Street Art. Der öffentliche Raum als Medium


Facharbeit (Schule), 2015

51 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Street Art - Was ist das?
3.1 Geschichtliche Wurzeln
3.2 Begriff und Definition von Street Art
3.3 Bildlichkeit - die Differenz zu Graffiti
3.4 Vergänglichkeit
3.5 Der Reiz des Verbotenen - Trespass
3.6 Diskursraum - Die Stadt als Arbeitsraum
3.7 Einflüsse

4. Variationen der Street Art
4.1 Kreidezeichnungen
4.2 Décollage
4.3 Plakate oder Paste-Ups
4.4 Direkter Farbauftrag
4.5 Roll-Ons
4.6 Murals
4.7 Cut-Outs
4.8 Scherenschnitte
4.9 Stencils
4.10 Stickers
4.11 Kacheln
4.12 Tafeln
4.13 Installationen
4.14 3D
4.15 Diverses

5. Street Art - Illegal versus Legal

6. Street Art - Vandalismus oder Kunst?

7. Konsum und Kommerz / Kunst und Kommerz

8. Zwei Vertreter der Szene
8.1 JR
8.2 Banksy - Der Mann ohne Gesicht

9. Praktischer Teil

10. Fazit

11. Literatur- & Quellenverzeichnis

1. Vorwort

Eine Matura-Arbeit im Fach Bildnerisches Gestalten stand für mich aus verschiedenen Gründen schon relativ früh fest. Dies insbesondere, da dieses Fach es mir ermöglichen würde, den geforderten schriftlichen Teil, mit einem künstlerischen, praktischen zum gewählten Thema zu kombinieren und somit zu vertiefen Hauptsächlich das Buch über den Street Art Künstler Banksy, das mein Bruder 2009 aus New York mitgebracht hatte und dessen Dokumentarfilm Exit through the gift shop (2010) sowie auch der sehr gut recherchierte und schön gestaltete Artikel in der Kunstzeitschrift a rt zum Thema Street Art und den Künstler JR hatten vor rund 3 Jahren mein Interesse geweckt und damit den Wunsch verstärkt, mich intensiver mit diesem Thema - mit der Kunst meiner Generation - auseinanderzusetzen.

An einem Abendessen im vergangenen Winter und einer Diskussion um das Thema Maturarbeiten, unter anderem der meinigen, haben mich dann Bekannte bezüglich der Themenwahl Street Art bestärkt.

An dieser Stelle möchte ich folgenden Personen für ihre Unterstützung danken, ohne die es nicht möglich wäre, meine Arbeit in dieser Form zu präsentieren: Speziell danke ich meiner Betreuerin, Katrin Furler, die mir engagiert den Weg wies, doch auch stets genügend Freiraum für meine Ideen und Entwicklung bot. Des Weiteren gilt mein besonderer Dank Alexander Höfer und Luca Höfer, die mich in meiner Themenwahl entschieden beeinflusst haben und über das letzte Jahr mit kreativen Beiträgen begleitet und überdies mit einer Street-Art-Tour in Shoreditch, London beschenkt haben. Natürlich möchte ich auch meiner Familie herzlich danken; sie hat mich während des gesamten Arbeitsprozesses, vor Allem beim praktischen Teil, stets tatkräftig unterstützt und motiviert.

Zürich, 20. November 2014 Justine Wachtl͒

2. Einleitung

Der Begriff Street Art beinhaltet einen sehr grossen Interpretations- und Vorstellungsraum. Street Art ist eine äusserst facettenreiche Kunstform, die sich stets weiterentwickelt und gewissermassen neu erfindet.

Wichtige Aspekte dieser Kunst sind, dass sie nicht nur für jeden verständlich ist - Jung und Alt, Gebildet und Ungebildet - sondern auch, dass sie für jeden zugänglich ist.

Street Art spielt sich, wie der Name schon sagt, auf der Strasse ab; somit ist der öffentliche Raum das Medium. Dies kann auch Nachteile mit sich bringen, was aber diese Kunst gleich- zeitig umso reizvoller macht. Ein weiteres Attribut von Street Art ist die Vergänglichkeit ihrer Werke.

Weil die Street Art gerade so reich an Variationen ist, werden in der vorliegenden Arbeit, nach einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung, die zurzeit wichtigsten Techniken vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Des Weiteren werden zwei berühmte und gänzlich unterschiedliche Street Art-Akteure - Banksy und JR - vorgestellt, was wiederum die Vielfalt dieser Kunstrichtung verdeutlichen soll.

In den Kapiteln Legal vs. Illegal sowie Kunst und Kommerz werden Aspekte wie antikonsu- mistische Grundsätze und Street-Credibility oder die Verwendung, respektive die damit ein- hergehende Problematik von typischer Street Art-Produkten in der kommerziellen Vermark- tung behandelt.

Abgeschlossen wird diese Arbeit mit dem praktischen Teil - einem Einblick und einer Schilde- rung des Findungs- und Arbeitsprozesses der 3 Werke in Stencil Technik - sowie einem per- sönlichen Fazit.

3. Street Art - Was ist das?

The public needs art, and it is the responsibility of a ’ self-proclaimed artist ’ to realize the public needs art, and not to make bourgeois art for the few and ignore the masses. … I am interested in making art to be experienced and explored by as many individuals as possible with as many different individual ideas about the given piece with no final meaning attached. The viewer creates the reality, the meaning, the conception of the piece. I am merely a middleman trying to bring ideas together.1

Street Art ist gewissermassen die Weiterentwicklung des Graffiti. Dabei handelt es sich um „… künstlerische Objekte, die imöffentlichem Raum angebracht werden “. …2. Es sind illegale, teilweise gewaltige und kreative, künstlerische Eingriffe in der Öffentlichkeit. Oftmals han- delt es sich um Motive, welche mit Hilfe Schablonen und Spraydose angefertigt werden, pla- katierte Wände, beklebte Ampeln oder Strassenschilder, bemalte Kaugummis, die von Fuss- gängern weggeworfen und plattgedrückt worden sind oder kleine Mosaik-Figuren, welche an Hauswände angebracht wurden. Die kreativen Variationen von Street Art sind riesig, es gibt unzählige Techniken und Möglichkeiten; also eine schier grenzenlose Kunstform.

In den letzten Jahren hat sich das Umfeld der Urban Art, wie Street Art auch genannt wird, enorm vergrössert. In allen Metropolen ist diese Kunstform heute zu finden - ob New York, London, Paris, Berlin, Los Angeles oder Tokyo. Doch auch in kleineren Städten hat der Street Art Kult seinen Platz gefunden wie z.B. Bristol, Ljubljana oder Dortmund. Bis anhin zwar eher ein eher westliches Phänomen, das aber mit Sicherheit bald weitere Gebiete erobern wird. Street Art kann folglich als „translokales Phänomen“ bezeichnet werden.

3.1 Geschichtliche Wurzeln

Die exakte Entstehungszeit der Street Art ist nicht klar zu datieren. Einerseits hat sich diese „neue“ Kunst in den verschiedensten Städten der Welt weiter- und neuentwickelt und anderseits nimmt die Street Art ihre Einflüsse aus unterschiedlichen Quellen und kulturgeschichtlichen Entwicklungen. „ In der Literatur werden verschiedene Kunstgenres als Vorreiter bzw. Einflussquelle angesehen. Von den Situationistenüber Dadaismus bis hin zu Comics, der Punkbewegung und dem American Graffiti.“3

Schon in der Stadt Pompeji, die bereits 79 n. Chr. unterging, ist eine lebhafte Graffiti-Kultur, die Aufschluss über jegliche Lebenssituationen der Menschen des Römischen Reichs geben, erhalten.

Street Art darf als Tochter des Graffiti bezeichnet werden. Bereits in den 1930er-Jahren wurden in den USA Graffitis angefertigt, oft von sogenannten Gangs. Der Höhepunkt dieser Ganggraffitis begann in den 1970er- und ebbte in den 1990er-Jahren ab. Dabei handelt es sich hauptsächlich um sogenannte Taggs. Diese Taggs sind im Grunde genommen nur die Namen der Hersteller. Hauptmotivation ist, seinen Namen im Stadtviertel möglichst oft zu

platzieren, um so eine gewisse Stellung in der Szene zu erlangen. Dabei galt: Quantität vor Qualität. Diese Punkte tauschten aber nach einer gewissen Zeit die Plätze, denn nur Taggs reichten für eine Machtsicherung nicht aus. Daraus entwickelte sich schliesslich, ein viel aufwendiger gestaltetes, oft sehr bunt gesprühtes Schriftbild, das Piece.

Die Graffiti-Kultur hat sich im europäischen Kulturraum zunächst völlig unabhängig von der Writing-Kultur in den USA entwickelten. Somit entstanden komplett andere Ausdrucksformen. Im Gegensatz zum amerikanischen Graffiti, bildete nicht der Schriftzug oder ein Name das Grundelement der Graffitikomposition, sondern bildliche Elemente.

Hierbei war besonders die Metropole Paris innovativ. Dem Franzosen G é rard Zlotykamien wird zugerechnet, als erster Künstler überhaupt im öffentlichen Raum künstlerisch tätig geworden zu sein. Zuerst mit Kreide oder Pinsel, später auch mit Sprühfarbe, malte er erstmals 1963 Strichfiguren, die É ph é m è res (die Vergänglichen/vom baldigen Verschwinden Bedrohten) auf Mauern und Wände in Paris.4

Blek le Rat verteilt ebenfalls seit Anfang der 1980er-Jahre in Paris, seine Schablonengraffiti auf diversen Wänden, nachdem er sich - nach eigener Aussage - eingestehen musste, dass ihm die amerikanische Writing Technik nicht lag.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Blek le Rat, Man and Girl, Paris/F, 1992

Seit 1977 sprüht Harald Naegeli, der Sprayer von Zürich, seine Strichfiguren auf unzählige Wände in diversen Grossstädten. „ Es war ein Protest gegen die Unwirtlichkeit der Städte, der Architektu r“, sagt der inzwischen 74-jährige Künstler.5 Zu jener Zeit, galten jedoch seine Strichfiguren, welche mit elegantem Schwung aus der Hand gezogen werden, mehr als Schmierereien, denn als Kunst. Wegen seiner Graffitis wurde Naegeli 1981 in Zürich zu neun Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Diese Strafe musste er 1984 absitzen, nachdem er nach Deutschland geflohen und ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden war. Heute ist er ein anerkannter Künstler und zählt zu den Gründern der Street Art. Mittlerweile sind seine Werke, die einen ausgeprägten Wiedererkennungseffekt haben, von der Stadt Zürich als schützenswert erachtet worden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

H. Naegeli, Zürich, 1978

1980 tauchten die ersten Kreidezeichnungen von Keith Haring in der Untergrundbahn von New York auf. Jener übt, obwohl schon 1990 verstorben, bis heute einen starken Einfluss auf die Szene aus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Keith Haring, New York/USA, 1983

1989 schafft Shepard Fairay in Los Angeles den Einstieg in die Szene mit seinem visuellen Obey. Dabei kombiniert er den Schriftzug Obey, was so viel bedeutet wie horch, hör mir zu oder pass auf, mit dem markanten Portrait von Andre the Giant (Andr é Ren é Roussimoff 1946 - 1993), einem professionellen französischen Westler und Schauspieler6. Mit Stickern, Plakaten und Schablonen wird dieses Motiv immer neu und an unzähligen Orten platziert. Die auffällige Vermehrung ähnelt einer Werbekampagne. Jedenfalls gelingt es Shepard Fai- rey damit die Marke Obey zu etablieren. Ende der 1990er-Jahre beginnt er auch in New York, überlebensgrosse Figuren zu malen und seine ausgeschnittenen Figuren zu kleben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Shepard Fairay, Miami/USA, 2012

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Fairay vor Obama Wahlplakat, 2008

Zeitgleich mit Fairay beginnt, der wohl heute bekannteste Street Artist, Banksy seine Arbeiten zu sprühen und kleben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Banksy, Boston/USA, 2010

Street Art wird immer beliebter. Dies ist vor allem in den Metropolen wie Berlin und London zu spüren. Um die Jahrtausendwende kommt es zu einem regelrechten Boom von Street Art. Täglich werden, von immer mehr Akteuren, neue Werke an Strassenwände angebracht. Es kann behauptet werden, dass die Street Art von dieser Inflation, der Überschüttung mit Taggs und Pieces in den Städten, an Aufmerksamkeit gewonnen hat, und sich so weiterent- wickeln konnte. Wenn nämlich alles in der Stadt ähnlich gestaltet ist, selbst das illegale Graf- fiti, wird plötzlich eine Schablone, ein einfaches Kreidemännchen zur visuellen Sensation.

Somit kann festgestellt werden, dass das Konzept des illegalen, kreativen und künstlerischen Eingriffs in den urbanen Raum eine Kulturtechnik ist, die vom Graffiti übernommen wurde. Die Akteure und Techniken finden sich in der Street Art wieder. Es gibt aber auch Künstler, die direkt in die Street Art Szene eingestiegen sind, ohne Hintergrund aus der Graffitiszene.

3.2 Begriff und Definition von Street Art

Eine einheitliche Definition dieser Kunstform existiert nicht wirklich und wird es vermutlich nie geben. Für das Phänomen selbst gibt es mehrere Begriffe, wie z.B. Urban Art oder Post Graffiti. Seit ca. 2004 ist der Begriff Street Ar t der am häufigsten verwendete für diese Kunst- szene, etabliert durch die Medien, um der ganzen Bewegung einen Namen zu geben.

Heinicke und Krause (2010) schreiben in ihrem Buch Street Art - Die Stadt als Spielplatz:

Was (...) unter Strassenkunst bzw. Street Art umfasst alle visuellen Ausdrucksformen „ inoffi zieller “ Besetzung durch Zeichen und Codes auf den Oberflächen des urbanen Raums (mit Ausnahme „ klassischer “ Graffiti.)“

Der Internetblog German-Street-Art schliesst hingegen viel mehr in diesen Begriff ein, nämlich alle Kunstformen, von Tanz bis Malerei, die in der Öffentlichkeit, also auf der Strasse, vollbracht werden, mit anderen Worten - Kunst im öffentlichen Raum: „ Street/Urban art is any art developed in public spaces. The term can include graffiti artwork, stencils, sticker art, and street installations.

Es wird deutlich, dass Street Art als Begriff und in seiner Bedeutung sehr unterschiedlich aufgefasst, interpretiert und definiert wird. Zusammenfassend halte ich es für richtig, sich auf eine Definition zu stützen, die Street Art in ihrer Art und Methode nicht einengt, sondern offen lässt, inwiefern man künstlerisch im öffentlichen Raum aktiv werden kann.

2007 definiert Jan Gabbert in seiner Masterarbeit Street Art sehr genau:

Street Art ist illegale, künstlerische Intervention im urbanen Raum. Sie richtet sich gegen hegemoniale Codes der Stadt und wendet sich - mitunter subtil und provokant dialogisch an einöffentliches Publikum

Ebenfalls fasst er für seine Definition die Merkmale von Street Art kurz und bündig zusam- men:

1. Street Art sind hauptsächlich Charaktere, Zeichen und Symbole, deren visuelle ine illustrative, flexible und wieder erkennbare Bildsprache ist.
2. Street Art spielt mit dem urbanen Raum, dem Ort, der Umgebung und dem Vorhandenen.
3. Street Art wird in Eigeninitiative autonom hergestellt, ist nicht kommerziell und ist selbst finanziert.
4. Street Art autorisiert sich selbst. Beim Eingriff in den öffentlichen Raum wird nicht um Erlaubnis gefragt.
5. Street Art ist kostenlos zugänglich und ausserhalb etablierter Orte der Kunstvermittlung anzutreffen.
6. Street Art ist ein globales Phänomen.

3.3 Bildlichkeit - die Differenz zu Graffiti

Street art is more about interacting with the audience on the street and the people, the masses. Graffiti isn't so much about connecting with the masses: it's about connecting with different crews, it's an international language, it's a secret language. Most graffiti you can't even read, so it's really contained within a culture that understands it and does it. Street art is much more open, It's an open society.” - Faile7

Graffiti is a code. Graffiti isn't easy to decipher unless you're in the world of the artists. The whole point of doing graffiti is to encode your name in a very unique style that not many people can decipher. So that polarises people. You either understand graffiti and you're like, 'That's fucking awesome', or you're like, 'I don't get it'. The people that don't get it aren't necessarily not interested, they just can't decipher what graffiti is about. Street art doesn't have any of that hidden code; there are no hidden messages; you either connect with it or you don't. There's no mystery there. - The Wooster Collective8

Ein wichtiger Unterschied zwischen Street Art und Graffiti ist die Intention, meint Kai Jacob, Autor des Buches Street Art in Berlin. „ Die Street Artisten wollen ihre Meinung kundtun und mit den Menschen der Stadt kommunizieren. Graffitis hingegen dienen vor allem als Revier- markierung.

Anders als die meisten Graffitis wird Street Art mittlerweile von einem grossen Teil unserer Gesellschaft als Kunst akzeptiert, ist deswegen auch schon teils kommerziell geworden, was eigentlich ein Widerspruch ist.

Seit einigen Jahren wird das positive Image der Street Art sogar für Guerilla-Marketing ein- gesetzt. Doch trotz Galerien und trendigen Werbekampagnen: Ernst genommen werden in der Szene nur Künstler, die neben ihrer Arbeit im Atelier auch weiterhin auf Hauswänden ar- beiten.

Die Kunst muss raus - auf die Häuserwände “, sagt Emess und spricht damit das alte linke Motto aus: Reclaim the Streets. Charaktere spielen bei der Street Art eine zentrale Rolle und dienen als starkes Differenzkriterium. Es gibt zwar auch beim Graffiti Charaktere, doch tra- gen die Buchstaben die zentrale Rolle. Die Differenz von Street Art und Graffiti ist der Über- gang von Buchstaben zum Charakter. Von Schriftzügen oder auch bildhaften Schriftzügen zum Bild. Die Charaktere der Urban Art funktionieren als solche völlig eigenständig auf der Wandoberfläche. Sie haben sich zu einer neuen Welt geformt, die eine Geschichte erzählt, die völlig frei gelesen und interpretiert werden kann. Das Bild der Street Art weist deshalb eine klarere Lesbarkeit auf, als die Hieroglyphen des Graffiti, da die visuellen Codes der Graf- fitis ausserhalb der Szene kaum zu lesen sind. Die Street Art hingegen ist für Jeden lesbar und öffnet Raum für Interpretationen. Hinzukommt, dass die urbane Kunstform auf einer viel grösseren Variabilität in Bezug auf Gestaltung basiert. So kann ein Motiv in seinem Ur- sprung immer gleichbleiben und wiedererkennbar sein, kann aber gleichzeitig den verschie- denen Kontexten angepasst werden und unterschiedliche Gestalt annehmen.

Kurzübersicht über die unterschiedlichen Merkmale der Street Art und des Graffiti Writing:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.4 Vergänglichkeit

Man könnte sagen, dass Street Art bereits Vergangenheit ist. Diese Kunst, die eigentlich die Kunst unserer Zeit ist, also der Gegenwart, liegt doch schon zurück. Street Art ist keine Kunst für die Ewigkeit. Die Halbwertszeit von Street Art im öffentlichen Raum ist äusserst gering. Schnell kann ein Werk teilweise oder ganz entfernt, verändert, überklebt oder sogar von Sammeln entwendet werden. Zudem sind die Werke der Verwitterung ausgesetzt. Falls sich ein Werk gegen menschliche Einwirkungen behaupten konnte, besteht immer noch die Gefahr, von Wind und Wetter zerstört zu werden.

Die Szene selbst hat eigentlich wenig gegen diese Vergänglichkeit einzuwenden, ganz im Ge- genteil, spielt diese eine wichtige Rolle. Die Vergänglichkeit ist geradezu reizvoll und ein As- pekt von zentraler Bedeutung. Der Akteur Boxi dazu: „ Es lohnt sich viel mehr, der Ö ffentlich- keit kostenlos etwas Zerbrechliches zu geben, es ihr auszusetzen und irgendwann verwittern zu lassen, als Arbeiten zu machen, die ganz langsam austrocknen bis sie irgendjemand eines Tages restauriert.9 Vergänglichkeit wird für Präsenz auf der Strasse in Kauf genommen. Gould meint: „ Die Vergänglichkeit ist eine der wesentlichen Qualitäten von Street Art. Man kann sich auf der Strasse nicht ausruhen, daändert sich so viel. Das spornt einen auch an, immer wieder weiterzumachen. “ 10

Vergänglichkeit kann auch Motivation für die eigene Arbeit sein. In der „schnellen“ Vergänglichkeit wurzelt die unglaubliche Innovationsgeschwindigkeit dieser Szene. Die Notwendigkeit, immer neue Sachen zu machen, um im Strassenbild präsent zu bleiben, ergibt en passant die Möglichkeit, täglich Neues auszuprobieren. Jede Idee hat die Chance, umgehend in der Praxis getestet und umgesetzt zu werden.

„ Jedes Streetart-Werk ist vom Künstler oder der Künstlerin selber an Ort und Stelle ange- bracht worden. Wennüberhaupt, dann verwirrt die Streetart gerade die Welt der Kunst. Sie erscheint greifbarer, ihre Produzenten näher und durch den Zuschnitt auf einen Ort, den man mit anderen teilt, konkreter. Durch spezielle Wissensaneignung werden die Produzenten der Streetart zu Raumexperten und befinden sich auf der stetigen Suche nach Perspektiven in dem sie umgebenden Raum. Auch die Werke erleben dadurch eine Professionalisierung im Hinblick auf die verwendeten Materialien und Untergründe und die breitere Rezeption. Streetartisten erleben einen erweiterten Handlungsraum, da sie nicht passiv imöffentlichen Raum verkehren, sondern die sie umgebene Stadt unter dem Gesichtspunkt des Eingreifens und Verändern betrachten. “ 11

Street Art entwickelt sich zusammen mit der Stadt, die durch den lebendigen Strom ihrer Bewohner und Besucher einem stetigen Wandel unterliegt.

3.5 Der Reiz des Verbotenen - Trespass

Die menschliche Gesellschaft ist ein von Grenzsetzungen eingeschlossenes Gebilde. Eine Ge- sellschaft, die nach Regeln und Ordnung in ihrer Umgebung strebt. Natürlich erwarten wir auch von Künstlern, dass sie jene Grenzen respektieren, um die Entropie unserer Welt in Schach zu halten. Doch sind wir auch bereit, den Künstlern etwas mehr Freiraum zu bieten und ihnen, wenn auch nur inoffiziell, zu erlauben, die Spielregeln zu brechen, da sich nur so Kreativität entwickeln kann.

Der Akt der Grenzüberschreitung, des einen Schritt zu weit gehen, auch bekannt unter unbe- fugtes Betreten spielt eine zentrale Rolle in der urbanen Kunstszene. Im Englischen steht da- für das Wort trespass; es lässt sich ableiten aus der lateinischen Vorsilbe trans - jenseits - und passus - Schritt. Ursprünglich trägt es die Bedeutung Übertretung, Verstoss und Sünde, wie uns seine Häufigkeit in der Bibel vor Augen führt. Im 15. Jahrhundert, nahm trespass auch die Bedeutung des unbefugten Betretens an. Damals benutzte das schottische Parla- ment diesen Ausdruck erstmalig für seine Waldgesetzte. Insofern beinhaltet trespassing auch heute noch die alte, fast schon erotische Nähe zur Sünde, die dort beginnt, wo der Verstoss gegen Gesetze, also die moralische zur juristischen Frage wird.

Die Missbilligung am unerlaubten Betreten fremden Grund und Bodens ist in erster Linie ju- ristischer Natur, doch allzu oft haben die Debatten auch den Beigeschmack moralischer Er- regung. Trespassing steht derart im Ruf des Destruktiven und Verdorbenen, dass nicht nur den Übeltätern Missverhalten angelastet wird, sondern auch denjenigen, die dieses tolerie- ren.

Doch liegt es in der Natur des Tabus, des Verbotenen, dass für gewisse Menschen ein Schild wie BETRETEN VERBOTEN eine starke Anziehungskraft ausübt. Wenn das Betreten gesetzes- widrig ist, so kann der Anreiz, sich dort aufzuhalten, umso grösser sein. Oftmals wird der re- bellische Geist eines Individuums erst geboren, wenn es mit Verboten konfrontiert wird. Das Verbotene löst einen Reiz aus, ein Bedürfnis, das nur dann gestillt ist, wenn die Grenze über- schritten worden ist.

„ Street Art basiert einerseits auf der neueren Tradition der Graffiti und anderseits der esote- rischen Tradition der Moderne, den Status quo zu hinterfragen. Sie stellt die zur Norm ge- wordene Stadterfahrung auf den Kopf.12 Zusammenfassend also nimmt jede Art von urba- ner Kunst ihren Anfang im Reiz des Verbotenen, der jedem „Betreten verboten“-Schild in- newohnt; so ist ein Graffiti, in seiner ursprünglichen Form, auch nichts anderes als Protest und Ausdruck am Widerstand gegen Befehlshaber. Urban Art ist jedoch mehr als mutwillige Zerstörung, Vandalismus und Übergriffe auf das Eigentum Anderer, sie ist nicht destruktiv, sondern produktiv: Gerade verfallene, verwahrloste Wände laden Sprayer dazu ein, diese zu verändern - durch Farbe und die eigene Signatur individuell zu gestalten - kurz: diese sich anzueignen.

Ein Grundgedanke zu Street Art und trespassig: Graffiti und ähnliche ästhetische Interven- tionen sind zwar allesamt Ausdruck des Widerstands gegen Autoritäten. Jede unerlaubte oder öffentliche Geste, sei es Aktivismus oder Avantgarde, Zerstörung, Schmiererei oder grosse Kunst - ist aber hauptsächlich als Beitrag zu verstehen. Stets richtet er sich an ein Publikum, selbst das codierte, oft nicht identifizierbare Graffiti, obschon es scheint, dass die- ses manchmal nur an Akteure derselben Subkultur adressiert ist. Kommunikation ist für das menschliche Wesen unumgänglich wie das Hinterlassen von Zeichen. Die ursprünglichste Darstellung dieser beiden Impulse ist in unserem ältesten Kulturerbe, der Höhlenmalerei, erhalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hillsdale Mall,

S. Mateo, CA/USA, 1994

[...]


1 Haring, Keith, Journal entry,14. October1978

2 Wilms, Claudia, Sprayer im White Cube, Street Art zwischen Alltagskultur und kommerzieller Kunst, Tectum Verlag ,Marburg,2010, S.13

3 http://hackenteer.com/street-art-geschichte/ (5.9.2014)

4 http://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti#Geschichte (5.9.2014)

5 http://www.spiegel.de/einestages/sprayer-harald-naegeli-schweizer-graffiti-kuenstler-auf-der-flucht-a-951229.html (5.9.2014)

6 http://en.wikipedia.org/wiki/André_the_Giant (5.9.2014)

7 Cedar Lewisohn, Street Art - The Graffiti Revoultion, Tate Publishing , London, 2008, S. 15

8 Cedar Lewisohn, Street Art - The Graffiti Revoultion, Tate Publishing, London, 2008 S. 63

9 „We ain’t going out like that“- Boxi in: D. Krause und C. Heinecke, Street Art - Die Stadt als Spielplatz, archiv Verlag , Braunschweig,2010, S.66

10 GOULD. In: D. Krause und C. Heinecke, Street Art - Die Stadt als Spielplatz, archiv Verlag , Braunschweig,2010, S.60

11 Wilms, Claudia, Sprayer im White Cube, Street Art zwischen Alltagskultur und kommerzieller Kunst, Tectum, Marburg, 2010, S. 50-51

12 E. Seno, C. McCormick, M.& S. Schiller, Wooster Collective / Trespass - Die Geschichte der urbanen Kunst / Taschen, Köln, 2010 / S. 16 http://titelmagazin.com/artikel/12/8439/mccormick--schiller--seno-trespass-die-geschichte-der-urbanen-kunst.html (29.9.2014)

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Details

Titel
Street Art. Der öffentliche Raum als Medium
Veranstaltung
Maturarbeit
Note
1
Autor
Jahr
2015
Seiten
51
Katalognummer
V294206
ISBN (eBook)
9783656919100
ISBN (Buch)
9783656919117
Dateigröße
3874 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Street Art, Urban Art, Streetart, Kunst, Banksy, JR, Streetartisten, öffentliche Raum, Shepard Fairey
Arbeit zitieren
Justine Wachtl (Autor:in), 2015, Street Art. Der öffentliche Raum als Medium, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294206

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