Gibt es einen Trend zur Individualisierung des Medienkonsums?

Aufarbeitung der aktuellen medienökonomischen Diskussion


Bachelorarbeit, 2012

52 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Medienmenüs und Nutzungsmotive

3. Theoretische Ansätze der Individualisierung
3.1 Uses-and-Gratification-Approach
3.2 Modell der Fernsehprogrammauswahl von Webster und Wakshlag
3.3 Choice Process Modell von Heeter
3.4 Individualisierungsthese von Beck

4. Individualisierte Fernsehnutzung
4.1 Relevant Set
4.2 Electronic Program Guide (EPG)

5. Individualisierte Internetnutzung
5.1 Nutzungsmotive des Internets
5.2 User Generated Content
5.3 Individualisierungsthese von Beck und das Internet

6. SINUS-Milieutypologie

7. Fragmentierung des Publikums
7.1 Integrationsfunktion der Medien
7.2 Faktoren der Fragmentierung
7.3 Folgen der Fragmentierung

8. Zusammenfassung und Fazit

Literaturverzeichnis

Eigenständigkeitserklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Erwartungs-/Bewertungsmodell gesuchter und erhaltener Gratifikationen, nach Palmgreen

Abbildung 2: Modell der Programmauswahl nach Webster/Wakshlag

Abbildung 3: Anzahl der frei empfangbaren TV-Sender in Deutschland von 2001 bis 2011 (jeweils 01. Januar)

Abbildung 4: Tägliche Verweildauer Fernsehen in Minuten von 2001 bis 2011

Abbildung 5: Anzahl Fernsehsender im Relevant Set

Abbildung 6: Vergleich Entwicklung Fernsehsender und Relevant Set

Abbildung 7: Anzahl täglich genutzter Fernsehsender

Abbildung 8: Fernsehsender im Relevant Set Mai 2011

Abbildung 9: Verweildauer 2010 nach Wochentagen

Abbildung 10: Entwicklung der Haushaltsausstattung mit Aufzeichnungsgeräten (in Prozent aller Haushalte)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Nutzungsmotive der tagesaktuellen Medien im Direktvergleich (BRD gesamt, Personen ab 14 Jahren; trifft am meisten zu, in Prozent)

Tabelle 2: Marktanteile Fernsehsender von 2001 bis 2011

Tabelle 3: Nettoreichweiten der Fernsehzuschauer 2000, 2005 und 2010

Tabelle 4: Verweildauer beim Fernsehen nach Altersklassen

Tabelle 5: Senderkombinationen im Relevant Set Mai 2011 – Top 20

Tabelle 6: Bevölkerung nach Anzahl der Fernsehgeräte im Haushalt von 2007 bis 2011 (Personen in Millionen)

Tabelle 7: Nutzung von zeitversetztem Fernsehen 2011 (sortiert nach mindestens einmal pro Woche, Angaben in Prozent)

Tabelle 8: Programminformationsverhalten in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter

Tabelle 9: Nutzungsmotive des Internets (BRD gesamt, Personen ab 14 Jahren; trifft am meisten zu, in Prozent)

Tabelle 10: Soziodemographie der Nutzertypen (Fernsehmenü)

Tabelle 11: Folgen der Mediennutzung für die Gesellschaft

1. Einleitung

„Individualisierung ist – im Bereich der Mediennutzung wie in anderen Lebensbereichen auch – aus der Sicht des Einzelnen vor allem mit Selektionsentscheidungen verbunden. Die Selektion eröffnet den Nutzern die Möglichkeit, ihren eigenen Wünschen gezielt nachzugehen und die individuellen Bedürfnisse zu befriedigen.“ (Wolling 2009, S. 10). Wolling beschreibt in zwei Sätzen die Intention individualisierter Mediennutzung und deutet anhand der Selektion dessen Prozess an. Im Verlauf dieser Arbeit wird detaillierter auf diese Aspekte eingegangen, indem verschiedene theoretische Ansätze und medienökonomische Positionen dargelegt werden. Sie sollen zur Klärung der Frage, ob es einen Trend zur Individualisierung des Medienkonsums gibt, beitragen. Die Digitalisierung des Fernsehens, die damit einhergehende wachsende Programmvielfalt und die nach wie vor zunehmende Bedeutung des Internets sind der Grund für die Relevanz des Themas und die Wahl dieser beiden Medien. Die vorliegende Arbeit spannt einen Bogen von den theoretischen Grundlagen zu den aktuellen medienökonomischen Entwicklungen und verdeutlicht damit den kommunikationswissenschaftlichen Zusammenhang.

Um einen ersten Überblick über das Thema zu erhalten, beginnt die Arbeit mit einer Beschreibung der Medienmenüs und der Nutzungsmotive, die den Hintergrund individueller Mediennutzung verdeutlichen. Der darauffolgende Uses-and-Gratification-Approach ist der erste von vier theoretischen Ansätzen, die zusammen das Kapitel 3 bilden. Er wird dabei als theoretische Basis begriffen. Das Modell der Fernsehprogrammauswahl von Webster und Wakshlag und das Choice Process Modell von Heeter konzentrieren sich auf die Fernsehnutzung. Mit der Individualisierungsthese von Beck, die starkes Bezugspotential zum Internet vorweist, schließt dieses Kapitel ab. Zur Aufarbeitung der aktuellen medienökonomischen Diskussion tragen die Kapitel 4 und 5 bei, die sich mit der individualisierten Fernseh- und Internetnutzung befassen. Dabei spielen Relevant Set, Electronic Program Guide und User Generated Content eine entscheidende Rolle. Mit den Ausführungen zur SINUS-Milieutypologie in Kapitel 6 erfolgt die Überleitung von der Mikro- zur Mesoebene. Das siebte Kapitel erörtert mit der Fragmentierung des Publikums, welche Auswirkung individualisierte Mediennutzung auf die Makroebene hat. Ob ein Trend zur Individualisierung des Medienkonsums vorliegt, wird abschließend in Zusammenfassung und Fazit erörtert.

2. Medienmenüs und Nutzungsmotive

Um der Frage nachzugehen, ob individualisierte Mediennutzung ein Trend ist oder nicht, ist eine Betrachtung der Medienmenüs unumgänglich. Diese helfen festzustellen, ob sich Rezipienten in ihrem Medienkonsum unterscheiden.

Aus Sicht der Rezipienten ist dabei zu hinterfragen, was die individuelle Medienauswahl und das Verhalten beeinflusst (vgl. McQuail 1997, S. 66). Eine abweichende Perspektive ergibt sich aus der Betrachtung der Medien, deren Intention es ist, mit Hilfe bestimmter Inhalte und Präsentationstechniken die Aufmerksamkeit eines möglichst großen Publikums auf sich zu ziehen (vgl. McQuail 1997, S. 66). Der Bezug der Arbeit ist eine rezipientenorientierte Sichtweise, da sowohl die Modelle, als auch die ökonomischen Positionen den Nutzer in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen.

Medienmenüs entstehen, wenn Angebote unterschiedlich und individuell kombiniert werden (vgl. Handel 2000, S. 30). Haas (2007) fügt hinzu, dass zudem unterschieden werden kann, ob Medien flexibel oder zu festen Zeiten genutzt werden. Das Konzept der Medienmenüs und –repertoires analysiert diesen Aufbau, indem es die Bestandteile und deren Kombinationshäufigkeit aufzeigt (vgl. Handel 2000, S. 30). Es kann sowohl auf Gruppenebene, als auch auf Individualebene angewandt werden, wobei die Gruppenphase der Individualphase vorgelagert ist (vgl. Handel 2000, S. 31). Die vorliegende Arbeit beginnt jedoch mit der Betrachtung der Individualebene, da die Verfasserin es für folgerichtiger hält, die individuelle Mediennutzung detailliert zu beschreiben, um die Erörterungen anschließend auf die Gruppenebene zu beziehen.

Ziel dieser Darstellung ist es, bestimmte Muster bei der Nutzung von Medien zu identifizieren (vgl. Haas 2007, S. 14). So können Rezipienten aufgrund der Breite ihrer Medienmenüs in Gruppen eingeteilt werden. Haas (2007) schlägt zu diesem Zweck die Kriterien „Anzahl der genutzten Medien“, „Nutzungsinhalte“ und „Medienangebot“ vor. Das erste Kriterium ordnet Rezipienten einer Gruppe zu, basierend auf der Anzahl der genutzten Medien und ist damit rein quantitativ (vgl. Haas 2007, S. 32). Das Kriterium „Nutzungsinhalte“ betrachtet die Nutzung unterschiedlicher Mediengenres, um eine Klassifizierung der Rezipienten zu erstellen (vgl. Haas 2007, S. 33). Hier liegt demnach eine eingehendere Betrachtung zu Grunde. Das dritte Konzept unterteilt die Rezipienten dahingehend, „wie viele unterschiedliche Medienangebote aus den einzelnen Medien in das Repertoire eines Rezipienten eingehen.“ (Haas 2007, S. 33). An dieser Stelle liegt die detailreichste Analyseebene vor, die das womöglich deutlichste Aussagepotenzial hat. Haas (2007) zufolge betrachtet diese Ausgangsfrage alle Dimensionen, die für die Untersuchung der Medienmenüs entscheidend sind: „Was machen die Menschen zu welchem Zeitpunkt (Tagesverlauf/Wochenverlauf), in welchen Zeitabständen (Regelmäßigkeit), wo (Nutzungsumgebung), mit wem (soziale Konstellation), unter welchen Kosten (monetär/nicht-monetär) mit welchen und wie vielen (Breite) Medien?“. Diese Einteilung und die Ausgangsfrage sind eher allgemein gehalten und betrachten das komplette Medienspektrum. Da sich diese Arbeit auf das Fernsehen und das Internet konzentriert, sind Typologie und Nutzungsmotive auf diese beiden Medien spezialisiert.

Grundlage für die Zusammenstellung von Medienmenüs sind wiederum die Nutzungsmotive, die erklären, aus welchen Gründen bestimmte Medien rezipiert werden (vgl. Busemann u. Engel 2012, S. 133). Sowohl Gerhards und Klingler (2006), als auch Busemann und Engel (2012) verbinden mit der Fernsehnutzung das Nutzungsmotiv „Entspannung“, da dies von den Rezipienten oft als Möglichkeit genannt wird, den Alltag zu vergessen (vgl. Gerhards u. Klingler 2006, S. 80), gefolgt vom Nutzungsmotiv „Information“. Die in der Literatur erwähnte Studie zeigt, dass das Medium Fernsehen in seiner Beliebtheit konstant bleibt und alle wichtigen Nutzungsmotive aus den Bereichen Unterhaltung und Information abdecken kann (vgl. Busemann u. Engel 2012, S. 135). In der nachfolgenden Tabelle 1 wird anhand des Vergleichs der Nutzungsmotive mit den anderen beiden klassischen Medien Radio und Tageszeitung noch einmal deutlich, welchen Stellenwert das Fernsehen bei den Rezipienten einnimmt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Nutzungsmotive der tagesaktuellen Medien im Direktvergleich (BRD gesamt, Personen ab 14 Jahren; trifft am meisten zu, in Prozent)

Quelle: Eigene Darstellung nach Zubayr u. Gerhard (2012)

Dieses Ergebnis und die Tatsache, dass Fernsehen und Internet ökonomische und soziale Bedeutung haben, begründen die Wahl dieser beiden Medien als zentralen Fokus der Arbeit (vgl. McQuail 1997, S. 65).

3. Theoretische Ansätze der Individualisierung

Um einem Trend zur Individualisierung des Fernsehkonsums festzustellen, reicht die Betrachtung von Zahlen nicht aus. Im Hinblick auf eine fundierte Ursachenforschung müssen theoretische Ansätze aus der kommunikationswissenschaftlichen Forschung herangezogen werden. Die folgenden vier Ansätze bilden vor diesem Hintergrund den Rahmen der vorliegenden Arbeit.

3.1 Uses-and-Gratification-Approach

Erkenntnisgrundlage für die Entstehung von Medienmenüs bildet die Untersuchung der Beweggründe der Medienauswahl von Rezipienten (vgl. Stark 2006, S. 108). Theoretische Grundlage dafür ist der Uses-and-Gratification-Approach, der die menschlichen Bedürfnisse als Ursache für spezifische Mediennutzungsmuster sieht (vgl. Stark 2006, S. 109). Die daraus entstehenden Erwartungen sind wiederum verantwortlich für die Entwicklung von Nutzungsmotiven, die zu einer Auswahl von Medien führen (vgl. Stark 2007, S. 227). Vor allem Selektivität und Intentionalität des Publikums spielen bei diesem Ansatz eine zentrale Rolle (vgl. Stark 2006, S. 110). Selektivität meint dabei, dass die Medienauswahl des Rezipienten vor dem Hintergrund stattfindet, dass er bereits Erfahrungen mit Medien gesammelt hat und Gratifikationen erwartet (vgl. Stark 2007, S. 228). Intentionalität liegt der Selektivität zugrunde und ist ein Prozess, der bewusst und absichtsvoll verläuft (vgl. Stark 2007, S. 228).

Folgende Annahmen liegen dem Uses-and-Gratification-Approach zugrunde:

1) Die Rezipienten handeln bei der Auswahl und Nutzung von Medien zielorientiert, motiviert und absichtsvoll (vgl. Stark 2006, S. 110).
2) Die Rezipienten handeln aktiv, da sie aus eigenem Antrieb Medien auswählen und nutzen (vgl. Stark 2006, S. 110).
3) Das Nutzungsverhalten und die Erwartungen an die Medien werden bestimmt durch soziale und psychologische Faktoren, sowie durch die Lebensumwelt und interpersonellen Kontakt (vgl. Stark 2006, S. 111).
4) Die Mediennutzung stellt nicht die einzige Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung dar (vgl. Stark 2006, S. 111).
5) Die Art der Beziehung zwischen Rezipient und Medium wird dadurch bestimmt, wie der Rezipient diese nutzt (vgl. Stark 2006, S. 111).
6) Die Rezipienten können ihre Bedürfnisse und somit ihre Motive und Interessen darlegen (vgl. Stark 2006, S. 111).

Diese Annahmen verdeutlichen die rezipientenorientierte Perspektive des Ansatzes und führen zur Umkehr der Frage „Was machen die Medien mit den Menschen?“ in „Was machen die Menschen mit den Medien?“ (vgl. Stark 2006, S. 111). „Die Gratifikationsforschung geht also davon aus, dass das Publikum sich absichtsvoll für die Medien im Vergleich zu anderen Kommunikationsalternativen entscheidet.“ (Stark 2006, S. 111).

Innerhalb dieses Prozesses vergleicht der Rezipient seine vor der Mediennutzung gesuchten Gratifikationen mit den nach der Mediennutzung erhaltenen Gratifikationen und entscheidet sich schließlich für das Medium, welches die geringste Diskrepanz aufweist (vgl. Stark 2006, S. 117). Das von Palmgreen 1984 entwickelte Erwartungs- und Bewertungsmodell veranschaulicht diesen Prozess (vgl. Stark 2006, S. 118). Die erhaltene Gratifikation geht schließlich als Feedbackschleife auf die individuellen Vorstellungen zurück (vgl. Stark 2006, S. 118).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Erwartungs-/Bewertungsmodell gesuchter und erhaltener Gratifikationen, nach Palmgreen

Quelle: Eigene Darstellung nach Schenk (2007)

Sowohl der Uses-and-Gratifikation-Approach als auch das Modell von Palmgreen sind allgemein gehalten und können sich daher auf jede Mediennutzung beziehen. Um die individuelle Fernsehnutzung zu erklären, werden ebenfalls Modelle der Programmauswahl als Grundlage verwendet, da sie über weitere entscheidende Komponenten, wie die Kenntnis des Angebots, verfügen (vgl. Stark 2007, S. 228). Die beiden nachfolgenden Mediennutzungsmodelle beziehen sich konkret auf das Auswahlverhalten bei der Fernsehnutzung.

3.2 Modell der Fernsehprogrammauswahl von Webster und Wakshlag

Das Modell von Webster und Wakshlag wurde 1983 entwickelt und integriert alle Faktoren, die für die Programmauswahl relevant sind (vgl. Stark 2006, S. 160). Es verbindet demnach sowohl die Bedürfnisse als auch die strukturellen Gegebenheiten (vgl. Stark 2006, S. 160). Als Annahmen liegen ihm zugrunde, dass die Programme feste Strukturen aufweisen und als freie Güter allen Rezipienten in der gleichen Weise und zu gleichen Kosten zur Verfügung stehen (vgl. Stark 2006, S. 160). Es ist zudem nur auf individueller Ebene anwendbar und gilt nur zu einem bestimmten Zeitpunkt (vgl. Stark 2006, S. 160). Dem Modell zufolge ist ein Rezipient aktiv, wenn er das Fernsehen mit einer bestimmten Motivation nutzt (vgl. Stark 2006, S. 160). Passiv ist ein Rezipient, wenn er das Fernsehen ohne konkrete Motive und Motivation nutzt (vgl. Stark 2006, S. 160).

Individuelle Bedürfnisse haben in dem Modell Einfluss auf Programmpräferenzen und auf die Erreichbarkeit der Rezipienten, die Voraussetzung für die Fernsehnutzung und die eigentliche Programmauswahl ist (vgl. Stark 2006, S. 160). Ein Rezipient ist jedoch nur dann erreichbar, wenn er die Zeit und Möglichkeit besitzt, fernzusehen (vgl. Stark 2006, S. 160).

Der Prozess im Modell von Palmgreen, dass Rezipienten mit Hilfe der Feedbackschleife langfristige Erwartungen entwickeln, ist auch in diesem Modell verankert, da sich nur auf Grundlage konstanter Bedürfnisse „dauerhafte Sparten- bzw. Genrepräferenzen herausbilden“ können (Stark 2006, S. 161).

Ziel ist es, anhand der Programmstrukturen, Überlappungen bei Rezipienten zu erkennen (vgl. Stark 2006, S. 161). Dabei sind die drei Phänomene „Kanaltreue“, „Vererbungseffekt“ und „Wiederholungsseherschaft“ von Bedeutung (vgl. Stark 2006, S. 161). Als „Kanaltreue“ wird die „überdurchschnittlich starke Überschneidung der Zuschauerschaft von Sendungen des gleichen Kanals“ bezeichnet (Stark 2006, S. 161). Verfolgen Rezipienten eines Programms ebenfalls das unmittelbar darauf folgende Programm, wird dies als Vererbungseffekt bezeichnet und ist damit ein Spezialfall der „Kanaltreue“ (vgl. Stark 2006, S. 161). Der dritte Effekt „Wiederholungsseherschaft“ bezieht sich auf Rezipienten, die mehrere Folgen einer Serie ansehen (vgl. Stark 2006, S. 161). Webster und Wakshlag sind der Auffassung, dass alle diese Faktoren auf lange Sicht Muster in der Programmauswahl hervorrufen können (vgl. Stark 2006, S. 161-162). McQuail (1997) bezeichnet die Gesamtheit dieser Phänomene als „audience flow“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Modell der Programmauswahl nach Webster/Wakshlag

Quelle: Eigene Darstellung nach Stark (2006), (nach Webster/Wakshlag 1983, S. 433)

Auch wenn das Modell bereits viele entscheidende Faktoren integriert, gibt es Kritikpunkte, die an dieser Stelle angemerkt werden müssen. Die Annahmen die zugrunde liegen, sind nicht mehr zeitgemäß und haben ihren aktuellen Bezug verloren. Die heutige Programmlandschaft weist keine festen Strukturen mehr auf und Sender stehen den Rezipienten keinesfalls in gleicher Weise und zu gleichen Kosten zur Verfügung. Zudem vernachlässigen sie die Möglichkeit der Programmerweiterung, was sich auf die Entstehungszeit zurückführen lässt. Auf der anderen Seite spielen die drei Phänomene, die McQuail als „audience flow“ bezeichnet, noch heute in der Programmplanung der Sender eine wichtige Rolle.

3.3 Choice Process Modell von Heeter

Das Choice Process Modell von Heeter wurde zur Zeit der Einführung des Kabelfernsehens und der damit einhergehenden Programmausweitung entwickelt (vgl. Stark 2006, S. 162). Die Programmauswahl ist dabei komplex und unsicher, da viele Faktoren zu beachten sind und die Rezipienten über keine vollständige Kenntnis der Programmauswahl verfügen (vgl. Stark 2006, S. 162). Das Modell gilt nur unter der Voraussetzung, „(…) dass Rezipienten fernsehen, ohne vorher zu wissen, was sie anschauen wollen.“ (Stark 2006, S. 162). Auf diese Weise sind die Bedürfnisse noch unbestimmt und eine vorherige Programmauswahl ist nicht möglich (vgl. Stark 2006, S. 162-163).

Das Modell beinhaltet Orientierungs- und Evaluationsstrategien, die den Kommunikationsphasen zugeordnet werden können (vgl. Stark 2006, S. 163). Die sogenannte Orientierungssuche wird der präkommunikativen und der kommunikativen Phase zugeordnet, da der Rezipient Informationen über die Programmauswahl sowohl vor der Rezeption als auch während dieser sammelt (vgl. Stark 2006, S. 163). Während der Rezeption findet eine Reevaluation statt, in der der Zuschauer entscheidet, ob er das Programm weiterhin verfolgen möchte (vgl. Stark 2006, S. 163). Entweder bleibt der Rezipient dem Programm treu, wechselt das Programm oder schaltet den Fernseher aus (vgl. Stark 2006, S. 163). Die Entscheidung hängt von den Informationen ab, die beim permanenten Vergleich von Bedürfnissen und Programm gewonnen werden (vgl. Stark 2006, S. 163). Für Heeter wirkt sich diese ständige Informationssuche positiv auf die Mediennutzung aus, da das Wissen über Alternativen wächst und mehr unterschiedliche Programme ausgewählt werden (vgl. Stark 2006, S. 164). Zudem kommt es immer wieder zu Bewertungen der Entscheidungen, was für Heeter der Grund dafür ist, dass Haushalte mit einer großen Programmauswahl nicht alle Kanäle nutzen, die zur Verfügung stehen (vgl. Stark 2006, S. 164).

Die Darstellung dieser beiden Modelle zeigt, dass die Bedürfnisse der Rezipienten nicht die einzigen Faktoren sind, die zu einer Programmauswahl führen (vgl. Stark 2006, S. 166). Sowohl im Modell von Webster und Wakshlag als auch bei Heeter spielen die strukturellen Gegebenheiten eine beeinflussende Rolle.

„Während das Modell von Heeter bereits vor dem Hintergrund sich verändernder Programmumgebungen konzipiert wurde, ist das Modell von Webster und Wakshlag nicht auf digitalisierte Fernsehumgebungen ausgerichtet. Die Prämissen des Modells gelten unter den veränderten Rahmenbedingungen im digitalen Fernsehen nicht mehr und auch Heeters Modell ist mit Einschränkungen versehen.“ (Stark 2006, S. 166).

Heeters Modell wurde 1988, also nur wenige Jahre nach dem Modell von Webster und Wakshlag entwickelt (vgl. Stark 2006, S. 162). Dennoch weist es wesentlich aktuellere Bezüge auf. Die Programmerweiterung und die aufgrund dessen für die Rezipienten komplexere und unsichere Auswahl sind im Zuge der Digitalisierung aktueller denn je.

3.4 Individualisierungsthese von Beck

Eine weitere Grundlage für eine individualisierte Mediennutzung ist die Individualisierungsthese von Beck. In der Nachkriegszeit erkennt er in Deutschland eine Veränderung der Lebensbedingungen, die Ungleichheiten weniger spürbar werden lässt (vgl. Haas 2007, S. 44-45).

„Klassen- und schichtspezifische Mentalitäten, Einstellungen und Verhaltensweisen lösen sich auf. Es wird ein ‚Prozeß der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt‘.“ (Beck 1986, zit. nach Haas 2007, S. 45).

Der von Beck entwickelte Prozess besteht aus den folgenden drei Teilen:

1) Freisetzung:

Bestehende Bedingungen und Bindungen, zum Beispiel „(…) die ‚Grundversorgung‘ mit öffentlich-rechtlichen Fernsehangeboten.“ (Ruhrmann 1999, S. 330) im Reproduktions- und Produktionsbereich werden gelöst (vgl. Krotz 1999, S. 348).

2) Entzauberung:

Damit ist „(…) der Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und Normen“ gemeint (Ruhrmann 1999, S. 330).

3) Kontrolle und Reintegration:

Der Rezipient nutzt standardisierte Konsumformen und begibt sich damit in eine Abhängigkeit von Institutionen und Märkten (vgl. Ruhrmann 1999; Krotz 1999).

Dem dritten Teilprozess „Kontrolle und Reintegration“ zufolge, ist eine Individualisierung nicht dauerhaft, da eine Abhängigkeit der Rezipienten zum Beispiel von Bildung, Konsum und Institutionen entsteht, obwohl diese „(…) gleichzeitig zu den Ursachen des derzeitigen Individualisierungsschubs beitragen.“ (Krotz 1999, S. 348-349). Folglich beschreibt die Individualisierungsthese nicht einen Zustand, sondern ist „(…) eine allgemeine Beschreibung des gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesses.“ (Krotz 1999, S. 349). Diese Aussage ist darauf zurückzuführen, dass dem Rezipienten aufgrund der vereinheitlichten Konsumformen die Chance zur Individualisierung genommen wird (vgl. Ruhrmann 1999, S. 330).

Laut Krotz (1999) lässt sich der Teilprozess der „Entzauberung“ empirisch nachweisen: „Sie findet vor allem durch die Inhalte und Inszenierungsformen des Fernsehens statt, die das Besondere veralltäglichen, das Geheime oder diskret Verhüllte offenlegen und zugleich das Alltägliche medial als Besonderes inszenieren und damit den Alltag der Mediennutzer im Kontrast dazu banalisieren.“ (Krotz 1999, S. 352). Dies könnte dazu führen, dass das Handeln eines Individuums nur eines von vielen ist und damit der individuelle Stil und Charakter verloren geht. Ein individualisierter Medienkonsum kann also demnach nicht stattfinden.

Kritik kann schließlich auch an dieser Theorie geübt werden. Die Tatsache, dass die Individualisierungsthese in der Nachkriegszeit entstanden ist, verdeutlicht, dass sie in der heutigen Zeit nur bedingt ihre Anwendung findet. Damals war das Radio das Hauptmedium und wer einen Fernseher besaß, hatte nur auf wenige Sender Zugriff. Andererseits findet Krotz Bestätigungen für die drei Teilprozesse in Bezug auf Fernsehen und Internet.

4. Individualisierte Fernsehnutzung

Als Folge der wachsenden Anzahl empfangbarer Fernsehprogramme nimmt die Relevanz der Bedürfnisse und Vorlieben zu, da die Rezipienten nun die Möglichkeit haben, aus der Fülle der Angebote immer individuellere Medienmenüs zusammen zustellen (vgl. Stark 2006, S. 166-167). Hinzu kommt, dass die Rezipienten ihre Programmauswahl vereinfachen, indem sie nur wenige Programme regelmäßig nutzen, was allgemein als Kanalrepertoire bezeichnet wird (vgl. Stark 2006, S. 167). Wie bereits im Unterkapitel „Choice Process Modell“ beschrieben, wurde dies vor allem bei Haushalten bestätigt, die die Möglichkeit haben, aus zahlreichen Programmen zu wählen (vgl. Stark 2006, S. 167).

2011 standen den deutschen Haushalten durchschnittlich 78 Sender zur Verfügung (vgl. Peters et al. 2012, S. 72). Im Vergleich dazu waren es 2001 nur 38 Sender (vgl. Peters et al. 2012, S. 72). Abbildung 3 veranschaulicht das kontinuierliche Wachstum frei empfangbarer Fernsehsender in Deutschland von 2001 bis 2011.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Anzahl der frei empfangbaren TV-Sender in Deutschland von 2001 bis 2011 (jeweils 01. Januar)

Quelle: Eigene Darstellung nach ProSiebenSat.1. TV Deutschland GmbH (2011)

Die prozentuale Verteilung der Marktanteile auf die Fernsehsender zeigt die Tabelle 2. Alle restlichen Fernsehsender haben Marktanteile von ≤ 1Prozent und sind infolgedessen nicht mit aufgeführt. Erkennbar ist, dass die Sender

Das Erste, ZDF, die Dritten Programme der ARD, RTL und Sat. 1 über die Jahre hinweg Marktführer sind. Jedoch gehen die Anteile zurück, was „(…) auch auf den Markteintritt einer immer größeren Anzahl an Sendern zurückzuführen“ ist (Peters et al. 2012, S. 72). Eine stetige Fragmentierung des Fernsehmarktes ist die Folge dieser Entwicklung (vgl. Peters et al. 2012, S. 72).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Marktanteile Fernsehsender von 2001 bis 2011

Quellen: Eigene Darstellung nach AGF/GfK Fernsehforschung (2007) und Media Perspektiven Basisdaten (2001, 2005, 2010, 2011)

Laut Peters et al. (2012) ist diese Entwicklung bei einer Betrachtung der Tagesreichweiten noch deutlicher zu erkennen. Das AGF-System versteht unter Tagesreichenweiten die Seher eines Senders, „die in einem Nutzungsvorgang („konsekutiv“) eine Minute und mehr pro Tag Kontakt haben.“ (Peters et al. 2012, S. 72). Im direkten Vergleich der Jahre 2000, 2005 und 2010 ist ein Einbruch der Reichweiten bei allen großen Sendern zu verzeichnen (vgl. Peters et al. 2012, S. 72). Die Reichweiten der kleinen Sender nehmen hingegen konstant zu (vgl. Peters et al. 2012, S. 72). Tabelle 3 veranschaulicht diese Entwicklung anhand der Seher in Millionen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Nettoreichweiten der Fernsehzuschauer 2000, 2005 und 2010

Quelle: Eigene Darstellung nach Peters et al. (2012)

Bei der Gegenüberstellung der zwei Kennzahlenentwicklungen stellen Peters et al. (2012) fest, dass die Rückgänge der Marktanteile nicht so gravierend sind, wie die der Tagesreichweiten. Die Autoren führen diesen Verlauf darauf zurück, „(…) dass die Sender zwar von wenigen Zuschauern gesehen werden, die Verweildauer aber bei den dargestellten Sendern ausnahmslos ansteigend ist.“ (Peters et al. 2012, S. 72). In Abbildung 4 sind die Verweildauern in Minuten der letzten zehn Jahre aufgeführt. Es werden, wie bei der Definition der Tagesreichweite, alle Zuschauer einbezogen, die einen Sender mindestens eine Minute am Stück genutzt haben (vgl. Peters et al. 2012, S. 77).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Tägliche Verweildauer Fernsehen in Minuten von 2001 bis 2011

Quelle: Eigene Darstellung nach AGF/GfK Fernsehforschung (2012)

Hier ist der Anstieg von 275 Minuten in 2001 auf 324 Minuten in 2011 deutlich erkennbar.

Werden die Minutenangaben den verschiedenen Altersklassen zugeordnet, wie Tabelle 4 zeigt, fällt auf, dass die ältere Generation ab 50 Jahren seit 2000 einen höheren Anstieg der Verweildauer vorzuweisen hat, als die 14- bis 29-Jährigen (vgl. Peters et al. 2012, S. 73). Grund dafür ist das selektivere Verhalten bei der Medienwahl der jüngeren Generation (vgl. Peters et al. 2012, S. 73). Im Gegensatz zu den älteren Rezipienten, nutzen sie in ihrer Freizeit neben dem Fernsehen zunehmend andere Medien (vgl. Peters et al. 2012, S. 73).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4: Verweildauer beim Fernsehen nach Altersklassen

Quelle: Eigene Darstellung nach Peters et al. (2012)

Diese Ausführungen haben einen Überblick über den Fernsehmarkt und seine Zuschauer gegeben. Nachfolgend wird anhand der Erläuterungen zum Relevant Set die individuelle Fernsehnutzung betrachtet und in Kapitel 4.2 mit dem Electronic Program Guide eine technische Innovation beschrieben.

4.1 Relevant Set

Ein Konzept, mit dem individualisierte Fernsehnutzung identifiziert werden kann, ist die Analyse des Relevant Set (vgl. Peters et al. 2012, S. 74). Es erklärt, „(…) wie viel Prozent der Fernsehnutzung durch wie viele Programme zustande kommen.“ (Beisch u. Engel 2006, S. 374). Grundlage für die Ausführungen in der vorliegenden Arbeit sind die Analysen von Peters et al. (2012). Ihr Relevant Set setzte sich aus Sendern zusammen, die 80 Prozent der individuellen Fernsehnutzung erklären, indem die meistgenutzten Sender eines Zuschauers aufaddiert werden (vgl. Peters et al. 2012, S. 74). Die Datenerhebung findet immer im Mai statt, da in diesem Monat in der Regel keine besonderen Sportereignisse stattfinden, die im Fernsehen übertragen werden und die Ergebnisse verzerren würden (vgl. Peters et al. 2012, S. 74).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Anzahl Fernsehsender im Relevant Set

Quelle: Eigene Darstellung nach Peters et al. (2012)

Die Entwicklung des Relevant Set in Abbildung 5 zeigt, dass ein Rezipient durchschnittlich über ein Relevant Set von fünf Sendern verfügt. Es reichen demnach nur fünf Sender aus, um 80 Prozent der individuellen Fernsehnutzung zu bilden und ist damit eine Bestätigung für den dritten Teilprozess in Becks Individualisierungsthese.

[...]

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Gibt es einen Trend zur Individualisierung des Medienkonsums?
Untertitel
Aufarbeitung der aktuellen medienökonomischen Diskussion
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Kommunikationswissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
52
Katalognummer
V293837
ISBN (eBook)
9783656915546
ISBN (Buch)
9783656915553
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medienökonomie, Individualisierung, Medienkonsum, Kommunikationswissenschaft, Uses-and-Gratification-Approach, Relevant Set, Electronic Program Guide, Fragmentierung, User Generated Content, Nutzungsmotive, Choice Process Modell, Fernsehprogrammauswahl, Individualisierungsthese
Arbeit zitieren
Katrin Junkermann (Autor:in), 2012, Gibt es einen Trend zur Individualisierung des Medienkonsums?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293837

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