Es wird häufig darauf hingewiesen und ist auch an vielen Stellen im Text deutlich, dass Aristoteles bei der Behandlung der Gerechtigkeit im fünften Buch der Nikomachischen Ethik dem großen Entwurf Platons in der Politeia etwas entgegensetzen wollte. So zutreffend diese Beobachtung auch sein mag, bleibt nicht zu übersehen, dass Aristoteles’ Fragestellung in eine fundamental andere Richtung als bei Platon zielt. In der Politeia wird ein dem Anspruch nach vollkommenes Staatsmodell gezeichnet, das allen in ihm versammelten Menschen diejenige Bestimmung zuweist, die ihrer Eigenart am ehesten entspricht und damit ein möglichst reibungsloses, konfliktfreies und mithin gerechtes öffentliches Leben garantieren soll.
Die Nikomachische Ethik dagegen geht grundsätzlich vom einzelnen Menschen aus und untersucht die Bedingungen, unter denen ein jeder seine eigenen Charakteristika finden und nach deren Verwirklichung ein tugendhaftes, glückliches Leben führen kann. Unter den Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit, Freigiebigkeit usw. hält die Gerechtigkeit aber in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung: zum einen hat sie die Doppelbedeutung als areth teleia insofern sie alle Tugenden in ihrer Bezogenheit auf andere in sich vereinigt (allgemeine Gerechtigkeit) sowie als Einzeltugend insofern sie gegen die Untugend des Mehr-haben-wollens widerständig ist (partikuläre Gerechtigkeit). Zum anderen, daraus hervorgehend, ist ihre für den Tugendbegriff in der NE übliche Charakterisierung als Mitte zwischen zwei Extremen entgegen Aristoteles’ Bemühung1 problematisch, wo nicht gar unmöglich. Bezeichnend für die Gerechtigkeit, sei sie allgemein oder partikulär, ist ihre Bezogenheit auf eine Gemeinschaft von Personen oder zumindest das Verhältnis mindestens zweier Menschen zueinander. Aus dieser Funktion heraus ist es für Aristoteles ein nur konsequenter Schritt, einen Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen zu werfen, unter denen eine gerechte Grundhaltung in seinem Sinne zu verwirklichen ist.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der eudaimonistisch relevante Ort der Gerechtigkeit: die Polis
- Gerechtigkeit und Autarkie
- Das Gesetz - Ursprung und Funktion
- Das Wesen des Polisrechts
- politikon dikaion - physikon dikaion
- Polisrecht im allgemeinen und besonderen
- Unterwegs zur Tat
- Analyse: Die Kriterien
- Resultat: Die Kategorien
- Das Urteil
- Der status qualitatis
- recht-gerecht-billig-gut?
- Abschließende Bemerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit widmet sich der Analyse von Gerechtigkeit im Kontext von Staat und Individuum in Aristoteles' Nikomachischer Ethik. Sie verfolgt das Ziel, die ethische und politische Dimension der Gerechtigkeit in Aristoteles' Werk zu beleuchten und deren Relevanz für die Gestaltung eines gerechten Gemeinwesens zu ergründen.
- Die Beziehung zwischen individueller Eudaimonie und Gerechtigkeit in der Polis
- Die Rolle des Gesetzes und seiner Funktionen in der Verwirklichung von Gerechtigkeit
- Die Unterscheidung zwischen „politikon dikaion“ und „physikon dikaion“ im Kontext von Polisrecht
- Die Anwendung des Rechtsbegriffs auf konkrete Handlungen und deren Bewertung
- Die Bedeutung von „status qualitatis“ in der juristischen Beurteilung von Taten
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung setzt den Fokus auf die Bedeutung der Gerechtigkeit im Werk von Aristoteles im Vergleich zu Platon und skizziert die zentralen Themen und Fragestellungen der Arbeit. Sie betont, dass Aristoteles' Perspektive auf Gerechtigkeit stärker auf den Einzelnen und seine Lebensführung ausgerichtet ist.
- Der eudaimonistisch relevante Ort der Gerechtigkeit: die Polis: Dieses Kapitel untersucht die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und dem Konzept der Eudaimonie (Glückseligkeit). Es beleuchtet die Bedeutung der Autarkie (Selbstgenügsamkeit) und wie diese im Rahmen einer Gemeinschaft, der Polis, verwirklicht werden kann.
- Das Wesen des Polisrechts: Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Grundzügen des Polisrechts, insbesondere mit der Unterscheidung zwischen „politikon dikaion“ (Recht, das auf das Gemeinwohl zielt) und „physikon dikaion“ (natürliches Recht, das auf die menschliche Natur basiert).
- Unterwegs zur Tat: Dieses Kapitel analysiert die Kriterien für die Anwendung des Rechtsbegriffs auf konkrete Handlungen und zeigt die verschiedenen Kategorien von Gerechtigkeit auf, die sich aus der Analyse ergeben.
- Das Urteil: Dieses Kapitel befasst sich mit der juristischen Beurteilung von Taten und dem Konzept des „status qualitatis“, welches die Qualität und Rechtmäßigkeit einer Handlung bewertet.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter, die in dieser Arbeit behandelt werden, sind Gerechtigkeit, Polis, Eudaimonie, Autarkie, Recht, Gesetz, „politikon dikaion“, „physikon dikaion“, Handlung, Tat, Urteil, „status qualitatis“. Die Arbeit beschäftigt sich mit der philosophischen und politischen Relevanz des Gerechten in Aristoteles' Nikomachischer Ethik und zeigt auf, wie diese Konzepte in der Praxis umgesetzt werden können.
- Arbeit zitieren
- Sven Behrisch (Autor:in), 2002, Gerechtigkeit, Staat und Individuum in Aristoteles' Nikomachischer Ethik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29407