ein „Buffet der Gefälligkeiten“ nennt: „Im Gegenzug bedienen sich die Staatsdiener bei den Firmen wie in Kaufhäusern ohne Kassen. Die Palette der Vorteile umfasst alles was das Herz begehrt: Häuser, Fernreisen und Automobile, Kleidung, Pelze, Preziosen, Einladungen in Restaurants und Rotlichtmilieu, Opernkarten, Weinproben, Einkaufsvorteile, Gartenpflege, Möbel, Elektronik, Zuchttiere, Segelyachten, Krafträder, Kleinflugzeuge und was es sonst nicht alles sonst noch gibt.“[184]
Dagegen scheinen nach Schaupensteiners Recherchen „die Zeiten dezenter Übergabe von Bargeld zuende zu gehen... Die Schmiergelder werden auf vielfältige Weise gewaschen: Als gut dotierte Nebentätigkeiten, als Beraterverträge und Privatgutachten, durch Scheinarbeitsverhältnisse, auch zugunsten von Angehörigen des Nehmers, durch die Beteiligung an Patentrechten, Firmen und Immobilien, als „Provisionen“ für Auftragsvermittlung oder durch großzügige Entgelte für ‚Literaturrecherchen’ und dilettierende Werke der Kunst.“[185] Selbstverständlich helfen die Empfänger fleißig mit: „Amtsträger stellen in Gästezimmern und Küchen Computer auf, die unter dem Briefkopf einer Scheinfirma fleißig Rechnungen über fingierte Leistungen schreiben („Küchenfirmen“), Planungsfirmen und Designerbüros, Kopiershops und Beratungsunternehmen werden von Strohmännern und –frauen gegründet, um den Schmiergeldfluss zu tarnen.“[186]
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1.3.2.2.2. Karriereförderung
Noch einmal gesondert einzugehen ist auf die schon erwähnte Bestechung von Politikern durch Karrieren; und zwar nicht nur deshalb, weil natürlich Politiker in ungleich bessere Positionen zu hieven sind als normale korrupte Akteure: Im Gegensatz zu ‚normalen’ Akteuren können Politiker den Unternehmen institutionelle Rahmenbedingungen schaffen, Subventionen oder andere Vorteile verschaffen. Vor allem aber bringen sie jene spezifischen Insiderkenntnisse und die Kontakte mit, die auch für weitere korrupte Geschäfte zwischen dem Unternehmen und der Politik von Vorteil sind. Zudem dürfte außer den Eigennutz-Kriterien „Prestige“ und „Macht“ auch der finanzielle Aspekt beträchtlich sein, so dass bei genauerer Betrachtung diese Art Bezahlung einer Entlohnung nur durch „schnöden Mammon“, womöglich noch in schwarzen Aktenkoffern, vorzuziehen ist. Und nicht zuletzt ist auch das Risiko vergleichsweise gering. Ein Geldbote oder Korruptionsmanager („Berater“) könnte auspacken. Aber selbst wenn beispielweise ein Konzernmanager hinterher behaupten würde, man den Ex-Minister Z. lediglich als Belohnung dafür eingestellt, dass er damals die Konzerninteressen im Kabinett vertreten hätte, so könnte er das wohl kaum beweisen. Jürgen Bellers konstatiert in diesem in diesem Zusammenhang: „Es gibt... eine schwer erforschbare Grauzone zwischen Einfluss (und dessen verbandlicher Ausformung in Gestalt des Lobbyismus) einerseits und Korruption andrerseits. Was ist es beispielsweise, wenn ein Beamter dem Drängen eines bestimmten Interessenverbandes stets nachgibt, mit dem Ziel, die Karriereleiter hochzusteigen?“[187]
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1.3.2.2.3. Die Chance zur Selbstbereicherung
Ein äußerst wichtiger, wenn auch hier nicht ausführlich zu behandelnder korrupter Vorteil für den Politiker ist die Chance zur allgemeinen Selbstbereicherung. Diese Chance kann einen Politiker nämlich durchaus zu einer Begünstigung desjenigen bewegen, der ihm diese Chance verspricht.
Für die allgemeine politische Korruption bedeutet dies, sämtliche Chancen auf Vergünstigungen hinzuzuzählen, die sich aus seinem Amt oder Mandat ergeben.
Damit sind also nicht nur „normale“ Vergünstigungen für Abgeordnete gemeint, wie die vor der Bundestagswahl 2002 heftig diskutierten privaten Freiflüge von Bundestagsabgeordneten.[188] Es geht um sämtliche Bereicherungsmöglichkeiten auch illegaler Art (Untreue, Unterschlagung) die ein Abgeordneter nur qua Amt erhält. Beispiel: Ein Minister, der als Mitglied einer Seilschaft nicht die Interessen des „ganzen Volkes“ vertritt, sondern die ureigensten Interessen z.B. des Regierungschefs, und insofern eine korrupte Leistung erbringt, erhält als korrupte Gegenleistung die Chance, in großem Stil Gelder zu veruntreuen. Hier handelt es sich um einen korrupten Tausch, und zwar unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß er die Chance zur Selbstbereicherung wahrnimmt.
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1.3.3. Die Leistung des Agenten: Spezielle korrupte Leistungen der Politik
1.3.3.1. Gewährung direkter finanzieller Vorteile
Gängige direkte finanzielle korrupte Leistungen der Politik sind:
a) Steuernachlässe. Beispiel wäre[189] die Flickaffäre[190].
b) Kredite. Beispiel wären die „Aubis-Kredite“[191].
c) Subventionen[192]. Beispiel wären die Subventionen der deutschen Steuerzahler für den französischen Konzern Elf Aquitaine[193].
d) Verkaufen von Staatseigentum unter Wert. Beispiel wäre die Abwicklung des DDR-Staatseigentums durch die Treuhandanstalt[194].
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1.3.3.2. Vergabe öffentlicher Aufträge bzw. Privatisierung
Den üblichen Ablauf der korrupten Vergabe öffentlicher Aufträge schildert beispielhaft Susan Rose-Ackerman „Wenn der Staat Käufer oder Auftraggeber ist, gibt es mehrere Gründe, Beamte zu bestechen. Erstens kann eine Firma zahlen, um in die Liste der zugelassenen Anbieter aufgenommen zu werden und um den Umfang der Liste zu beschränken. Zweitens kann sie für Insider-Informationen zahlen. Drittens können Bestechungsgelder Beamte motivieren, die Spezifikation einer Ausschreibung so zu strukturieren, dass die korrupte Firma der einzig qualifizierte Anbieter ist. Viertens kann eine Firma zahlen, um als Auftragsnehmer ausgewählt zu werden. Nachdem eine Firma als Auftragsnehmer ausgewählt wurde, kann sie schließlich zahlen, um überhöhte Preise festsetzen zu können oder mit schlechter Qualität durchzukommen.“[195] Diese vier Punkte gelten analog auch für Projekte, in denen der Staat Verkäufer ist, also auch für Privatisierungen. „Der (Teil-)Verkauf großer staatlicher Einrichtungen – etwa Banken, Flughäfen u. ä. – stellt ein neues Potential von Korruption dar, die damit zugleich neue Formen annimmt und schlechter kontrolliert werden kann.“[196] Es wird zu untersuchen sein, welche der hier angesprochenen Mechanismen auch beim Leuna/Minol-Geschäft anzutreffen sind.
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1.3.3.3. Immaterielle bzw. mittelbar finanzielle Leistungen
„Übliche“ Immaterielle bzw. mittelbar finanzielle korrupte Leistungen der Politik sind u.a.[197]:
a) Insiderinformationen. Beispiel ist der Fall der Berliner Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, die als gleichzeitiges Aufsichtsratsmitglied im Bewerberkonsortium für den Flughafenbau BBF quasi Insider-Informationen qua Amt hatte.[198]
b) Bevorzugung bei der Auftragsvergabe. Beispiel ist der schon in Teil A 2.4.2. zitierte Fall des Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin.
c) Erlangung von Leistungen ohne (vollen) Gegenwert. Beispiele sind Infrastrukturmaßnahmen, die unter der Devise „Standort X-Stadt“ von Bund, Ländern und Kommunen aus Steuergeldern den ansiedlungsbereiten Investoren „geschenkt“ werden.
d) Abrechnungen nicht erbrachter Leistungen. Beispiele wären die in Teil C 2.3.1. erwähnten Scheinstudien, außerdem nützliche „Weiterbildungskurse“, die laut Medienberichten von Arbeitsamt-Mitarbeitern dubiosen und unqualifizierten Privatfirmen zugeschanzt werden.[199]
e) Beseitigung von Beweismitteln. Beispiel ist die in Teil D 1.2.1. geschilderte Aktenvernichtung im Kanzleramt.
f) Sachlich nicht gerechtfertigte Genehmigungen. Beispiele wären die in Teil C geschilderten Fälle zu Genehmigungen durch das Kartellamt (4.1.) und durch das Umweltministerium(4.4.).[200]
g) „Gute Zusammenarbeit“. Beispielhaft sind die Aktivitäten des Kontakthändlers Moritz Hunzinger: Der Politiker zeigt sich „kontaktfreudig“, und Hunzinger zahlt z.B. Honorare für deren Bücher.[201]
h) Vermeidung/Umgehung von Sanktionen und Auflagen bzw. Duldung rechtswidriger Zustände. Beispiele sind generell Bußgelder und Strafen, die derart niedrig sind, dass sie den Betroffenen keinerlei Anreiz zur Einstellung illegaler Tätigkeiten wie Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung oder Umweltkriminalität bieten, sondern quasi als „Betriebskosten“ aufgefasst und gezahlt werden.[202]
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1.3.3.4. Leistungen für die gesamte Wirtschaft
Als korrupte Leistungen, die der Gesamtwirtschaft gelten, kommen etwa Lohnnebenkostensenkung, Steuerreform, Kündigungsschutzlockerung und allgemein der „Rückbau“ des Sozialstaats in Frage. Selbstverständlich ist nicht jede dieser „wirtschaftsfreundlichen“ Maßnahmen ein korrupter Akt; entscheidend ist der Vollzug des korrupten Tausches, also die unter 1.3.2. bereits dargestellten Gegenleistungen der Klienten. Die ebenfalls schon diskutierte These der Interessenidentität von Kapital und Gesellschaft (Teil A, 1.4.) ändert allerdings nichts Wesentliches am Korruptionsproblem: Selbst wenn jemand von einem Klienten „nur“ dafür eine Gegenleistung annimmt, dass er eine gemeinnützige und insofern selbstverständliche Aktion ausführt, liegt ein korrupter Tausch vor. An dieser Stelle kann nur allgemein formuliert werden: Trägt ein Politiker allein oder als Teil einer Partei, Gruppe oder Seilschaft dazu bei, die Wirtschaft zu bevorzugen und erhält er dafür eine Gegenleistung von Seiten der Begünstigten, so ist dies ein korrupter Tausch. Die Gegenleistung kann sich auch auf materielle Dinge wie Macht und Prestige erstrecken. Kann also ein Politiker aufgrund von Erfahrungen darauf hoffen, durch „wirtschaftsfreundliche“ Politik seine Chance auf einen „Traumjob“ in der Wirtschaft zu erhöhen, so handelt es sich bereits um Politische Korruption. Der Einwand, es sei doch „ganz natürlich“, dass die Wirtschaft wirtschaftsfreundliche Politiker gern einstelle, zeigt nur, inwieweit korrupte Verhaltensweisen und Strukturen im Rahmen der Marktwirtschaft als „ganz natürlich“ empfunden werden.
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1.3.4. Der Agent als Klient
Hier sind zwei Varianten zu unterscheiden.
a) Der Klient bezahlt den Agenten dafür, dass er in seinem Auftrag andere Akteure schmiert. Hier ist der Agent kein eigenständiger Klient, sondern Bote, „Berater“ oder Ähnliches. b) Der Klient bezahlt den Agenten, dafür er in Sinne des Klienten ein Netzwerk korrupter Agenten aufbaut. Hier ist aber nicht gesagt, dass sich der Agent wirklich daran hält und nicht eigenständige Ziele verfolgt. Zu unterscheiden, ob der Agent auf eigne Rechnung, zum Wohle der Partei oder zum Wohle des Spenders besticht, zumal diese Teilinteressen häufig zusammenfallen dürften, erscheint spitzfindig, ist es aber nicht. Beispiel: Ein Regierungschef und Parteiführer unterhält eine schwarze Kasse, aus der er Unterorganisationen oder Einzelne bezahlt. Im Laufe der Zeit entsteht ein so starkes Abhängigkeitsgeflecht, dass man nicht einmal mehr sagen kann, die vom Parteiführer bestochenen Politiker seien letztlich vom ursprünglichen Klienten bestochen. Vielmehr unterhält der Parteiführer nun ein eigenständiges korruptes Imperium, und so gesehen, handelt es sich dabei um eine ‚unerlaubte Nebentätigkeit’, d.h.: In seinem ‚Hauptberuf’ ist er Agent des ‚ganzen Volkes’, gegenüber dem er – meistbietend – alle möglichen Regelverstöße begeht. In seinem ‚Nebenberuf’ ist er Klient, der ebenfalls Agenten des ‚ganzen Volkes’ besticht, also des gemeinsamen Prinzipals.
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1.3.5. Die juristische Autonomie der Agenten
Ohne weitere Erläuterung an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Politiker einen unschätzbaren Vorteil gegenüber gewöhnlichen Agenten haben: Die Politik bestimmt selbst, was Korruption überhaupt ist, wann sie vorliegt und wie sie bestraft wird. Sie sind Gesetzgeber in eigner Sache. Dazu ist sie durch den Wähler legitimiert und beauftragt. In diesem Lichte gewinnt auch die Verpflichtung der Abgeordneten und Mandatsträger auf Recht und Gesetz einen sarkastischen Unterton. Als pars pro toto kann die Tatsache gelten, dass der Bundestag es über 40 Jahre lang – vom 4. August 1953 bis zum 22. Januar 1994 – vermieden hatte, die Abgeordnetenbestechung – also ihre eigne – unter Strafe zu stellen. Nun ist es weder Aufgabe der Analyse und noch dem Bürger zuzumuten, fortwährend darüber zu spekulieren, ob die Abgeordneten wirklich ‚nach bestem Wissen und Gewissen’ Gesetze beschließen oder mit dem Gedanken im Hinterkopf, diese Gesetze könnten sie selbst, ihre Partei oder ihren Bekanntenkreis treffen. Die Analyse muss und kann sich damit begnügen festhalten: Würden die Bundestagsparteien feststellen, dass bestimmte Regelverstöße von 80 Prozent des hohen Hauses begangen wurden und weiter begehen wollen, so hätte das Hohe Haus alle MÖGLICHKEITEN, mit den erforderlichen Mehrheiten im Zweifelsfall diese Regelverstöße eher legalisieren als die Betroffenen der Gefahr einer empfindlichen Strafe auszusetzen. Dem Bürger seinerseits bleibt es unbenommen, in seiner Einschätzung aus der MÖGLICHKEIT ein FAKTUM zu machen, was der Politikerverdrossenheit sicher keinen Abbruch täte.
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2. Der korrupte Eingriff in die Justiz
Der korrupte Eingriff in die Justiz kappt sozusagen den Rettungsanker der Demokratie. Intendiert ist ja, das alles Ungesetzliche spätestens hier sein Ende findet. Daher ist es nur logisch, dass die korrupte Aktion in der Bestechung der Justiz ihre Ergänzung, Absicherung und Vollendung findet. Bei der folgenden kurzen systematischen Darstellung ist zu berücksichtigen, dass nach dem Eigennutz-Axiom alle Menschen nach Eigennutz-Maximierung streben, also auch die Akteure der Dritten Gewalt, und dass sie sich demzufolge nach demselben Kosten/Nutzen/Risiko-Kalkül für oder gegen Korruption entscheiden.
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2.1 Das Objekt der Bestechung – der Agent
Bestechungsobjekte sind alle, die auf juristische Verfahren irgendeinen Einfluss haben, z.B. Richter, Staatsanwälte, Gegenanwälte, Zeugen, Gutachter etc.
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2.2. Das Subjekt der Bestechung – der Klient
Im Prinzip kann fast jeder versuchen, die 3. Gewalt zu bestechen, z.B. den Anwalt der Gegenseite. Hier aber geht es um zweierlei Klienten: Private Unternehmen und Politiker, die ihrerseits bestochene Agenten sein können.
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2.3. Der Gegenstand der Bestechung – die korrupte Leistung
Häufiger Gegenstand von Bestechung sind Gerichtsurteile, Verfahrenseinstellungen,), Gutachten, Zeugenaussagen (‚Amnesie’). Verfahrenssabotage (Aktenverlust, Fristenversäumung). Diese Delikte sind meist gar nicht oder nur schwer nachweisbar. Urteile inklusive Strafmaß sind „Ermessenssache“, Amnesie kann (in dubio pro...) echt sein, und selbst Sabotage kann einfache Schussligkeit sein.
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2.4. Methoden der Bestechung – die korrupte Gegenleistung
Da Richter und Staatsanwälte Beamte sind, spielt die Beförderungspraxis eine große Rolle. Es gilt das erpressungsähnliche Prinzip Belohnung oder Bestrafung. Missliebige werden übergangen oder gar strafversetzt. Wer sich als ‚kooperativ’ einen Namen machen kann, dem winkt eine Steilkarriere. Obwohl in manchen Fällen ‚jeder weiß’, dass die konkrete Entscheidung – Haftbefehl, Anklage oder nicht? – nichts mit der Sache, sondern eher mit Zivilcourage bzw. Karrierismus des Staatsanwalts zu tun hat, ist das Delikt der Korruption praktisch nicht nachweisbar und erst recht nicht in Straftatbestände zu fassen. Das Wichtige aber ist auch hier, dass von Seiten des Staates – der Politik, der Vorgesetzten etc. - die MÖGLICHKEIT zur Korruption in Form der Erpressung besteht. Und will man dem Augsburger Staatsanwalt Winfried Maier glauben, dann ist er wegen seiner Korruptions-Ermittlungen[203] auch gegen Mitglieder der CDU und der CSU von eben dieser CSU massiv behindert und gemobbt worden, so dass er schließlich eine Stelle als Familienrichter antrat.[204]
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3. Die Bewertung des korrupten Eingriffs in den Staat
3.3. Die Folgen des korrupten Eingriffs in den Staat
Der direkte korrupte Eingriff in den Staat durch Bestechung seiner Entscheidungsträger ist etwas qualitativ anderes als die Bestechung gewöhnlicher Mitglieder (Staatsbürger, Unternehmen etc.). Die Institutionenökonomik benennt ihr Normativ für die Aufgaben des Staates recht unmissverständlich:
„Zu den produktivsten Regeln, die im Gesellschaftsvertrag festgeschrieben werden können, gehören solche, die das Eigentum institutionalisieren, also Unternehmergewinne, genauso wie die Verdienste von Arbeitnehmern, Erträge von Kapitalvermögen und so fort, nicht zuletzt auch die Verwendung solcher Einkünfte... Die Gesellschaft überlässt dem Unternehmer seine unter Umständen hohen Gewinne, weil sie weiß, dass jedes einzelne Gesellschaftsmitglied letztlich davon profitieren wird.“[205]
„Bürgerliche“ und marxistische Theorie sind sich also durchaus darin einig, dass der Staat die gesellschaftliche Ordnung, insbesondere die Wirtschaftsordnung, schützen soll. Daraus folgert die Institutionenökonomik, dass der korrupte Eingriff in Staatstätigkeit von elementarer Bedeutung ist: „Werden Gerichtsurteile käuflich, dann können Richter den ihnen von der Gesellschaft zugedachten Aufgaben nicht mehr gerecht werden.“[206] Entsprechend „werden auch höhere Beamte, Regierungsmitglieder und sonstige Agenten im öffentlichen Sektor nicht mehr fähig sein, den ihnen gesellschaftlich zugedachten Aufgaben nachzukommen.[207] Die Folge: „Nach und nach werden die Verlierer der Korruption den Gesellschaftsvertrag aufkündigen“ – bis hin zu Mafiatätigkeit und Schlimmerem: „Die Verteidigung ihrer durch Korruption und anderweitig erworbenen Besitzstände gegen die um sich greifende Wohlstandminderung und den Zugriff durch schlechter ausgestattete Gesellschaftsmitglieder wird für die privilegierten Agenten zunehmend teuer, bis die Kosten der Aufrechterhaltung des politischen und gesellschaftlichen Status Quo endlich prohibitiv hoch sind und es zum allgemeinen Einbruch oder zum Umsturz kommt.“[208] Es „besteht bei großer Unzufriedenheit innerhalb weiter Kreise der Bevölkerung... die Gefahr der vollständigen Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages. Die Folgen dieses Extremfalls wären Umsturz, Enteignung und möglicherweise die Installierung eines ganz anderen Gesellschaftssystems.“[209]
Dies klingt wie die NPÖ-Übersetzung der Marxschen Vision von der Zuspitzung der Klassenwidersprüche bis hin zur Alternative Sozialismus oder Barbarei.[210]
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3.3. Die Bewertung durch die Institutionenökonomik
Wie schon erwähnt, sagt die Institutionenökonomik, „dass Korruption gesellschaftliche Vorteile zeitigen kann. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein Gesellschaftssystem von Überregulierung geprägt ist.“[211] Dennoch: „Ein gleichwertiger Ersatz für die Ausbesserung der gesellschaftlichen Rahmenordnung ist Korruption allerdings nie, weil erstens das Risiko der Entdeckung und Betstrafung den ... Tausch für Agent und Klient unattraktiv macht und zweitens der Zwang zur Geheimhaltung...gesellschaftlich unproduktive Folgen hat“.[212] Diese ‚gesellschaftlich unproduktiven Folgen’ sind aber vorwiegend politischer Art: Umsturz droht.
Wohlfahrtstheorie und Institutionenökonomik sehen diese Umsturzgefahr als Folge eines „unvernünftigen“ (also freiwilligen) Fehlverhaltens in Form von grenzenloser Gier in Tateinheit mit Kurzsichtigkeit und Undankbarkeit.[213] Da nun erklärtermaßen „die Institutionenökonomik alle Probleme systematisch auf Informationen und Anreize zurückführt“[214], käme es darauf an, Einkünfte und Privilegien zu erhöhen sowie die Politiker etc. darüber aufzuklären, wie gut es ihnen geht und dass sie Gefahr laufen, ‚die Milchkuh zu schlachten’. Damit aber tut die Institutionenökonomik exakt das, was sie der Wohlfahrtsökonomik süffisant vorwirft, nämlich den Akteuren ins Gewissen zu reden und ihnen zu raten „doch einfach ihre Ressourcen optimal zu nutzen“.[215]
Damit aber wird die Institutionenökonomik zu reinen Agitationstheorie. Insbesondere ist die Annahme, der ausschließlich am ureignen Nutzen interessierte „homo oeconomicus“ sei für „übergeordnete Anreize“ empfänglich, ein innerer Widerspruch des Pareto-Modells. Zwar wird zuweilen versucht, dem Vorwurf zu begegnen, die Ethik des „homo oeconomicus“ verabsolutiere kapitalistische Geldgier zur menschlichen Eigenschaft schlechthin, indem man Altruismus und das daraus resultierende Gefühl der Befriedigung als eine Form des Egoismus darstellt[216]. Damit aber landet man letztlich bei den Gossenschen Genussgesetzen[217]. Wäre nämlich die Hoffnung begründet, man könne korrupte Individuen „im eignen langfristigen Interesse“ zu Ehrlichkeit und Zurückhaltung bewegen, dann wären sämtliche vom materiellen Eigennutz abgeleiteten Modelle willkürlich. Ebenso wäre die Kritik an sozialistischen oder am Christentum orientierten Solidarmodellen der Gesellschaft hinfällig: Wenn die Bekehrung von habgierigen Kriminellen möglich ist, um wie viel eher dann wären ehrliche Unternehmer bereit, die Vorteile des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln einzusehen und sich mit gesellschaftlich akzeptierten Prämien und Auszeichnungen zufrieden zu geben? Das sind sie natürlich nicht, weil sie Geld sehen wollen, womit aber wiederum die Hoffnung auf den freiwilligen Verzicht der Korrupten gestorben wäre.
Man könnte - polemisch aber korrekt - resümieren: Die Grundannahme der Institutionsökonomik ist weder der triebhaft habgierige Egoist, noch der biblische „Gutmensch“, sondern z.B. der Chemiefabrikant, der nach Besuch eines institutionenökonomischen Umweltseminars seinen Müll fortan legal entsorgt und als guter Verlierer Pleite geht, womit er nach der NPÖ-Theorie „eine Form gesellschaftlicher Solidarität“ zeigen würde, und zwar als „Besserstellung anderer[218], der aber trotzdem keinen Sozialismus will, weil er auf ‚bessere Zeiten’ innerhalb der freien Markwirtschaft hofft. Wieso er das aber tun sollte, diese Frage bleibt die NPÖ schuldig: Wieso sollte ein gescheiterter Unternehmer mit 15 Mio. Euro Schulden und folglich lebenslangem Sozialhilfe-Budget auf Idee kommen, er würde sich in dieser Gesellschaft in irgendeiner Weise ökonomisch besser stellen als in jeder anderen mit demokratischer Verfassung? Auf diese Idee kann er nur kommen, wenn er neben dem Eigennutz-Axiom auch noch das des Privateigentums an Produktionsmitteln zugrunde legt.
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3.3. Der Ansatz der Marxschen Politischen Ökonomie
Anders als Wohlfahrtsökonomik bzw. NPÖ hält die Marxsche Politische Ökonomie den Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bzw. von ökonomischer Basis und gesellschaftlichem politischem Überbau nicht für willkürlich herstellbar und trennbar, sondern für dialektisch, also sich gegenseitig beeinflussend. Dabei wurden und werden bestimmte Produktivkräfte stets von bestimmten Klassen „repräsentiert“ – als deren „Charaktermasken“. Der Kapitalist ist die „Charaktermaske“ des Kapitals, „personifiziertes Kapital“. Die bedeutet keineswegs, dass jeder Kapitalist per se der „skrupellose Ausbeuter“ sei. Subjektiv mögen auch „Fehlhandlungen“ wie Umweltzerstörung, Sozialabbau oder auch Korruption als „objektiver Sachzwang einer konkreten Situation“ erscheinen – aber genau das ist mit „Charaktermaske“ gemeint.
In der Markwirtschaft kommt der konkurrierende Unternehmer permanent und gesetzmäßig in die Situation, bei Strafe des Untergangs keine andere Möglichkeit zu haben als z.B. Lohnkürzung, Entlassung, Giftmüllkriminalität. Beim Existenzkampf um Profitmaximierung erscheint die Korr uption nur als ein – wenn auch riskantes – Mittel unter vielen. Der Unternehmer als „Charaktermaske“ denkt nicht nach über Moral und Verwerflichkeit. Er erstellt eine „wertneutrale“ mathematische Kosten-Nutzen-Risiko-Analyse und entscheidet dann über Bestechung.
Auch der Politiker, der z.B. die maroden Finanzen seines Vorgängers übernimmt, sieht es als objektiv notwendig an, z.B. an Kindergärten zu sparen, „weil irgendwo ja gespart werden muss“, nicht aber an Steuervergünstigen, weil die Unternehmer sonst noch mehr Leute entlassen müssen. Dies ergibt sich bereits, wenn man den Politiker als „gerade neu aufgetaucht“ betrachtet. In der Regel aber gelangt kein Politiker – wie der „Regulator“ im Pareto-Optimum – „einfach so“ auf. Vielmehr ist sein Weg gepflastert von aktiver und passiver Korruption, vor allem aber von Abhängigkeiten. Er ist also, ob er es nun wahrnimmt oder nicht – bestochen und bestechlich. Ein Minister zum Beispiel, der nie einen normalen Beruf ausgeübt hat, weiß um die ungeheuren Vor- oder Nachteile, die ein relevanter Gesinnungswechsel haben könnte. Sagt etwa ein Umweltminister, er habe seine Position (hin zu der der Atomlobby) völlig freiwillig geändert, dann hat das einen ähnlichen Glaubwürdigkeitsgehalt, wie die Beteuerung einer Geisel, sie werde gut behandelt. Nicht zu unterschätzen ist dabei das Element des Selbstbetrugs. Dies ist zwar keine psychologische Arbeit. Dennoch sollte der psychologische Aspekt bei der wirtschaftsPolitischen Korruptionsanalyse nicht gänzlich ausgeklammert werden.
Als allgemeine URSACHE von Korruption benennen nicht nur Marxisten die „Privatisierung moralischer Belange“, die „Ungleichheit von Reichtum, Macht und Status“, die „Aufspaltung in Fraktionen“ sowie die Instrumentalisierung staatlicher Institutionen als „Werkzeug von Gruppen und Klassen“. Wenn aber der Staat – Politik und Justiz – selbst Gegenstand erbitterter Konkurrenzkämpfe inklusive korrupter Handlungen sind, dann erscheint die Hoffnung, Politik und Justiz würden gegen die Korruption vorgehen, bestenfalls als unbegründeter Wunsch.
Anti-Korruptions-Konzepte wie „korruptionsmindernde Gestaltung institutioneller Strukturen, politische Erziehung, Formen politischer Partizipation sowie die Begrenzung der Akkumulation von Reichtum und erblichen Privilegien“[219] sind zwar ein wichtiges Fundament demokratisch verfasster politischer Systeme, werden aber, wie von Alemann/Kleinfeld ausführen „den Funktionsbedingungen komplexer pluralistischer Gesellschaften nicht mehr voll gerecht.“[220]
Die Politische Ökonomie teilt diese Einschätzung; denn sie begreift den korrupten Tausch ja nicht als Fehlverhalten‚ sondern als logisches Verhalten des personifizierten Kapitals. Er gehört zur Marktwirtschaft wie der Tausch selbst.
Die Ableitung des Kapitalismus und der Korruption aus der Warenproduktion und damit auch aus der Konkurrenz widerspricht aber auch der in der Stamokap-Theorie angelegten These, die Staatsorgane und sämtliche marktwirtschaftlich orientierten Parteien könnten quasi als ‚monolithische korrupte Erfüllungsbrigaden der Monopole’ einträchtig und planvoll im Sinne der gemeinsamen Erzielung und Aufteilung des Profits und aus Kostengründen auf Konkurrenz untereinander und unkoordinierte Korruption verzichten.
So wird in dem vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED herausgegebenen Standardwerk „Imperialismus heute“ 1965, die Haupt-These der Stamokap-Theorie formuliert, nämlich „dass für den staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht dieses spontane Wirken der ökonomischen Gesetze, diese spontane Regulierung der Produktion und des Austausches, sondern ein umfassendes System der Regulierung im Maßstab der Volkswirtschaft charakteristisch ist.“[221] Das heißt: Wer rational die Volkswirtschaft planen kann, der kann auch die Korruption steuern.
Damit aber verlässt die Stamokap-Theorie den Boden der Politischen Ökonomie und nähert sich der NÖP an: Beide Ansätze postulieren die Möglichkeiten, dass die ökonomischen Gesetze der Marktwirtschaft, vor allem die Konkurrenz und damit auch die Korruption als ihre Variante außer Kraft gesetzt werden können.[222]
Zusammenfassend ist festzuhalten:
Das überzeichnete Primat der Politik besagt: Es ist möglich, durch gesamtgesellschaftliche Aufklärung und/oder Massenaktionen „von unten“ den korruptionsfreien „Gutmenschen“ zu züchten bzw. zu erziehen.
Das überzeichnete Primat der Ökonomie besagt: Unter den Bedingungen des Kapitalismus ist der Kampf gegen Korruption von vornherein sinnlos. Andrerseits werden durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Kapitaleigner paralell zur Konkurrenz auch die Korruption sukzessive einstellen.
Nach der Marxschen Politischen Ökonomie handelt sich aber um ein dialektisches Verhältnis:
Einerseits ist Korruption - und damit auch staatliche und Politische Korruption - als besondere Form des Warentausches so lange unausrottbar, solange es Tauschverhältnisse und Verträge zwischen Agenten und Prinzipal gibt: Zwangsläufiges Pendant zu „Verträge sind einzuhalten“ ist nämlich „Verträge können gebrochen werden.“ Dementsprechend ist jeder, der nicht Agent oder Prinzipal des jeweiligen Vertrages ist, ein potentieller Klient, der den Agenten durch Bestechung zum Vertragsbruch bewegen kann.
Andrerseits kann Korruption beträchtlich erschwert werden (von Kontrollen und Strafen bis hin zur sozialen Ausgrenzung bzw. Ächtung). Der Kampf gegen die Korruption ist vergleichbar mit Kämpfen für soziale Gerechtigkeit bzw. Abwehrkämpfen gegen die Verbreiterung der Arm-Reich-Schere. Das Eigeninteresse des Prinzipals Bevölkerung am Anti-Korruptions-Kampf besteht – wie das jeden anderen Prinzipals – in der Einhaltung des Vertrages durch die Agenten, also die Staatsdiener und politischen Entscheidungsträger.
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4. Erscheinungsformen und Merkmale staatlicher Korruption
Einige für diese Analyse wichtige Erscheinungsformen staatlicher Korruption nennt Wolfgang Sielaff, Landespolizeiinspekteur der Polizei Hamburg und Korruptionsforscher, in einem Referat für die Organisation „Pro Honore“, wobei er von einer These des Münchener Politologen Paul Noack ausgeht: "Korruption im Staat führt ohne Umwege zur Korruption des Staates."[223]
Hilfreich zu ihrer Erkennung können Indikatoren sein, die auf korrumpierendes Verhalten hinweisen. Im Zusammenhang mit früheren Ermittlungen aus dem behördlichen Beschaffungswesen sind beispielsweise folgende Als „typische Korruptionssignale“ nennt Sielaff u.a.
a) Finanzierung von Dienstreisen durch den jeweiligen Lieferanten; Geschäftsbesprechungen bei Firmen[224] außerhalb des allgemeinen Rahmens, z.B. auf einer Wochenendsegeltour auf Firmenkosten.
a) Kurzurlaub, Theaterbesuch auf Firmenkosten, ggf. mit Ehefrau oder Familie.
b) Urlaub in firmeneigenen Unterkünften.
c) Sachzuwendungen durch Firmen für den Privatgebrauch, z.B. Porzellan,
d) Fernsehgerät, Videorekorder, PC, Videokamera.
e) Finanzierung von Betriebsfeiern oder Ausrichtung von Betriebsausflügen.
Fast zynisch fügt Sielaff hinzu: „Ich vermute, dass mancher von ihnen denkt, dass das doch normale Usancen im Geschäftsverkehr seien.“
Sielaff unterscheidet „personen- und verfahrensspezifische Korruptionsindikatoren“.
Personenspezifische Indikatoren:
a) Urlaub in firmeneigenen Unterkünften.
b) auffallende Vertraulichkeit im Umgang mit Kunden/Antragstellern.
c) auffällig aufwendiger Lebenswandel, der auch nicht plausibel erklärbar ist.
d) "risikoreiche Lebensweisen" z.B. Spielsucht, Alkoholabhängigkeit.
e) Persönliche Übernahme von Klienten/Kunden.
f) absichtliches Unterlassen von Sicherheitsvorschriften (z.B. Vier-Augen-Prinzip).
g) überzogenes Argumentieren für einen bestimmten, nicht unumstrittenen Auftrag.
Verfahrensspezifische Indikatoren:
a) Entscheidungen ohne vorherige Prüfung.
b) Entscheidungen gegen die Rechtslage.
c) unvollständige oder fehlerhafte Akten.
d) Verzicht auf Kontrollen.
e) Vertragsabschlüsse mit unüblich langen Bindungen.
f) unerklärliche Verfahrensbeschleunigungen.
g) Verzicht auf öffentliche Ausschreibungen.“
Es wird zu untersuchen sein, welche dieser Indikatoren auch beim Leuna/Minol-Geschäft bzw. bei den Versuchen zur Aufklärung der Vorwürfe zu beobachten sind. Sielaff betont allerdings, „dass die Indikatoren für sich alleine noch kein Beweis für eine korruptive Verbindung sind. Erst wenn sie sich häufen oder in bestimmten Konstellationen auftreten, wird aus den einzelnen Indizien häufig eine Indizienkette und schließlich auch ein Beweis.“
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5. Zusammenfassung der Teile A und B
Es war notwendig, die beiden Ansätze ausführlich zu untersuchen, um ihre innere Logik ebenso wie die Intention zu erfassen. Wir haben jetzt mit dem auf dem Eigennutz-Axiom beruhenden Korruptionsmodell der NPÖ ein Instrumentarium, das am konkreten Beispiel erprobt werden soll. Vom Marxschen „Personifizierten Kapital“ und seinem Prinzip der Profitmaximierung unterscheidet es sich dadurch, dass es vom Eigeninteresse des „Menschen an sich“ ausgeht, während Marx das Profitinteresse aus den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus herleitet. Daher taugt das NPÖ-Modell zwar nur für die Einzelfallanalyse, aber um die geht es ja im ersten Schritt:
1. Wir haben einen „Prinzipal“ der mit dem Agenten einen regulären Vertrag unterhält, und wir haben einen „Klienten“, der sich in diesem Vertrag einmischt, indem er durch Bestechung den Agenten zu einer korrupten Leistung mit oder ohne Verletzung seines „Hauptvertrages“ bewegen will. Der Bestechungslohn muss nicht in Geld, sondern kann auch in „Macht“, „Karriere“, „Prestige“ etc. bestehen. Der Verkauf einer politischen Entscheidung ist also zwar die deutlichste, keinesfalls aber die einzige und womöglich nicht einmal die gängige Erscheinungsform politischer Korruption.
2. Dennoch ist eine wichtige Frage: Wurden beim Leuna/Minol-Geschäft deutsche Politiker von französischer Seite finanziell geschmiert? Hat also der Klient Elf, den Agenten „deutsche Politik“ mit Geld dazu bestochen, ein Geschäft zum Nachteil des Prinzipal Deutschland abzuschließen? Diese Frage ordnet sich aber der allgemeineren unter: Haben deutsche Politiker im Leuna/Minol-Geschäft ihre Pflichten gegenüber dem „ganzen Volk“, indem sie Dritten Vorteile gewährt und materiellen oder immateriellen Lohn dafür erhalten?
3. Als Agenten fungieren ausnahmslos Akteure, die als Mandats- oder Entscheidungsträger dem „ganzen Volk“ bzw. dem „Gemeinwohl“ verpflichtet sind. Dass diese beiden Begriffe schwer zu identifizieren sind, ist an dieser Stelle nicht von Belang. Wichtig ist dagegen, dass die Akteure in erster Linie und übergeordnet diesem Prinzipal verpflichtet sind, und nicht etwa der Regierung, ihrer Partei, einer Gruppe dieser Partei, ihren Wählern oder einer anderen Schicht des Volkes – obwohl die Akteure solche „Unterverträge“ in der Regel natürlich unterhalten. Es wird also konkret zu untersuchen sein, mit wem die Politiker Verträge unterhalten, wie ihre Leistungen in diesen Verträgen aussehen und welche Gegenleistung sie erhalten.
4. Ein Agent kann seinerseits als bestechender Klient auftreten. Ist ein Regierungschef zum Beispiel zur Erfüllung seiner korrupten Leistung (oder aber zur Mehrung seines Eigennutzes) ohne oder gegen den Willen des Prinzipals auf die Hilfe anderer Agenten des „ganzen Volkes“ angewiesen, so kann er diese Agenten ebenfalls durch Bestechung wie z.B. Karriere zur korrupten Aktion zu seinem Vorteil veranlassen.
Waren also im Falle Leuna/Minol korrupte Aktionen von Mandats- oder Entscheidungen zum Vorteil (der Machterhaltung oder des Prestiges) von Helmut Kohl Faktum oder mindestens möglich? Selbst bei bloßer Möglichkeit wären damit Strukturen Politischer Korruption identifiziert.
5. Lässt es sich also verallgemeinern oder kann es sich – auch bei nachgewiesener Korruption – um eine unglückliche, aber prinzipiell vermeidbare Verkettung von Zufällen handeln?
Anhand dieser Fragen ist nun das Leuna/Minol-Geschäft zu analysieren.
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TEIL C: Der Verkauf von Leuna/Minol An Elf Aquitaine
1. Die Ausgangslage
1.1. Variante 1: Ein vorbildliches Geschäft zum Nutzen beider
Die deutsche Einigung wäre in dieser Form und Zügigkeit ohne die positive Haltung und Unterstützung Frankreichs kaum möglich gewesen. Auch wenn die überkommene Geschichtsbetrachtungsweise „Männer machen Geschichte“ keineswegs aufgewärmt werden soll, ist doch auf die Bedeutung des offenbar freundschaftlichen Verhältnisses, der „Männerfreundschaft“[225], zwischen Helmut Kohl und Francois Mitterand hinzuweisen. Dies bedeutet aber noch nicht, dass es sich bei der positiven Haltung zum Leuna/Minol-Geschäft um ein selbstloses Entgegenkommen Mitterands gehandelt hat; schließlich handeln ja nach dem Eigennutz-Axiom der NPÖ nur diejenigen rational, die bei der Verfolgung ihres eignen Vorteils buchstäblich „keine Verwandten kennen“, geschweige denn Freunde.
Das „Geben und Nehmen“ der Marktwirtschaft (und davon abgeleitet ihrer Politik) fand seine Entsprechung in einer Art Deal. Motto: „Wenn du mir bei der deutschen Vereinigung hilfst, dann kannst du dir vom DDR-Eigentum was Schönes aussuchen“ – oder umgekehrt: „Wenn du mir bei der Eroberung des Ostmarktes hilfst, dann bekommst du die Einheit und Arbeitsplätze.“
Der Aufklärungsexperte der Süddeutschen Zeitung, Hans Leyendecker, sieht das so: „Elf hat Ambitionen im Osten, und da trifft es sich, dass Helmut Kohl am 12. Mai 1991 den Arbeitern im Chemiewerk zwischen Leuna, Halle und Bitterfeld verspricht, den historischen Standort... auf jeden Fall zu erhalten.“[226]
Kohls Version im Januar 2001[227]: Schon beim ersten Besuch im Chemiedreieck Halle/Leuna/Bitterfeld im Frühjahr 1990 sei ihm klar geworden, dass man die veralteten Fabrikanlagen nur schwer halten könne. Innerhalb der deutschen Chemieindustrie habe es damals starke Tendenzen gegeben, Leuna aus Konkurrenzgründen zu schließen. Er habe aber Arbeitsplätze erhalten und mit Investitionen auch zusätzliche in der Region schaffen wollen, Daher habe er "Weisung gegeben, mit Nachdruck Investoren zu suchen"[228]. Letztlich sei ein einziges geeignetes Unternehmen geblieben, nämlich Elf Aquitaine. Er habe sich im Rahmen seiner Gespräche mit Mitterand politisch dafür stark gemacht, dass Elf bei seiner Bereitschaft bleibe, in Leuna zu investieren.
„Der französische Staatspräsident nimmt das Staatsunternehmen Elf in die Pflicht, sich zu bewerben... Der Staatspräsident will seinem Freund helfen, denn wenn Leuna nicht gerettet wird, gehen im Osten Tausende von Arbeitsplätzen verloren. Der Kanzler der Einigung hat aber blühende Landschaften versprochen, und 1994 stehen Bundestagswahlen[229] an – Kohls Wiederwahl ist nicht sicher. Mitterand wiederum braucht den verlässlichen Partner, um den europäischen Einigungsprozess voranzubringen, und Frankreich möchte auch seinen eignen Anteil bei der Integration Ostdeutschlands demonstrieren.“[230]
Diese Sicht der Dinge bestätigt auch der damalige Elf-Chef Loïk Le Floch-Prigent: „Das Leuna-Projekt war eine politische Entscheidung. Helmut Kohl wollte es, François Mitterand wollte es ebenso. Und zwar um jeden Preis.“[231]
Demnach war der Handel an sich - die Einheit und der Ausbau des Standorts Leuna zur blühenden Landschaft gegen das Minol-Netz plus Subventionen - ein durchaus plausibles ganz „normales“, korruptionsfreies Geschäft, sogar ein vorbildliches: Beide profitierten, keiner von beiden musste zu irgendetwas überredet, geschweige denn bestochen werden.
Allerdings lässt diese Sichtweise die „Kleinigkeit“ außer Acht, dass Kohl, obwohl er bei diesem Geschäft nach Aussagen von Beteiligten[232] fast alles beeinflussen konnte, nicht identisch mit Deutschland und Mitterand nicht identisch mit Frankreich war.
Die beiden großen Staatsmänner waren also nicht Eigentümer ihrer Länder (Prinzipale), sondern Agenten. Der Vertrag mit ihren Völkern verpflichtete sie, das Optimale für ihre Völker – und nur für diese Völker, nicht etwa für sich persönlich! - herauszuholen.
Die Frage lautet also: Hat Kohl das Optimale für Deutschland herausgeholt?
Diese Art der Fragestellung öffnet natürlich Tür und Tor für Spekulationen und unbewiesene Behauptungen. Gute Beispiele aus der neueren Geschichte sind die Ostverträge, der deutsche Einigungsvertrag oder jede Tarifrunde. Wenn immer ein Agent etwas auszuhandeln hat, also einen Ermessenspielraum besitzt, sind anschließend die Meinungen geteilt und die Rollen offenbar verteilt. Naturgemäß beteuern Regierung, Vorstand oder Verhandlungsführer stets, man habe „das Äußerste herausgeholt“. Demgegenüber behaupten oft unzufriedene Teile des Auftraggebers (Prinzipals), also des (durch die Medien „vertretenen“) Volkes, sowie konkurrierende Agenten, z.B. die politische oder innergewerkschaftliche Opposition, die Verhandlungsführung habe „sich über den Tisch ziehen lassen“. Bemerkenswerterweise ist dabei oft vom „Verkauf der Interessen“ die Rede, bei den Ostverträgen und dem Einigungsvertrag gar von „Ausverkauf“.
Dem stereotypen „Da wäre aber mehr drin gewesen“ steht also ein gebetsmühlenhaftes und apodiktisches „Mehr war politisch nicht durchzusetzen“ gegenüber.
Im Falle Leuna meldeten sich zunächst acht Bewerber, von denen schließlich zwei übrig bleiben: Ein von BP geführtes Konsortium und Elf/Thyssen. BP will die alte Raffinerie modernisieren und die Minolkette aufteilen. Elf will die Raffinerie neu aufbauen und die Minolkette behalten. „In Branchenblättern wird der Verkauf an Elf als die ’volkswirtschaftlich schlechteste aller Alternativen’ beschrieben, weil hohe Subventionen anfielen.“[233]
Es liegt aber auf der Hand, dass diese Fragen noch nicht einmal von sachkundigen Außenstehenden letztlich geklärt werden können. Zudem bedeutet ein schlechtes Verhandlungsgeschick noch lange nicht Bestechlichkeit. Gewährt z.B. ein Autoverkäufer 30 Prozent Rabatt, so kann er die Anweisung zum flexiblen Handeln extensiv ausgelegt haben. Steckt ihm der Käufer aber einen Teil des Rabatts privat zu oder bietet ihm einen Job in seiner eignen Firma an, dann sieht die Sache schon anders aus. Daher ist nachzufragen, ob die „Agenten“ Deutschlands, insbesondere die Regierung und der Kanzler Kohl, bei dem Geschäft persönlich profitiert haben. Zuvor aber ist auf andere Betrachtungsvarianten hinzuweisen.
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1.2. Variante 2: Kohl als Agent des Klienten Deutschland
These A: Helmut Kohl hat – obschon Agent der Deutschen – beim Leunadeal als „Prokurist“ des bestechenden Klienten Deutschland gehandelt. Er hat im Auftrag und Interesse der Deutschen eine Leistung (deutsche Einheit) vom französischen Volk gekauft und den Preis dafür bezahlt. Zu diesem Zweck hat er im Volksauftrag die Agenten der Franzosen bestochen, damit diese die Interessen Frankreichs (deutsche Teilung) verletzen.[234]
„Die deutsche Politik stand damals unter enormem Druck, den völligen Zusammenbruch der maroden Industriestrukturen im Osten zu verhindern und wenigstens einige ‚Industriekerne’ am Leben zu erhalten, koste es, was es wolle.“[235]
„Schmiergeld“ waren demnach das Objekt Leuna/Minol und die damit verbundenen Subventionen. Dafür wiederum zahlten ihm die französischen Agenten Provision. Dann wäre es „Kickback“: Der Beauftragte des Bestechers, die Kohlregierung, kassiert „Unterbestechungslohn“ vom Bestochenen. Die Hauptbestochenen aber wären Elf/Mitterand, die für einen eignen Vorteil französische Interessen verkauft hätten.
These B: wie bei A, nur ohne Berücksichtigung der internationalen Politik. Es ist die Frage, ob der französische Staatskonzern „überhaupt eine Notwendigkeit sah, in Deutschland irgendwen schmieren zu müssen“ und ob man nicht „im Gegenteil Elf das Geld geradezu hinterherschmeißen musste, um sie ins berüchtigte Chemiedreieck von Sachsen-Anhalt zu locken“.[236]
Demnach hat Kohl mittels Bestechung das marode Leunawerk, das keiner haben wollte, an Frankreich losgeschlagen und damit Tausende von Arbeitsplätzen gerettet: „Geschäftlich scheint Leuna ... keine gute Investition zu sein. Weil die Altlasten auf mindestens 400 Mio. DM beziffert werden, sollen Investoren auch das begehrte Netz der rund tausend Tankstellen des Monopolisten Minol bekommen. Als Beigabe werden Subventionen in Milliardenhöhe und Staatsbürgschaften gewährt.“[237]
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1.3. Variante 3: Elf als Klient - Leuna-Geschäft und Subventionen als Paket
Betrachtet man die Subventionen nicht als Schmiergeld, sondern als Teil des gesamtes Geschäfts, dann ist dieses Geschäft – auch nach Bekunden Le Flochs (s.o) – durchaus attraktiv, so dass es durchaus sinnvoll erschienen wäre, dafür Schmiergeld einzusetzen.
In diesem Sinne bezeichnete SPD-Politiker Friedhelm Julius Beucher Erklärungen, das Geschäft hinge vor allem mit den engen deutsch-französischen Beziehungen zusammen, als „Ammenmärchen“. Tatsächlich hätten handfeste geschäftliche Interessen hinter dem Geschäft gestanden.[238]
Die Argumentation von Variante zwei wird also umgedreht: Der Klient Elf setzte alles daran, um an das Gesamtgeschäft einschließlich der Subventionen heranzukommen. Zu diesem Zweck wurde Schmiergeld eingesetzt, um die Agenten Deutschlands zu einem Regelverstoß gegenüber ihrem Prinzipal Deutschland[239] zu bewegen. Dies läuft aber wieder auf die Frage hinaus, ob die Subventionen auch in dieser Höhe „notwendig“ für ein im deutschen Interesse liegendes Geschäft waren, oder ob sie überflüssig bzw. überhöht und damit eine Veruntreuung deutschen Eigentums darstellten. Diese Frage aber entzieht sich der Korruptionsanalyse und wäre von ökonomischen Untersuchungen zu klären.
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1.4. Variante 4: Die isolierte Betrachtung der Geldströme
Eine rigide Anwendung des Eigennutz-Axioms ermöglicht folgende Sichtweise: Die Agenten Deutschlands und des Konzerns Elf hatten vor allem ihre Selbstbereicherung in Form von Geld im Kopf. Das einzige Geld, dass die Agenten beider Lager unter sich aufteilen konnten, waren die von Elf seinen Agenten zur Verfügung gestellten „Kommissionen“.[240] Das Hauptziel der Elf-Agenten war es, an einen möglichst großen Teil der ihnen anvertrauten „Kommissionen“ heranzukommen. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: a) Die direkte Veruntreuung: Die Elf-Agenten lassen auf dem langen geheimen Weg des Schmiergelds einen Teil davon verschwinden, ohne dass der Auftrageber Elf und die Empfänger (deutsche Entscheidungsträger) je davon erfahren. b) Die Elf-Agenten liefern „pflichtgemäß“ das Schmiergeld in geplanter Höhe ab, kassieren aber von den Bestochenen „Kickback“.[241]
Nach dieser Sichtweise ist den Agenten beider Lager das offizielle Geschäft als solches – in diesem Fall Leuna/Minol - völlig egal und insofern beliebig austauschbar. Ebenso egal ist ihnen die Frage, ob das Schmiergeld überhöht bzw. überflüssig war. Es geht ausschließlich um Vorwände für den Strom fremden Geldes in die eignen Taschen. Das heißt: a) Der korrupte Politiker wählt staatliche Projekte (unabhängig vom gesellschaftlichen Nutzen) vor allem danach aus, wo er möglichst hohe staatliche Subventionen (oder günstige Gesetze) loswerden kann, um dafür vom Klienten Bestechungslohn zu erhalten. b) Der Agent des Klienten wählt seine Projekte (unabhängig vom Unternehmensziel) vor allem danach aus, wo er möglichst hohe Bestechungsgelder zahlen kann, um dafür vom Bestochenen Kickback zu erhalten. Dies steht zumindest als Verdacht auch für die Elf-Agenten im Raum:„Den damaligen Chefs von Elf ging es nach Ansicht der französischen Ermittler im übrigen nicht nur um das Firmenwohl. Allein von 1989 bis 1993 sollen mindestens 1,2 Milliarden Mark in dunklen Kanälen versickert sein.“[242]
Das heißt: Das eigentliche – von der Marktwirtschaft qua Eigennutzstreben angeblich im Selbstlauf verfolgte - Ziel, nämlich dass Staat und Privatwirtschaft ein für beide optimales Geschäft tätigen, wird bestenfalls zufällig erreicht, als „Abfallprodukt“ der Selbstbereicherung der Agenten beider Geschäftspartner.
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1.5. Schlussfolgerung
Es zeigt sich also: Die Bestimmung von Prinzipal, Klient und Agent eines korrupten Tausches und sogar die Identifikation eines Tausches als korrupte Tauschhandlung „liegen im Auge des Betrachters“. Dieses Ergebnis ist aber für diese Arbeit nur insofern wichtig, als es auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der isolierten Korruptionsanalyse verweist. Selbst eine Aussage wie „Kohl nimmt Geld von Elf und verkauft dafür Leuna/Minol“ erlaubt noch keinerlei Korruptionsaussage, sondern erlangt ihre Bedeutung erst - in Form eines „Wenn-dann-Modells“ - als Bestandteil einer weitergehenden Analyse. Auch ob ein Akteur Bestochener ersten oder zweiten Grades („Kickback“) ist, kann isoliert nicht geklärt werden, ist aber ebenfalls für diese Untersuchung weder analytisch noch moralisch von Belang.
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2. Der Klient Elf
Die eingehende Untersuchung korrupter Vorgänge des damaligen Geschäfts führt zunächst zu der Frage, was es mit den Strukturen des Konzern Elf-Aquitaine auf sich hatte und in welchem Verhältnis er zum französischen Staat bzw. zur Regierung und insbesondere zum Staatspräsidenten Mitterand stand.
Wie schon gezeigt, erscheint in der heilen Welt pareto-optimistischer Modelle, in denen der Staat ein übergeordnetes und insofern außenstehendes Gebilde ist, auch ein Staatsbetrieb als ein von außen in den „normalen“ Wirtschaftskreislauf eingeführtes und störendes Element. Kaum in Zweifel gezogen wird, dass das Kommando über diesen Betrieb die – womöglich auch noch objektiv, vernünftig und gemeinwohlorientiert agierende – Politik besitzt. Bestechungsfälle erscheinen als etwas quasi „Unnatürliches“, eben als „pareto-inferiorer“ Zustand, der aber nichts an der Grundstruktur ändere. Ganz so simpel scheint die Realität indes nicht zu sein.
Konkrete Hinweise auf eine mögliche Verwicklung des französischen Ölkonzerns Elf in die CDU-Finanzaffäre sind seit Mai 1997 bekannt.[243] Sie lenken den Blick auf die seltsamen Praktiken, die in der bis zu ihrer Übernahme durch Totalfina 1999 größten französischen Unternehmensgruppe zu Beginn der neunziger Jahre gang und gäbe waren.
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2.1. Das Verhälnis von Elf-Aquitaine zu Staat und Politik
Zur Zeit des Leuna/Minol-Geschäfts hatte der französischer Staatskonzern Elf Aquitaine ca. 96 000 Mitarbeiter, machte ca. 200 Mrd. FRF Umsatz und war bis zur Übernahme durch TOTALFINA 1999 die größte französische Unternehmensgruppe. Leyendecker gebraucht klare Worte: „Schmiergeldmaschine der Französischen Republik ist der staatliche Ölmulti Elf Aquitaine, bei dem Bestechung zur Unternehmenskultur gehört, und für Henrik Uterwedde, Direktor des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg und Experte für französische Wirtschaft, ist der Konzern schlicht eine „Sumpfblüte des Staatskapitalismus“.[244]
Schon seit der Entstehung von Elf (Staatspräsident de Gaulle wollte ein französisches Gegengewicht zu den US-dominierten Konzernen schaffen) waren die Grenzen zwischen Staats- und Unternehmensführung verschwommen. „Die Firma konnte im Bewusstsein handeln, eine nationale Mission zu erfüllen, die mit dem allerhöchsten politischen Segen versehen war. Elf, die vor allem afrikanische Erdölvorkommen ausbeutet, war sehr früh eng mit den damaligen Afrika-Spezialisten und -Netzwerken der regierenden Gaullisten verbunden. Dass im Ölgeschäft Schmiergelder gang und gäbe waren, von denen auch eine Reihe afrikanischer Staatschefs profitierte, war wohl unvermeidlich, weil branchenüblich. Damals entstand auch die Praxis regelmäßiger Alimentierung französischer Parteien über afrikanische Umwege.“[245]
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2.1.1. Was wussten Kohl und Mitterand?
Glaubt man dem französischen Ex-Außenminister Dumas[246], dann waren die Schmiergeldzahlungen an Kohl bzw. die Parteien zumindest innerhalb der französischen Regierung Allgemeinwissen. Mitterand habe nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten den Kauf der ostdeutschen Leuna-Raffinerie durch Elf gewollt, weil er darin einen Nutzen für Frankreich gesehen habe. Der Präsident sei davon ausgegangen, Europa werde von Frankreich und Deutschland aufgebaut. Mitterand habe sein Vertrauen in Bundeskanzler Kohl hervorgehoben; er wisse nicht, wer nach dem CDU-Politiker an die Regierung kommen werde. "Dieses Interesse gebot es, Kohl zu helfen... Mitterand hat das ganze Projekt unterschrieben, die Kommissionszahlungen vielleicht eingeschlossen."[247] Davon habe "mit Sicherheit" die Umgebung des Staatschefs gewusst - Elysée-Generalsekretär Hubert Védrine sowie die damalige Europa-Ministerin Elisabeth Guigou.[248]
Eine interessante Gegenthese verbreiteten der französische Fernsehsender France 2 und die ARD unter Berufung auf einen Informanten aus der Umgebung des früheren französischen Präsidenten François Mitterand: Der 30-Millionen-Transfer sei sogar auf Veranlassung Mitterands erfolgt, um eine Niederlage Kohls bei der Bundestagswahl 1994 um jeden Preis zu verhindern. Die ARD zitierte ihren "hochrangigen" Informanten mit den Worten: "Das war kein Bestechungsgeld, das war Geld für die Wahlkampagne. Die Zahlung war im Staatsinteresse - für Europa."[249] Deutlicher wurde dagegen der für Elf tätige Vermittler André Guelfi: Nach seiner Aussage waren Kohl und Mitterand darüber informiert, dass deutsche Parteien über 80 Mio. an „Kommission“ eingestrichen hätten.[250]
Für französische Manager sind derartige Eingriffe der Wirtschaft in die Politik offenbar nichts Besonders. Motto, wie der Frankreich-Experte Ulrich Wickert es ausdrückt: "Natürlich haben wir den Wahlkampf von Helmut Kohl bezahlt. Das war der Dank dafür, dass er während des Referendums über den Euro helfend in die französische Innenpolitik eingegriffen hat."[251]
Helmut Kohl bestritt dagegen zunächst nicht nur die Bestechung der deutschen Regierung, sondern sogar sein Wissen von Bestechungsplänen.[252] Überhaupt habe er sich in die Verhandlungen über das Leuna/Minol-Geschäft nie direkt eingeschaltet. Sein Feld seien unterstützende politische Gespräche mit Staatspräsident Mitterand und den Regierungschefs Frankreichs, Balladur und Juppé, gewesen.[253] Dagegen sagte der damalige Elf-Konzernchef Le Floch-Prigent im August 2000 der Pariser Staatsanwaltschaft, Kohl habe ihn noch vor Abschluss des Kaufvertrages für Leuna/Minol Ende 1992 im Bonner Kanzleramt zu einem vertraulichen Vieraugengespräch empfangen. Dabei habe ihm der Kanzler staatliche Subventionen für das Leuna/Minol-Projekt in der von Elf gewünschten Größenordnung zugesagt.[254]
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2.1.2. Korruption als Unternehmensstrategie: Loik Le Floch-Prigent
Als eine Schlüsselfigur dieser seltsamen Geschäftspraktiken, die als "Elf-Affäre" seit 1993 in Frankreich die Schlagzeilen beherrschten[255], gilt der frühere Elf-Präsident Loik Le Floch-Prigent, in dessen Amtszeit (1989-1993) mindestens 2,5 Milliarden Franc an sogenannten Kommissionen in dunklen Kanälen versickert sein sollen und der wegen der Verwicklung in eine Elf-Korruptionsaffäre Ende Mai 2001 zu dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt wurde[256].
[...]
[1] V. Alemann 1989, S. 918 f.
[2] Seibel ist u.a. Geschäftsführer der „Politischen Vierteljahreszeitschrift“.
[3] Seibel, S. 148 f.
[4] V. Alemann 2/1987.
[5] Wewer, S. 303.
[6] So versuchte schon Julius Caesar im Jahre 59 v. Chr. mit einer Lex Iulia de repetundis, die ausufernde Bestechlichkeit der Beamten zu bekämpfen (vgl. Röttger 1999). Der Missionswissenschaftler Karl Rennstich berichtet ausführlich über „Korruption in der Umwelt des Alten Testaments“ (Rennstich, S. 137 ff.), „Korruption im Alten Testament“ (ebd., S. 143 ff.), „Korruption in der Umwelt des Neuen Testaments“ (ebd., S. 175 ff.) und „Korruption in der Sicht des Neuen Testaments“ (ebd., S. 184 ff.).
[7] Dieser Fonds war 1868 aus dem beschlagnahmten Vermögen der entthronten hannoverschen und hessischen Landesherren entstanden und umfasste damals ca. 40 Mio. Mark. Die Zinsabschöpfungen von ca. 1.8. Mio. Mark jährlich nutzte Bismarck im Kampf gegen alle von ihm als reichsfeindlich und antipreußisch eingestuften Widerstände gegen seine Politik. Vgl. Jandt, S. 16.
[8] Jandt, S. 16. Bis zu seinem Tod 1886 soll Ludwig II. fast fünf Mio. Mark erhalten haben (ebd.).
[9] Vgl. dazu Bellers, S. 39-42.
[10] Bellers, S. 40.
[11] So betitelt von Arnim ein ganzes Buchkapitel (v. Arnim 2001, S. 172 – 193).
[12] Grill 1999.
[13] V. Arnim 2001, S. 177.
[14] V. Alemann 1995, S. 74.
[15] Bogumil/Immerfall, S. 10.
[16] Bogumil/Immerfall, S. 10 f. Was ja nicht bedeutet, dass es keine Unterschiede in den Ansätzen mehr gibt, sondern nur, dass sie recht zögerlich herausgearbeitet werden.
[17] ‚Nach neuem Geständnis wächst der Druck auf Helmut Kohl’, BZ 18.12.1999.
[18] (v. Alemann/Kleinfeld, S. 259 - 282).
[19] Beide Begriffe werden teils synonym verwendet, teils drücken sie unterschiedliche Standpunkte aus: Man kann die Institutionenökonomik als Methode der Wissenschaft NPÖ ansehen. (Entsprechend dieser Auffassung werden auch im Rahmen dieser Arbeit die Begriffe abwechselnd verwendet.) Man kann aber auch die Institutionenökonomik selbst als Universalwissenschaft betrachten und die NPÖ als einen „Unterfall“; vgl. Sturm, S. 17. Das ‚Gabler Wirtschaftslexikon’ hält sich aus diesem Streit heraus („Je nach Betrachtungsschwerpunkt findet man auch neue Namen“) und wählt als Stichwort den Oberbegriff „außermarktliche Ökonomie“; Gabler, Bd. 1, S. 305.
[20] (v. Alemann/Kleinfeld, S.262)
[21] (Alemann/Kleinfeld, S. 271).
[22] v. Arnim 2002, S. 39. Im Unterschied zur NPÖ hebt v. Arnim aber hervor, die Parteien seien keineswegs monolithische Blöcke und müssten nicht unbedingt in die Regierung gelangen. „Die Mandate selbst sind zu Pfründen geworden, und die kann man auch ohne Wahlsieg der eignen Partei erlangen oder behalten.“ (ebd.)
[23] v. Arnim 2001, Abschnitte „Gemeinsinn geht vor“ (S. 31 ff.) und „Die Wirklichkeit: Eigennutzdominiert“ (S. 34 ff.
[24] v. Arnim 2001, S. 87. f
[25] Vgl. Eigen 2002; TI-D
[26] Lauth
[27] Der Ausdruck „Marxsche Politische Ökonomie“ wird synonym zu „Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie“ verwendet.
[28] Vgl. Marx MEW 13/1, S. 8 f.
[29] Marx Grundrisse, S. 21 ff.
[30] z.B. kritisiert Josef Esser: „Notwendigkeit, Grundfunktion, Klassencharakter, Gemeinwohl-Illusion der Politikform sowie ihr Verhältnis zur ökonomischen Struktur sind zwar logisch bestimmt, jedoch nicht historisch konkretisiert.“ (Esser, S. 159).
[31] Blanke/Jürgens/Kastendiek, S. 438 ff.
[32] Böhret 1985, S. 319 f.
[33] v. Alemann/Kleinfeld, S. 262.
[34] V. Alemann/Kleinfeld, S. 262.
[35] Sturm 1995, S. 16 f.
[36] Hofmann 1, S. 113.
[37] Hofmann 1, S. 115.
[38] Z.B. die Theorien von Adam Smith, und David Ricardo.
[39] Petty, S. 28 f. zit. nach Hofmann 1, S. 35.
[40] Petty, S. 28 f. zit. nach Hofmann 1, S. 35.
[41] Engels, S. 228.
[42] Sturm, S. 14.
[43] Sturm, S. 15.
[44] Insofern ist die These, dieses Verhältnis sei durch die sozialwissenschaftliche Forschung noch nicht ausreichend geklärt (vgl. Sturm, S. 13, und Abromeit, S. 11 ff.), nicht ganz exakt: Die Frage nach dem Primat der Politik bzw. dem Primat der Ökonomie lässt sich nicht klären bzw. stellt sich gar nicht.
[45] Hofmann 2, S. 161.
[46] Hofmann 2, S. 119.
[47] Hofmann 2, S. 113.
[48] Sturm, S. 12.
[49] Gabler 6, S. 2537.
[50] Das heißt, im Vorgriff auf die Korruptionsanalyse: Es kommt z.B. weniger darauf an, wie viel Schaden durch Korruption tatsächlich entstanden ist, sondern wie viel davon überhaupt ans Tageslicht kommt und wie der Einzelne es empfindet. Daraus lässt sich lässt sich daraus ableiten, dass Korruptionsbekämpfung auf Grundlage der subjektivistischen Lehre logisch impliziert, dass Vertuschung und Beschönigung für die Besänftigung der Bevölkerung und der Konkurrenten mindestens genauso wichtig sind.
[51] Elster, S. 22, und Suchanek 1993, S. 2.
[52] Pütz, S. 93.
[53] Pütz, S. 93.
[54] Sturm, S. 15.
[55] Schwyzer, S. 31.
[56] Downs, Anthony: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968
[57] Sturm, S. 16.
[58] Coase, S. 43.
[59] Dietz, S. 18.
[60] Dietz, S. 19.
[61] Dietz, S. 19.
[62] Sturm, S. 17 und McLean, S. 510.
[63] Downs, S. 26.
[64] Downs, S. 6 f.
[65] Damit trifft eigentlich nicht Downs der zuweilen auch gegen ihn erhobene Vorwurf „holzschnittartiges Menschenbild“, dass die „Selbstsucht zur gesellschaftlichen Maxime“ erhebe. Sturm, S. 24.
[66] Dietz, S. 22.
[67] Heißt das „für dumm zu verkaufen“? Die Inhaltslosigkeit („Amerikanisierung“) der Wahlkämpfe bzw. die - vom Gegner stets so benannten - „Lügen“ geben beredtes Zeugnis.
[68] Dietz, S. 22.
[69] Beispiel Atomkonsens: Die Energiewirtschaft erklärt alles, was ihr keinen Maximalprofit bringt, insbesondere Umweltbewahrendes, für „utopisch“. Also „einigt“ man sich auf ihren Vorschlag als angeblich „für alle akzeptabel“, weil sonst Arbeitsplätze verloren gingen.
[70] Sturm, Politische Wirtschaftslehre, S. 18 f. Was damit gemeint ist, demonstriert beispielhaft der Institutionenökonom Christophe Schwyzer mit einer Formel zur Attraktivität der Korruption:∆ = v - [{(1 - r)/r²} . s b + {(1 - r/r) . s k + (1/r ²) . t b + (1/r) . t k} Dabei gilt: ∆ = Bestechungsanreiz.
V = Wert der Gegenleistung für die Bestechungssumme in Geldeinheiten. Dieser Wert besteht aus der Differenz zwischen dem korrupten Gewinn und der bestmöglichen legalen Alternative.
r = Wahrscheinlichkeit, dass die Bestechung nicht aufgedeckt, verhindert und geahndet wird (Erfolgswahrscheinlichkeit).Sk,sb = in Geldeinheiten bewertete, erwartete Strafe für den korrupten Klienten resp. Beamten. Dazu gehören Haft, Buße, Entlassung, gesellschaftliche Diskriminierung und weitere gesellschaftliche Sanktionen. Tk,tb = Transaktionskosten der Bestechung für den Klienten bzw. Bürokraten. Insbesondere Suchkosten des Tauschpartners, Verhandlungskosten und Kosten der Durchsetzung des ‚korrupten Vertrages. Nach drei Buchseiten voll hochkomplexer Rechnungen kommt Schwyzer dann zu dem „überraschenden“ Schluss: „Der Anreiz eines Bürokraten und seines Klienten, einen korrupten Vertrag einzugehen, steigt an, wenn der Wert der Bestechungsleistung steigt und das Aufdeckungsrisiko, das Strafmaß und die Transaktionskosten sinken.“ (Schwyzer, S. 54 ff.).Man möchte anmerken: „Da wären wir ohne NPÖ nie drauf gekommen." Natürlich wird die Aussage als solche keinesfalls angezweifelt. Selbstverständlich ist Korruption umso verlockender, je ungefährlicher sie ist. Aber das ist trivial. Ebenso könnte die NPÖ „hochwissenschaftliche“ mathematische Modelle dafür entwickeln, dass der Anreiz zum Fernsehen mit der erwarteten Qualität des Fernsehprogramms steigt.
[71] Hofmann I, S. 181.
[72] Hofmann I, S. 181; Myrdal 1962, S. 20.
[73] Suchanek 2001. Suchanek, der an der Katholischen Universität Eichstätt lehrt, geht z.B. von der Frage aus, „warum denn die Menschen oft so handeln, dass Werte und Ziele, die ihnen eigentlich sehr wichtig sind – Frieden, Umweltschutz, humane Arbeitsbedingungen usw. – nicht erreicht werden“ (Suchanek 1993, S.3), entwickelt aber dann ein ‚wertfreies’ Modell gegen die 100-prozentige Lohnfortfortzahlung im Krankheitsfall als Mittel gegen die „Strategie des ‚Krankfeierns’“ (Suchanek 2001, S. 92).
[74] Suchanek 1993, S. 96.
[75] Sturm, S. 66.
[76] Dies ist übrigens exakt die US-amerikanische Vorstellung vom Staat der freiwillig mildtätigen Reichen bei möglichst null einklagbaren Rechten (Sozialhilfe etc.) für die anderen.
[77] Vgl. Marx MEW 23, S. 618.
[78] Dietz, S. 66.
[79] Der Neue Knaur 5, S. 3384.
[80] Einseitige Handlungen sind z.B. Unterschlagung, Kassendiebstahl oder das „Mitnehmen“ von Büromaterial. Vgl. dazu Pritzl, S. 59 f.
[81] Dies ist im Einzelfall zu untersuchen. Kein seriöser Wissenschaftler wird sich darauf einlassen, z.B. pauschal jeden einzelnen Abgeordneten der Politischen Korruption zu beschuldigen.
[82] Anders verhält es sich natürlich mit dem Dienstwagen-Missbrauch z.B. durch eine Parlaments-Sekretärin, die in der Regel keine politischen Aktionen ausführt.
[83] Vergleiche Klitgaard 1/1991, S. 223 f. Dieses Modell entstammt zwar dem Instrumentarium der Institutionenökonomik; dennoch erscheint es generell brauchbar, wenn man Korruption – auch die Politische Korruption – als Tauschverhältnis auffasst. Es ist kein Widerspruch, im Interesse der „Begriffssicherheit“ auf die Terminologie letztlich abgelehnter Theorien zurückzugreifen.
[84] Fügt z.B. ein Antragssteller dem Formular eine Banknote bei und wird der Antrag ohne Rückgabe der Banknote genehmigt, so ist dies ein korrupter Vertrag, ebenso wenn die Banknote nach Erteilung der Genehmigung übergeben wird. Der Begriff „Vertrag“ ist also weiter gefasst als z.B. in den §§ 145-157 BGB.
[85] Dreher/Tröndle, S. 1753–1770. Der Institutionenökonom Markus Dietz weist darauf hin, dass die in der juristischen Betrachtungsweise mögliche Variante, der Agent lasse sich von einer Zuwendung NICHT beeinflussen, für den Institutionenökonomen aufgrund der Eigennutzmaxime inakzeptabel ist, weil „er sich nicht vorstellen kann, dass der Bestechende eine Leistung erbringt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten“ (ebd.). Dies deckt sich teilweise mit dem Marxschen Begriff des Kapitalisten als „personifiziertes Kapital“. (Vgl. z.B.: Marx MEW 23, S.167 f.).
[86] Wenn man sie nicht in eine „übergeordnete Analyse“ einbettet.
[87] Die auch im Leuna/Minol-Geschäft eine Rolle spielten, wie unten noch gezeigt wird.
[88] Dietz, S. 43.
[89] Der von Schreiber selbst verwendete Ausdruck „Landschaftspflege“ bezeichnet genau diesen Zusammenhang Spende-Gegenleistung. „Wenn Sie so wollen, eine Landschaftspflege“, FR 12.01.2000.
[90] Dabei ist es für die Einschätzung dieses korrupten Tausches unerheblich, ob das Exportverbot gesetzlich zwingend, möglich oder mutwillig wäre.
[91] Schwyzer, S. 44.
[92] Riley, S. 195.
[93] Das Problem der Erheblichkeit der Gegenleistung wird an dieser Stelle ausgeklammert, da es für das Verständnis des korrupten Tausches an sich irrelevant ist.
[94] Schwyzer S. 36.
[95] In Deutschland z.B. durch die §§ 331-335 StGB.
[96] Schwyzer, S. 37.
[97] Schwyzer, S. 37 f.
[98] Schwyzer, S. 38.
[99] Zu teuer kann der Staatsagent Dienstgebäude anmieten und sich den Gewinn mit dem Vermieter teilen; zu billig kann der Staatsagent Villen an privat vermieten.
[100] Zum Beispiel der Bau einer Straße, die nur einer bestimmten Firma oder einem privaten Klienten nutzt.
[101] Rose-Ackerman 1999, S. 40.
[102] Vgl. Downs, S. 34.
[103] V. Alemann/Kleinfeld, S. 270.
[104] Den v. Alemann/Kleinfeld offenbar nicht der NPÖ zurechnen, obwohl er natürlich genau diesen Ansatz vertritt.
[105] V. Klaveren, S. 289-324, zit. nach v. Alemann/Kleinfeld, S. 270.
[106] Streissler, S. 300 ff., zit. nach v. Alemann/Ralf Kleinfeld, S. 270.
[107] Saner, S.49-57, zit. nach v. Alemann/Kleinfeld, S. 271.
[108] Downs, S.34; an anderer Stelle (ebd .S.30) nennt Downs als viertes Motiv „die ‚Freude am Spiel’, die bei vielen Tätigkeiten auftritt, die ein Risiko mit sich bringen.“ Letzteres, fügt er ironisch hinzu, könne man im Gegensatz zu den anderen Zielen, auch ohne Wahlsieg erreichen.
[109] Rheinischer Merkur, Nr. 14/2002, S. 3.
[110] Downs, S. 27.
[111] Adam Smith 1937, S. 14.
[112] Downs, S. 27.
[113] Daher können sich die Schöpfer nassforscher Begriffe wie „Abwickeln“, „Rückbau“, „Kollateralschaden“, Rentnerschwemme“ oder „Freisetzung“ keinesfalls auf Anthony Downs berufen, sondern bestenfalls auf die menschenverachtende Umdeutung seiner Theorie durch vorgebliche Epigonen.
[114] Schumpeter 1942, auf dessen „tiefschürfende Analyse der Demokratie“ sich auch ausdrücklich Downs bezieht: „Wir stehen sehr tief in seiner Schuld und empfinden ihm gegenüber große Dankbarkeit.“ (Downs, S. 29).
[115] Sturm, S. 27. Dahin gestellt sei, ob diese „teilweise Rücknahme der Marktanalogien“ einfach nur wirklichkeitsfremd sind oder das theoretische Fundament bilden z.B. für „eine Wahlkampfführung, die von Marktforschern, die ansonsten für Industrieprodukte werben, konzipiert und begleitet wird ... inhaltliche Entleerung, eine Reduktion von programmatischen Positionen auf Symbole, Schlagwörter oder gar direkt Personen“; ebd. S. 28 f.
[116] Vgl. SPD SERVICE Intern 11/2000. Im Sommer 2002 z.B. konnte das SPD-Mitglied unter www.imageshop.de u.a. Versicherungen, Reisen, Computer und T-Online-Leistungen billiger erhalten.
[117] Downs, S. 290.
[118] Downs, S. 289.
[119] V. Alemann 2001, S. 167.
[120] Vgl. Steffani, S. 559, zit. nach: v. Alemann 2001, S. 167.
[121] Damit ist der Besitz des „richtigen Parteibuchs“ gemeint.
[122] Vgl. Downs, S. 289.
[123] Diese modellhafte Vereinfachung beabsichtigt weder Verunglimpfung der Parteispitze noch die Glorifizierung der Basis.
[124] Z.B. auf Sonderparteitagen zu gravierenden Themen wie Militäreinsätzen.
[125] Suchanek 2001, S. 41 f.
[126] Um z.B. eine industriefeindliche Position nicht mittragen und so seine Chancen als Korruptionspartner schwächen zu müssen.
[127] Z.B. um Industrienmanager, Präsident eines Fußballclubs, Talkshow-Dauergast oder Mitglied einer reichen Familie zu werden.
[128] Downs, S. 50.
[129] Downs, S. 50.
[130] Downs, S. 50.
[131] Im oben definierten, erweiterten Sinne.
[132] Gemeint sind hier ‚interne’ Verträge, also innerhalb seines politischen Organisationsrahmens. ‚Externe’ Verträge, also z.B. Bestechung durch Unternehmen, kommen hier noch nicht zur Sprache.
[133] Dies hat nichts damit zu tun, dass sich der Abgeordnete dem geltenden Recht unterliegt.
[134] "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."
[135] Also auch der Wähler.
[136] V. Arnim 2001, S. 20. Weiter heißt es: „In einer echten Demokratie geht der nächstliegende Weg zur Realisierung von Gemeinwohl dahin, den Willen des Volkes zur Geltung zu bringen; zugrunde liegt die Überzeugung, die Bürger wüssten selbst immer noch am besten, was gut für sie ist. Hier läuft Regieren für das Volk also auf Regieren durch das Volk hinaus. Dazu ist es nötig, den Willen der Bürger insgesamt zum Ausdruck und zur politischen Wirksamkeit zu bringen. Das ist das Konzept der direkten Demokratie, wie es schon im alten Griechenland für Städte und Kleinstaaten mit übersichtlichen Verhältnissen entwickelt worden ist.“
[137] Hervorhebung v. Arnim.
[138] V. Arnim 2001, S. 21. Er zieht historische Parallelen zum „Standpunkt des aufgeklärten Absolutismus (Friedrich der Große: ‚Ich bin der erste Diener meines Staates’) und schon der Römischen Republik (‚salus publica suprema lex’ – das öffentliche Wohl ist das höchste Ziel). Einen ähnlichen Grundgedanken enthält bis zu einem gewissen Grad auch das Grundgesetz. Danach sind alle Amtsträger auf das Gemeinwohl verpflichtet (Gemeinwohlprinzip). Das preußische Pflichten- und Beamtenethos und das US-amerikanische Trust-Konzept sind aus diesem Gedanken heraus entstanden.“ (ebd.).
[139] V. Arnim 2001, S. 383.
[140] V. Arnim 2001, S. 383; BVerfGE 5, 85 (204 f.).
[141] V. Arnim 2001, Seite 21. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass von Arnim durchaus paretianisch argumentiert: “Falls nämlich jeder einen Laden eröffnen beziehungsweise ein Unternehmen gründen kann (Marktoffenheit) und fairer Wettbewerb unter den Kaufleuten besteht, kann die Summe der Egoismen durchaus zur allgemeinen Wohlfahrt führen - ein Konzept, das der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt und das man von der Wirtschaft auch auf die Politik übertragen hat (Kapitel 2). Es handelt sich der Idee nach um einen Mechanismus, welcher der Politik die Wünsche der Mehrheit der Bürger aufzwingt – und zwar gerade dann, wenn die Politiker sich nicht vom Nutzen der Allgemeinheit, sondern von ihren Eigeninteressen leiten lassen. Durch Offenheit des Zugangs der Parteien und Kandidaten zu den Wahlen und durch faire Konkurrenz um Wählerstimmen sollen die Repräsentanten indirekt dazu gebracht werden, den Wünschen der Bürger zu entsprechen (Wettbewerbsdemokratie). Hier geht das Gemeinwohlkonzept also wieder über ins Regieren durch das Volk. Erste Voraussetzung für das Funktionieren dieses Ansatzes ist allerdings, dass der Zugang wirklich für alle möglichen Bewerber offen ist und faire Wettbewerbsbedingungen bestehen.“
Das ist mit Pareto und sogar mit Adam Smith argumentiert, aber an diesem Punkt ohne Belang.
[142] Also nicht allgemein als kleinste Einheit des „Wahlvolkes“.
[143] Vgl. Downs, S. 289.
[144] Das bereits oben behandelte Altruismusproblem wird hier ausgeklammert.
[145] Zum Beispiel Schwyzer, S. 15.
[146] „In Augsburg wurde gegen ein Mitglied der Republikaner per Strafbefehl eine Geldbuße von 1100 Euro verhängt. Der Mann hatte Wählern für ihre Unterschrift auf der Unterstützungsliste in sechs Fällen Geld versprochen und die Summen zwischen fünf und 20 Euro auch ausbezahlt“. (Zit. in: ‚Ermittlungen dauern an’, ‚dpa 04.04.2002 | 01:00 Uhr).
[147] „Gesetz gegen Schwarzarbeit verfassungswidrig“, Welt, 20.02.2002.
[148] Gemeint ist z.B. die noch zu diskutierende Frage, ob Kohl die „blühenden Landschaften“ mit dem „Schmiermittel“ Leuna bezahlt hat oder umgekehrt die Franzosen Leuna mit dem Korruptionslohn „blühende Landschaften“.
[149] Wie sich das besonders bei Koalitionen konkret darstellt, muss an dieser Stelle außer Acht gelassen werden.
[150] Zum Beispiel Subvention oder Exportgenehmigung.
[151] ‚SPD streitet um richtigen Umgang mit den Abweichlern’, WELT 05.09.2001.
[152] Was ja stets beteuert wird.
[153] Wenn die Parteispitze z.B. Mitgliederbefragungen zum Thema Regierungsbesetzung durchführt.
[154] Vgl. Müller-Schöll 2001.
[155] Neu 2000, S. 16 ff.
[156] Tondorf, S. 55. Rüther beschreibt zwar das Problem eines Kommunalpolitikers, seine These kann aber als allgemeingültige diskutiert werden..
[157] Tondorf, S. 56.
[158] Tondorf, S. 56.
[159] Tondorf, S. 56.
[160] Tondorf, S. 56.
[161] Tondorf, S. 56.
[162] Tondorf, S. 56.
[163] ‚Auch Rüther im Gefängnis’, ND 15./16.06.2002.
[164] BVerfGE 40, 296.
[165] Daher verfügte das BVG in diesem Urteil auch ihre Besteuerung.
[166] ‚ Unabhängigkeit muss sich wieder lohnen’, BZ 22.07.2000.
[167] ‚ Unabhängigkeit muss sich wieder lohnen’, BZ 22.07.2000.
[168] Nun könnte man natürlich wieder mittels einer mathematischen Gleichung entgegnen, mit dem Wohlstand steige auch die Verlustangst, aber da man keinem Menschen reale „Angst-Ziffern“ von 0 bis ∞ zuordnen kann, bliebe das reine Spekulation und löste überdies das Problem nicht.
[169] ‚ Unabhängigkeit muss sich wieder lohnen’, BZ 22.07.2000.
[170] ‚ Verfassungsrichter kappen Privilegien in den Parlamenten’, Tagesspiegel 22.07.2000.
[171] Und anderen für die Diätenerlangung wichtigen Akteuren.
[172] Parteiengesetz.
[173] Parteiengesetz.
[174] Parteiengesetz.
[175] Parteiengesetz.
[176] Parteiengesetz.
[177] Vgl. v. Alemann 2001, Tabelle S. 90 f.
[178] Kishon, S. 167.
[179] Vgl. 1.3.3.
[180] Bestes Beispiel ist der Flickskandal, wo persönliche Spenden u.a an Helmut Kohl aktenkundig wurden. ‚‚ Eberhard von Brauchitsch’, Tagesspiegel 25.08.2000.
[181] PDS-Votum 2002, S. 54.
[182] Vernehmung Dr. Klenk, 12.10.2000, S. 6, zit. in: PDS-Votum 2002, S. 54.
[183] Wieczorek war neben seinem Bundestagsmandat bis 1994 bei Thyssen beschäftigt und soll gute Geschäftsbeziehungen zu Schreiber unterhalten und die Lieferung von Thyssen-Panzer an Saudi-Arabien 1991 abgewickelt haben. (Vgl. ‚FDP: Schmiergelder auch an SPD-Politiker’, WELT 30.11.1999.
[184] Schaupensteiner 1999, S. 137.
[185] Schaupensteiner 1999, S. 137.
[186] Schaupensteiner 1999, S. 137.
[187] Bellers 1989, S. 3 f.
[188] ‚Freiflüge für die Vielflieger’, BZ 30.07.2002.
[189] Dies immer unter der Voraussetzung, dass es tatsächlich einen Kausalzusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung gibt. Zudem sind die in diesem Abschnitt genannten Fälle nur als mögliche Beispiele zur Erläuterung des korrupten Mechanismus zu verstehen, nicht als konkrete Tatsachenbehauptungen.
[190] Der Flick-Konzern erhielt von Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs 1975 eine Steuervergünstigung von 450 Mio. DM und spendete der FDP 6,5 Mio. DM (vgl. Fischer Chronik, S. 755 f.
[191] Die Immobilienfirma Aubis erhielt von der HypBank, einer Tochter der Berliner Bankgesellschaft (BGB), einen 600-Millionenkredit. Zeitnah übergaben die Aubis-Manager Neuling und Wienhold dem BGB-Chef Klaus Landowsky, 40.000 DM als Barspende. Alle drei waren CDU-Mitglieder (vgl. Rosenkranz 2001).
[192] Die Subvention wird hier eingeordnet, weil sie in der Regel projekt- bzw. verwendungsgebunden ist und daher in der Kostenrechnung des Subventionsnehmers als produktionskostenmindernd auftaucht. Allerdings kann die Subvention auch als Bezahlung für die eigentliche Ware betrachtet werden. Beispiel 1: Ein Politiker will einen Spitzenjob in einem Konzern und erhält ihn, weil er den Konzernvorstand mit einer Subvention schmiert. Hier wäre der Konzernvorstand der korrupte Agent, der Politiker der Klient und der geschädigte Prinzipal die Konzerneigentümer, von denen vermutet wird, dass ihnen der Verkauf von Spitzenjobs nicht recht ist. Beispiel 2: Eine Partei erkauft sich mit Agrarsubventionen oder Eintreten dafür die Wahlpropaganda der Agrarfunktionäre. Beispiel 3: Eine Partei erkauft sich durch „arbeitnehmerfreundliche“ Beschlüsse, die der Gewerkschaftsführung nutzen, die Wahlpropaganda der Gewerkschaftsführung.
[193] Anders als in den Fällen Flick und Aubis ist beim Leuna/Minol-Geschäft die Gegenleistung als solche noch ungeklärt, wie im Teil C gezeigt werden wird.
[194] Vgl. dazu Teil C 3.5.1. über die Treuhandanstalt.
[195] Rose-Ackerman 1999, S. 41 f.
[196] Rügemer, S. 26.
[197] Vgl. dazu die Zusammenstellung des Korruptionsforschers Karlhans Liebl, die auf allen im Zeitraum 1975 bis 1985 in den Alten Bundesländern abgeschlossenen gerichtlichen Korruptionsverfahren (717 Beschuldigte) basiert (vgl. Liebl, S. 288).
[198] ‚Senatoren geben Mandate zurück’, WELT 17.08.1999.
[199] MONITOR Nr. 477 am 05.07.2001.
[200] Auch dies ist nur als mögliches Beispiel zur Erläuterung des korrupten Mechanismus zu verstehen, nicht als konkrete Tatsachenbehauptung.
[201] Vgl. u.a. Leyendecker 7/2002.
[202] In diese Richtung geht natürlich auch der Kampf gegen EU-Richtlinien zur Verbesserung des Umweltschutzes nach der Logik: „Umweltschutz vernichtet Arbeitsplätze“. So unterstützte der rotgrüne Umweltminister Werner Müller 2002 die Auffassung der IG Bergbau Chemie Energie, der Richtlinienvorschlag der EU - Kommission zum Handel mit Emissionszertifikaten sei „eine Bedrohung für den Industrie - und Energiestandort Deutschland. Er gefährde etwa 60 000 Arbeitsplätze quer durch alle Branchen und bringt schwere Nachteile im internationalen Wettbewerb.“ (‚Nicht mit uns’, IG Bergbau Chemie Energie
home.t-online.de/home/Vertrauensleute-GFA/home.htm)
[203] Unter anderem in Sachen Leuna/Minol. Der ‚Fall Maier’ kommt unten noch zur Sprache.
[204] ‚Bei Klartext kommt die CSU ins Schwitzen’, FR 31.10.2001.
[205] Dietz, S. 57.
[206] Dietz, S. 41.
[207] Dietz, S. 63.
[208] Dietz, S. 63.
[209] Dietz, S. 67.
[210] Marx MEW 23, S. 675.
[211] Dietz, S. 91.
[212] Dietz, S. 91 f.
[213] Vgl. Dietz, S. 63.
[214] Dietz, S. 27.
[215] Dietz, S. 20.
[216] Suchanek 1993, S. 7.
[217] Hofmann 1, S. 212.
[218] Suchanek, 2001 S.83. Der Autor ist aber immerhin Zyniker genug einzuräumen, dass diese Solidarität „nicht als solche empfunden wird, vor allem deshalb, weil man es sich nicht aussuchen kann, ob man sich diese Zumutung auflädt oder nicht.“ (Ebd.).
[219] V. Alemann/Kleinfeld, S. 270.
[220] V. Alemann/Kleinfeld, S. 269 f.
[221] Imperialismus heute, S. 416.
[222] Wobei sich die NÖP ja für diese Gesetze gar nicht interessiert.
[223] Sielaff 2000.
[224] Gemeint sind hier immer die bestechenden Firmen.
[225] ‚ Staaten haben keine Freunde ...’, Tagesspiegel 02.12.2000.
[226] Leyendecker, S. 179.
[227] ‚ Kohl tritt Beschuldigungen energisch entgegen’, FR 31.01.2000.
[228] ‚ Kohl tritt Beschuldigungen energisch entgegen’, FR 31.01.2000.
[229] Die NPÖ kennt sogar ein „Modell der permanenten Überlagerung des ‚natürlichen’ Wirtschaftsverlaufs durch politische Interventionsbestrebungen, die sich am Rhythmus von Wahlen orientieren und darauf abzielen, zum Wahltag die bestmögliche Wirtschaftslage vorzuspiegeln.“ Vgl. Sturm, S.36. Auch marxistische Theoretiker sehen diese Interventionen, allerdings als Mittel, in Zeiten des Aufschwungs ein ‚Überangebot an Arbeitsplätzen und damit verbundenen bessere Kampfbedingungen für die Arbeiter in Lohnkämpfen zu verhindern. (Vgl. Kalecki 1943, S.322-331).
[230] Leyendecker, S. 179.
[231] „Es ist Geld geflossen“, ZEIT 24/2001.
[232] "Der Kanzler konnte alles beeinflussen", BZ 16.05.2001.
[233] Leyendecker, S. 180.
[234] Dass dieser Ansatz zumindest nicht ganz absurd ist, zeigt auch die Auffassung von Peter Eigen, dem Vorsitzenden von Transparency International: "Unter der Regierung Kohl gehörten Bestechungsgelder im Ausland zur offiziellen Linie der Politik" (SZ 15.06.2001, S. 13).
[235] ‚Nach Leuna für jeden Preis’, WELT, 15.12.1999.
[236] ‚Nach Leuna für jeden Preis’, WELT, 15.12.1999.
[237] Leyendecker, S. 179.
[238] ‚Ex-Elf-Chef bestätigt Schmiergeld’, SZ 07.06.2001.
[239] Immer zu verstehen im Sinne des im Teil B entwickelten Begriffs „Ganzes Volk“.
[240] Natürlich kann man auch Subventionen „verschwinden“ lassen, aber offiziell gingen sie an den Konzern Elf, standen den gemeinten Elf-Agenten nicht direkt zur Disposition und daher in ihrer Eigenschaft als mögliche direkte „Agenten-Beute“ aus der Analyse auszuklammern.
[241] Ebenso könnte man natürlich unterstellen, die Initiative wären von den deutschen Agenten ausgegangen: Sie animierten die Franzosen, ihnen „Kommissionen“ zu verschaffen und zahlten ihnen dafür Kickback. Das Resultat ist dasselbe.
[242] ‚Schmiermittel für Raffinerie?’, FR 17.05.01.
[243] Erste Gerüchte wurden Ende April 1997 u.a. durch LE PARISIEN veröffentlicht (vgl. ‚CDU soll Geld von Elf-Konzern erhalten haben’, BZ 30.04.1997). Diese Gerüchte wurden zu konkreten Anschuldigungen u.a. durch zwei Artikel in Le Monde, wo zunächst von „commissions occultes, d'un montant de plus de 300 millions de francs“ (‚Les déboires d'Elf dans l'ex-RDA recèlent une affaire d'États’, LE MONDE 28.05.1997), dann von besagter „commission de 256 millions de francs“ (‚Les juges français demandent à suivre la piste d'une commission de 256 millions de francs’, LE MONDE 24.07.1997) die Rede war.
[244] Uterwedde 2000.
[245] Uterwedde 2000.
[246] "Mitterand wollte Kohl helfen", FR 19.06.2001.
[247] "Mitterand wollte Kohl helfen", FR 19.06.2001.
[248] "Mitterand wollte Kohl helfen", FR 19.06.2001.
[249] ‚ 30 Millionen für Kohl-Sieg?’, FR 24.01.2000.
[250] ‚Schmiergelder beim Verkauf an Elf?’, SZ 08.03.2001.
[251] Wickert 2001.
[252] ‚Schmiermittel für Raffinerie?’, FR 17.05.2001.
[253] ‚Kohl versprach Subventionen für Leuna’, BZ 16.05.2001.
[254] ‚Kohl doch direkt verwickelt?’, SZ 16.05.2001.
[255] Uterwedde 2000.
[256] ‚Beim Schmieren war Elf unparteiisch’, SZ 02.10.2001, und Uterwedde 2000.