Das Spiel mit Präsenz

Zur Entdeckung und Darstellung von Gegenwärtigkeit auf der Bühne und in bühnenähnlichen Situationen


Diplomarbeit, 2014

133 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung
Die begehrte Präsenz
Zur Wortherkunft
Präsenz im Theater
Präsenz, Kunst oder Wissenschaft?
Präsenz durch Körpertechnik?
Präsenz durch Beobachtung?

Präsenz und die Zeit
Das Problem der Zeit
Das Bewusstsein der Zeit
Die Zeitformen nach Gebser
Die Zeitlosigkeit der magischen Struktur
Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur
Die Zeitlichkeit der mentalen Struktur
Die Zeit als Teilerin
Die Zeitfreiheit der integralen Struktur

Das Entdecken von Präsenz
Präsenz ist bereits da
Entdeckung durch Beobachtung
Die individuellen Erscheinungen
Die Lust von Ästhetik und Sinnlichkeit
Der mystische Einfluss der Beobachtung
Wie geht es Ihnen?
Die Wichtigkeit des Kontaktes
Die Beobachtung des Atems
Über Angst, Mut und Konfrontation
Über Wertung und Beurteilung

Das Darstellen von Präsenz
Das Darstellen des Selbst
Angewandte darstellende Kunst
Darstellung durch Spiel und Tanz
Die Wichtigkeit des Spiels
Wann ist das Spiel ein Spiel?
Über Spiel, Arbeit und Geld
Über Muster als Schutz und Grenze
Die Improvisation - das unvorhergesehene Neue
Der authentische Impuls
Über Handlung und Ziele
Die Reduktion des Zuviel
Die Wichtigkeit der Pause
Den Impulsen vertrauen

Zusammenfassung und Conclusio

Nachwort

Literaturverzeichnis

Abstract

Lebenslauf

Vorwort

Die Fähigkeiten der darstellerischen und musikalischen Improvisation faszinieren mich seit früher Kindheit. Die Möglichkeit, Emotionen, Bilder, Figuren, Orte, Gegenstände und ganze Geschichten in einer unglaublichen Geschwindigkeit – eigentlich einer Art Zeitlosigkeit – scheinbar aus dem Nichts entstehen zu lassen, wirken auf mich beinahe wie eine magische Gabe.

Ebenfalls beeindruckt bin ich von den Auswirkungen, welche die Erforschung der improvisatorischen und darstellerischen Qualitäten zutage bringt. Oft hat sich nach einem Schauspielworkshop oder einer intensiven Beschäftigung mit Musik, Stimme und Bewegung und dem Schritt aus dem Proberaum meine Wahrnehmung der Welt ‚da draußen‘ ein Stück weit geändert. Ich konnte nun ‚anders‘, intensiver wahrnehmen und beobachten und damit auch anders agieren und reagieren. Ich war mit meinem Sein und meinem Handeln mehr im Moment, ich war auf eine unerklärliche Art und Weise ‚anwesender‘.

Es ist nicht nur in einem künstlerischen Kontext angenehm und bereichernd, im Hier und Jetzt des gegenwärtigen Momentes zu sein, sondern auch im privaten und beruflichen Alltag. Die Faszination für das ‚Gegenwärtig-sein‘ an der Schnittstelle zwischen Alltag und Kunst hat mich dazu bewogen, mich nun auch theoretisch im Rahmen meiner Diplomarbeit für Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit dem Phänomen der Präsenz zu beschäftigen.

Ich wünsche Ihnen viel Lust beim Lesen.

Hinweise

- Die Anführungszeichen bei den bereits durch Einrückung gekennzeichneten direkten Zitaten sind eine Vorgabe der Universität. Wie mir mitgeteilt wurde, wäre die Plagiatsprüfungssoftware ohne diese Anführungszeichen verwirrt, was zusätzliche händische Arbeit zur Folge hätte, die es wohl zu vermeiden gilt.
- In dem abschließenden Kapitel ‚Zusammenfassung und Conclusio‘ beziehe ich mich auf Werke, die bereits in der Arbeit direkt oder indirekt zitiert werden. Das Kapitel verweist auf die Arbeit selbst und enthält daher keine weiteren externen Verweise.

Einleitung

Die begehrte Präsenz

Präsenz wird heutzutage in der darstellenden Kunst gefordert. Ein Schauspieler, eine Schauspielerin, ein Sänger, eine Sängerin, ein Tänzer, eine Tänzerin sollte präsent sein, im Idealfall in jedem Moment, in der er oder sie im Fokus der Darstellung oder der Performance steht.

Warum wird Präsenz begehrt? Was bewirkt Präsenz? Wie kann Präsenz ‚erzeugt‘ werden?

Durch erlebte Gegenwärtigkeit können Präsenzphänomene in Erscheinung treten, die als geheimnisvoll und magisch beschrieben werden. Mit Präsenz können Empfindungen von Zeitlosigkeit, Leichtigkeit, Klarheit, Orientiertheit, Wachheit und Verbundenheit auftreten. Die Sinnlichkeit erlebter Präsenz geschieht im Moment und zieht in das Geschehen hinein. Präsenz hat eine stark ansteckende Wirkung.

In manchen Momenten des Lebens nehmen wir die Gegenwart bewusst wahr, wir verschmelzen mit ihr, fühlen uns eins mit unserer Umgebung und sind mit uns selbst in Verbindung. Wir spüren eine Zufriedenheit in dieser wachen Gegenwärtigkeit. In anderen Momenten erleben wir andere Menschen als präsent. Diese haben dann eine Art schwer zu erklärende, anziehende Ausstrahlung. Die Augen leuchten, die Bewegungen und die Stimme sind authentisch, sind ‚stimmig‘.

Diese Momente, selbst erlebt oder ausgelöst durch das Betrachten von einem präsenten Menschen lassen für einen Augenblick die Zeit vergessen, lassen uns in das ‚Jetzt‘ unserer Empfindungen kommen. Diese fast magisch anmutenden Momente geschehen oft zufällig, unvorhergesehen, überraschend. Sie sind genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen sind. Dieses Aufblitzen von Präsenz, diese plötzliche authentische Verschmelzung mit der Gegenwart ist eine Momentaufnahme, eine scheinbar instabile, nicht kontrollierbare.

Berger beschreibt ihre Eindrücke einer Performance in Berlin. Beim Zusehen wurde ihr ‚messendes, lineares Zeitempfinden‘ gestört, wodurch ein Gefühl der Zeitlosigkeit entstand und sich die Intensität des Augenblicks ‚verdichtete‘. Berger erwähnt die Entstehung einer Ebene der ästhetischen Erfahrung, die sich ihr durch die Konzentration auf das Bühnengeschehen eröffnete. Innerhalb dieser Ebene nahm Berger ein Gefühl der Zeitlosigkeit wahr, in der es für sie nur noch Gegenwart gab. (vgl. Berger 2006, S.125f)

„Mein Zeitgefühl war vollkommen ausgeschaltet: Ich war der Realzeit enthoben, freischwebend in einem Zeitraum, abgekoppelt nicht nur vom linearen und objektiv-messenden Zeitempfinden des Alltags, sondern ohne jedes Empfinden und ohne jeden Gedanken an Zeit. Es fehlte jedes Gefühl für das Vergehen von Zeit.“ (Berger 2006, S.127)

Gumbrecht sinniert in seiner Schrift mit dem Untertitel ‚Produktion von Präsenz‘ über die ‚intensive Ruhe der Präsenz‘ und einer ‚Erlösung‘ durch Präsenz. Diese Erlösung ist für ihn keine ‚Rückkehr zu einem Urzustand‘, sondern ein Zustand, zu dem man durch das ‚Paradoxon der Ekstase‘ gelangt, in der Hoffnung, auf diese Weise eine Vereinigung im Sinne eines ‚ unmittelbaren in-der-Welt-Seins‘ herbeizuführen. (vgl. Gumbrecht 2004, S.159f) Gumbrecht beschreibt Phänomene und Eindrücke von Präsenz als fehlend in einer ‚dermaßen mit Sinn gesättigten Welt‘. Eben durch dieses Fehlen verwandeln sich Phänomene und Eindrücke von Präsenz zu einem „[…] primären Objekt des (nicht völlig bewußten) Begehrens“. (Gumbrecht 2004, S.126)

Wie Hruschka erwähnt, schreiben Darstellende ihrer Kunst oft dann eine ‚unergründliche magische Qualität‘ zu, wenn es ihnen gelingt, einen besonders direkten und intimen Kontakt zu den Zusehenden herzustellen und dadurch eine gemeinsame Gegenwart herbeizuführen. Die magische Dimension dieser gemeinsamen Gegenwart besteht darin, die Zusehenden in den ‚Bann‘ zu ziehen und sie für das szenische Geschehen begeistern zu können. (vgl. Hruschka 2005, S.176f)

Fischer-Lichte erwähnt die Sucht des Zuschauers nach ‚den raren Augenblicken des Glücks‘, welche ihm die Präsenz des Darstellers zu vermitteln vermag. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.172) Wie Fischer-Lichte ebenfalls beschreibt, birgt die Gegenwärtigkeit des Theaters ein ‚hochwirksames transformatorisches Potential‘ für die Zuschauer, welches eine Veränderung der Identität der Zuschauer zur Folge hat. Die entstandene Präsenz widerfährt den Zuschauern ‚blitzartig‘, ‚als ein Strom von Magie‘, sie erscheint ihnen unvorhergesehen, als nicht in ihrer Gewalt stehend, als ihnen unbegreiflich und mit ergreifender Wirkung, wie Fischer-Lichte darlegt. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.162ff)

„Wenn es ein Paradox des Schauspielers gibt, so erst recht ein Paradox seiner Präsenz.“ (Lehmann 2008, S.255)

Die Leichtigkeit des improvisatorischen und lustvollen Spielens, welche bei Kindern oft wie selbstverständlich wirkt, gilt in der erwachsenen Kultur als eine der schwierigsten Aufgaben der darstellenden Kunst. Authentisch darstellerisch zu improvisieren, ganz ‚im Moment‘ zu sein und dabei die Wahrnehmung im Außen zu belassen, das sind Fähigkeiten, die heutzutage nicht nur in den verschiedenen Sparten der darstellenden Kunst sehr gefragt sind. Auch im beruflichen und privaten alltäglichen Leben wird das Thema der Gegenwärtigkeit immer wichtiger. Der Begriff der Präsenz findet sich hier in unterschiedlichen Formulierungen wieder, wie beispielsweise dem immer wichtiger werdenden ‚im Hier und Jetzt sein‘, dem wachen ‚im Moment sein‘ oder der Entscheidung ‚im Jetzt zu leben‘, statt in der Vergangenheit und Zukunft das Wesentliche der Gegenwart zu verpassen. Das gegenwärtige Sein wird als angenehm und bereichernd erlebt und ist daher berechtigterweise ein im privaten Kontext immer häufiger gestellter Wunsch bzw. im beruflichen Kontext gar eine immer mehr geforderte Grundlage.

Ist es möglich, diese Fähigkeit der Präsenz zu trainieren? Ist es möglich, sich bewusst und kontrolliert in den Zustand der Präsenz zu begeben? Wie funktioniert Präsenz?

Zur Wortherkunft

Präsenz ist ein Begriff, der in den letzten Jahrzehnten verstärkt Aufmerksamkeit gefunden hat und im allgemeinen Sprachgebrauch immer öfter Verwendung findet. Das Wort ‚Präsenz‘ wird populärer, die Auseinandersetzungen mit dem ‚Moment‘, dem ‚Jetzt‘ oder der ‚Gegenwart‘ sind wichtige Komponenten in den Künsten sowie im alltäglichen beruflichen und privaten Leben geworden.

Im Duden des Jahres 1963 wird das Wort ‚Präsenz‘ noch als veraltet und nur noch als in Zusammensetzungen üblich bezeichnet, wie es beispielsweise beim Wort ‚Präsenzbibliothek‘ der Fall ist (vgl. Drosdowski 1963, Eintrag Präsenz). Nicht ganz vier Jahrzehnte später - nämlich im Duden des Jahres 2001 – sind diese Zuschreibungen nicht mehr auffindbar. Dort gilt ‚Präsenz‘ nun als Fremdwort für ‚Gegenwart‘ und ‚Anwesenheit‘. (vgl. Auberle 2001, Eintrag Präsenz) Bei Kluge heißt es: „Die Präsenz ist das Zugegensein“ (Kluge 2002, Eintrag Präsens).

In diesem Sinne erwähnt Kolesch, dass der Begriff der Präsenz in der Theaterwissenschaft erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten in mehrfacher Hinsicht zu einer wichtigen theoretischen Kategorie geworden ist. (vgl. Kolesch, Präsenz 2005) Auch Drewes stellt fest, dass die ‚Kategorie des Ereignisses und der Präsenz‘ in den vergangenen Jahren immer mehr ins Zentrum theoretischer Betrachtung rückte. (vgl. Drewes 2010, S.31)

Veraltet oder unüblich ist das Wort ‚Präsenz‘ heute nicht mehr. In der darstellenden Kunst ist der Begriff der Präsenz ein entscheidender geworden. Er findet in der Praxis vor allem für die Bewertung der Schauspielkunst Verwendung, wenn es etwa heißt, bei dieser Schauspielerin sei eine besondere Präsenz zu bemerken oder bei jenem Schauspieler fehle diese. In dieser Verwendung ist das Wort ‚Präsenz‘ offensichtlich mehr als das Fremdwort für ‚Gegenwart‘ und ‚Anwesenheit‘, denn gegenwärtig anwesend sind die Darstellenden auch im Falle einer als fehlend attestierten Präsenz. Doch was meint die Beschreibung einer herausragenden Präsenz im Kontext der darstellenden Kunst dann?

Die etymologischen Wörterbücher verraten mir, dass das Wort ‚Präsenz‘ im 17.Jahrhundert aus dem gleichbedeutenden französischen ‚présence‘ entlehnt wurde, das auf das lateinische ‚praesentia‘ (‚Gegenwart‘) zurückgeht, welches wiederum eine Bildung zu lateinisch ‚praesens‘ (‚gegenwärtig‘) ist. (vgl. Auberle 2001, Eintrag Präsenz) Der Ausgangpunkt für das Wort ‚Präsenz‘, ‚Präsentieren‘ und ‚Repräsentieren‘ ist das Wort ‚Präsens‘. (vgl. Auberle 2001, Eintrag Präsens)

Das Wort ‚Präsens‘ wiederum ist ein Substantiv aus dem Standardwortschatz des 16. Jahrhunderts. Es ist aus dem lateinischen ‚(tempus) praesens‘, was wörtlich ‚gegenwärtige Zeit‘ heißt, entlehnt. Das lateinische Wort ‚praesens‘ bedeutet ‚gegenwärtig, jetzig, offenbar‘. Die Vorsilbe ‚Prä‘ hat den Ursprung im lateinischen ‚prae‘‚ welches ‚vor, voraus, voran, da, bei der Hand‘ bedeutet. Das lateinische ‚-sens‘ ist das (archaische) Partizip des Präsens vom lateinischen ‚esse‘ (‚sein, vorhanden sein‘) und bedeutet ‚seiend‘. (vgl. Kluge 2002, Eintrag prä- sowie Eintrag Präsens) Das Wort ‚vorhanden‘ ist aus dem Standardwortschatz des 15. Jahrhunderts und wurde aus ‚vor Handen‘, also eigentlich ‚vor den Händen‘ zusammengerückt. ‚Vor Handen‘ ist eigentlich ‚zum Zugreifen‘ und wird dann verallgemeinert auf ‚Anwesenheit, Existenz‘. (vgl. Kluge 2002, Eintrag vorhanden)

Das etymologische Ursprung, das Wort ‚Präsens‘ ist somit sinngemäß das ‚gegenwärtig, bei der Hand‘ Seiende, es ist ‚gegenwärtig, zum Zugreifen‘ und damit ‚anwesend, existent‘.

Doch was bedeutet ‚Präsenz‘ nun in unserem jetzigen Verständnis in Bezug auf Menschen, in Bezug auf Atmosphären und erlebten Präsenzphänomenen? Welche Qualitäten sind bei der Hand, wenn wir von der Präsenz eines Menschen sprechen und nicht bloß seine Anwesenheit meinen? Ist es das Authentische, das Reale, das Wirkliche, das Besondere, das Charisma, die Ausstrahlung, die ‚spezifische Gegenwart‘?

Präsenz im Theater

Um mich dem allgemeinen und sehr offenen Begriff ‚Präsenz‘ zu nähern, möchte ich den Weg über die darstellende Kunst gehen und vorerst in entsprechender Fachliteratur herausfinden, was es denn mit der Bühnenpräsenz auf sich hat.

Das Thema der Präsenz im Rahmen der darstellenden Künste ist ein weites Feld, welches viele Fragen aufwirft und Rätsel stellt. Ist Präsenz objektivierbar? Gibt es quantitative Abstufungen von Präsenz? Was ist Präsenz eigentlich und wie entsteht sie? Was macht die Qualität von Präsenz aus? Kann Präsenz trainiert werden und wenn ja, wie?

Fragen, wie sie auch Goodall in ihrem Buch über ‘Stage Presence’ stellt:

“The idea that someone may ‘have presence’ as an objectively real quality raises questions about what this quality consists of, whether it may be trained or cultivated, and to what extent it may be enhanced by the perceptions and expectations of those who witness it. Stage presence is a large topic, one that is addressed frequently in the writings of actors and directors as well as those of critics and theorists.” (Goodall 2008, S.3)

Präsenz wird in der theaterwissenschaftlichen Fachliteratur durchgehend als schwer definierbar oder gar undefinierbar beschrieben.

“What constitutes stage presence is hard to define: it is often an intangible quality like charisma which allows certain actors to hold the audience’s attention more than others.” (Harrison 1993, Eintrag presence)

Doch es bleibt unklar, warum manche Darstellenden präsenter sind als andere, warum ihnen mehr Aufmerksamkeit des Publikums zuteil wird. Immaterielle Qualitäten wie beispielsweise ‚Charisma‘ – was ähnlich dem Begriff ‚Aura‘ ‚besondere Ausstrahlung‘ bedeutet (vgl. Kluge 2002, Eintrag Charisma) – werden wiederholt für die geheimnisvolle Bühnenpräsenz verantwortlich gemacht.

“ln the context of performance, ‘presence’ is used to describe a perceived quality of performance - that is usually live but is sometimes recorded - where the performer appears to be notably focused or “in the moment”. What these tautologies mean is that performers convey charisma, strong engagement with themselves, their roles and/or their work, a particular quality of concentration and a special “aura”, […]” (Allain und Harvie 2005, Eintrag presence)

Für Pavis ist das Phänomen der Präsenz mit einer für ihn undefinierbaren Qualität verbunden, welche eine faszinierende, unmittelbare Auswirkung auf das Publikum zu haben scheint.

“To have presence, in theatre jargon, means knowing how to captivate the audience, being endowed with an indefinable quality that immediately arouses the spectators’ identification, giving them the impression of being elsewhere, in an eternal present.” (Pavis 1998, Eintrag presence)

Die Zuseher haben demnach den Eindruck, sich gemeinsam mit dem oder der Darstellenden in einer ‚ewigen Gegenwart‘ zu befinden. Auch Lehmann und Weiler betonen die eigene Zeitlichkeit jeder Aufführung. Aufführungen sind besonders genussvoll, wenn sie uns die Zeit vergessen lassen. Wie Lehmann und Weiler anführen, gelingt dies, wenn die Akteure unsere Aufmerksamkeit fesseln und uns in einen Zustand des kontinuierlichen Gegenwärtig-Seins bringen können. (vgl. Lehmann und Weiler 2003, S.211)

Schließlich betont auch Goodall die Wichtigkeit der ‚Herrschaft‘ über Raum und Zeit und die Beschäftigung mit der geheimnisvollen Gegenwart.

“Command over the time and space of performance marks out the actor with presence. Experimental performance often involves a confrontation with time, and leading theatre practitioners in the twentieth century were also concerned to create a confrontation with the present as a shifting and turbulent reality.[…] By implication, someone who has presence is someone who can command the space of the stage so that the audience experiences it as ‘full’”. (Goodall 2008, S.15f)

Auch Drewes, Lehmann und Kolesch sprechen den besonderen zeitlichen Aspekt der Präsenz an. Der Begriff Präsenz beschreibt für Drewes keine alltäglichen ‚Erfahrungstatbestände‘. Er sei Bestandteil „höchst artifizieller Kategorien […], die in der Regel bemüht werden, um die paradoxe Erfahrung zeitloser Zeitlichkeit darzustellen, einen – nicht-kommunizierbaren – Erlebnismodus, der […] traditionell für die mystische Erfahrung reklamiert wird […]“ (Drewes 2010, S.263) Für Lehmann ist Präsenz ein zugleich innerhalb und außerhalb des Zeitverlaufs angesiedelter ‚un-zeitiger‘ Bewusstseinsprozess. (vgl. Lehmann 1999, S.13) Kolesch erwähnt die verstärkte Reflexion der besonderen Zeitlichkeit und Räumlichkeit ästhetischer Wahrnehmung, wenn es um Präsenz geht. (vgl. Kolesch, Präsenz 2005)

Auch bei folgenden Erklärungsversuchen des Phänomens der Präsenz wird, wie schon bei Drewes, der Begriff ‚mystisch‘ verwendet. ‚Mystisch‘ sowie morphologisch zugehörig ‚mysteriös‘ stammt vom Wort ‚Mysterium‘ ab, das ‚Geheimnis, Unerklärliches‘ bedeutet. (vgl. Kluge 2002, Eintrag Mysterium) In vorliegender Beschreibung von Pavis liegt mit dem ‚unerklärlichen Geheimnis‘ (‚inexplicable mystery‘) sogar eine Sinndoppelung vor, was die Rätselhaftigkeit der Präsenz nochmals unterstreicht.

“According to J. GROTOWSKI (1968), experiments with improvisation must aim at discovering in gestuality the traces of universal drives and archetypes, of mythical roots comparable to Jungian archetypes. Presence is what theoreticians fall back on when confronted with an inexplicable mystery.” (Pavis 1998, Eintrag presence)

Präsenz wird mit Superlativen beschrieben und verspricht, das größte Kapital des oder der Schauspielenden sowie das größte Erlebnis für das Publikum zu sein.

“According to an opinion often expressed by people in the profession, presence is the actor's greatest asset and the audience’s greatest experience.” (Pavis 1998, Eintrag presence)

Und in abschließender Betrachtung an die Versuche Präsenz erklärbar zu machen, schreibt Pavis:

“All of these approximations share an idealistic, even mystical, conception of the actor’ s work. They perpetuate the myth that acting is sacred, ritualistic and indefinable. But they also touch upon a fundamental aspect of the theatrical experience. […] Perhaps, in the end, presence is merely the impression communicated by an especially good actor in a role they relish.” (Pavis 1998, Eintrag presence)

Was ist Präsenz also nun? Ist es lediglich der Ausdruck für einen hervorragenden Schauspielenden oder ist Präsenz mehr als das? Kann Präsenz auch außerhalb der fest definierten Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum geschehen? Was hat es mit den magischen und geheimnisvollen Qualitäten von Präsenz auf sich?

Ist das große Geheimnis der Präsenz wissenschaftlich erforschbar?

Präsenz, Kunst oder Wissenschaft?

In der Beschreibung von Präsenz finden wir uns schnell in einer emotionalen, bildreichen und mystischen Sprache wieder, die mit der oft postulierten Forderung nach Objektivität in der Wissenschaft schwer vereinbar zu sein scheint. Wir stoßen bei der Untersuchung der Phänomenologie von Präsenz schnell an die Grenzen der gegenwärtigen Möglichkeiten von Wissenschaft.

Lehmann verweist darauf, dass Theater stets weniger unter dem Gesichtspunkt seiner ‚Präsenzproduktion‘ gesehen wurde als unter dem Gesichtspunkt des Werks oder Gesamtkunstwerks. Er vermutet als Grund die „[…] evidenten Schwierigkeiten, dieses Andere der Gegenwärtigkeit deskriptiv und begrifflich zu fassen.“ (Lehmann 1999, S.14)

Wie auch Kolesch betont, erweist sich die ‚Reflexion und Versprachlichung‘ theatraler Präsenz als eine Herausforderung an den wissenschaftlichen Diskurs und stellt einen besonderen Anspruch an die wissenschaftliche Praxis dar, da diese sich größtenteils als ‚fixierendes Bezeichnen, analytisches Zerlegen und Fragmentieren sowie interpretatives Synthetisieren‘ vollzieht. Kolesch spricht gar von der Notwendigkeit einer Modifikation wissenschaftlicher Verfahren und Vorgehensweisen, um sich dem Phänomen der Präsenz nähern zu können. (vgl. Kolesch, Präsenz 2005)

Die wissenschaftliche Untersuchung von Phänomenen wie Präsenz konfrontiert die Forschenden beinahe unweigerlich mit einer Form von Unsicherheit. Wie Gebser beschreibt, hat jedoch diese Unsicherheit besonders in den Wissenschaften zu einer Überängstlichkeit geführt. Viele Phänomene lassen sich denkerisch nur annähern, jedoch nicht ‚be-greifen‘. Dieser Umstand ist, wie Gebser betont, für Rationalisten äußerst unangenehm, was für diese Grund genug ist, die Phänomene als inexistent zu betrachten.

„Nie ist so viel und oft wie gerade in den letzten Jahren zu ‚methodologischer‘ und ‚terminologischer‘ Exaktheit aufgerufen worden. Ein alarmierendes Zeichen, das voller Hinweise darauf ist, daß sich mehr und mehr neu auftauchende Phänomene einer nichts als methodischen und terminologischen Erfassung zu entziehen drohen.“ (Gebser 1986, S.486)

Die von Kolesch postulierte Notwendigkeit einer Modifikation der Wissenschaft entspricht einer für die vertiefende wissenschaftliche Präsenzforschung notwendigen Intensivierung des derzeitigen gelebten und gelehrten Wissenschaftsverständnisses.

Die wissenschaftliche Forschung beschäftigt sich mit der Frage, wie die Welt funktioniert. Sie hat in einigen hundert Jahren viel darüber herausgefunden. Jetzt wollen einige Menschen wissen, wie eine Welt funktionieren kann, in der sie sich wohlfühlen können, in der sie mehr losgelöst sein können vom Druck der strengen Zeitvorgaben unserer Systeme sowie vom Geld als Hauptmotivationsfaktor. Die heutige Fragestellung ist, wie wir zufrieden miteinander leben können, wie wir den gegenwärtigen Augenblick genießen und ganz in diesem Aufgehen können – und das mit unserem vollen Potential und der damit verbundenen freudigen und vor allem freiwilligen Leistungsbereitschaft.

Um Präsenz weiter zu erforschen, sind der Ausbau und die verstärkte Praxis einer qualitativen Wissenschaft vonnöten. Ebenfalls wird es nötig sein, die bisherigen wissenschaftlichen Herangehensweisen zu überdenken. Es wird notwendig sein, mehr Kreativität und Selbständigkeit in der Wissenschaft und der Lehre der Wissenschaft zuzulassen. Die Förderung von meist schon früh vorhandener Kreativität und Selbständigkeit muss früh beginnen, nämlich in den ersten Ausbildungsstätten, den Kindergärten, den Volksschulen und allen weiteren darauf folgenden Stätten des Forschens und Lernens. Um das Thema Präsenz zu erforschen ist wiederum Präsenz gefragt. Wer präsent forscht, wird sich leichter tun, zum Geheimnisvollen vorzudringen und mit den Möglichkeiten zu spielen, die sich jedem von uns tagtäglich offenbaren und zur Wirkung kommen, sobald wir sie gemeinschaftlich entdecken und zulassen.

Die weitere Erforschung von Präsenz wird sowohl der Kunst als auch der Wissenschaft dienlich sein, wenn es die zwei Disziplinen schaffen, sich im gegenseitigen Einverständnis anzunähern. Die notwendige Intensivierung des Wissenschaftsverständnisses kann nur geschehen, wenn das Konkurrenzverhältnis von Kunst und Wissenschaft reflektiert und schrittweise aufgelöst wird und dadurch neue Formen der Zusammenarbeit gefunden werden können. Wenn es auf der Universität während eines meiner Vorträge vonseiten der Lehrveranstaltungsleitung heißt: „Herr Loibner, weniger Kunst, mehr Wissenschaft bitte!“, dann ist im grundsätzlichen wissenschaftlichen Denkansatz eine Neuausrichtung vonnöten. Denn wo genau hört denn Kunst auf und wo fängt Wissenschaft an?

„Die Wissenschaft kann der Kunst nur dann helfen und dienlich sein, wenn sie einander unterstützen und ergänzen.“ (Stanislawskij 1999, S.59)

Wie Mersch feststellt, besteht das Konkurrenzverhältnis von Kunst und Wissenschaft seit der Aufklärung und vor allem seit dem 19. Jahrhundert. Mersch erwähnt, dass die Vertreter beider Seiten nicht einmal ihre Inspirationen austauschten. Seit dieser Konkurrenz wird der Ausdruck ‚Wissenschaft‘ besonders im französischen und englischsprachigen Raum mit Naturwissenschaft beziehungsweise den logischen und mathematischen Disziplinen identifiziert, „[…] und damit einer bestimmten Methode zugeordnet, die allein Verlässlichkeit und Richtigkeit aller Aussagen zu garantieren scheint.“ (Mersch 2007, S.15) Die Künste retteten sich „[…] auf den anderen, gleichsam den Wissenschaften entgegengesetzten Pol, ihre Augen und Ohren einer anderen, ausgeschlossenen und verdrängten Wirklichkeit zugewandt, die sie mit beispiellosem Sensorium zu erforschen und auszukosten suchten.“ (Mersch 2007, S.16)

Friedrich Nietzsche formulierte in seiner Kunstphilosophie die Notwendigkeit ‚einer Umkehrung der Wertigkeit‘, nämlich den ‚Vorrang künstlerischer Verfahrensweisen vor den wissenschaftlichen‘, da sie ‚tiefer ins Existentielle‘ zu sehen vermögen und da sie ‚Medium, Antrieb und Quelle aller Wissenschaften‘ seien. (vgl. Mersch 2007, S.17).

Jung erwähnt, dass aufgrund der naturwissenschaftlichen Fragestellung, welche auf regelmäßige und reproduzierbare Ereignisse zielt, seltene oder einmalige Ereignisse weitgehend unerforscht bleiben. Jung weist auf die entstehenden Schwierigkeiten hin, wenn durch Experimente Antworten auf von Menschen erdachte Fragen erwartet werden. Jung schreibt, dass jede ‚Antwort der Natur‘ durch die Art der Fragestellung belastet ist. „Die hierauf basierte, sogenannte naturwissenschaftliche Weltanschauung kann daher nichts anderes sein, als eine psychologisch präjudizierte Teilansicht […]“ (Jung 1952, S.3)

Die Wissenschaft ist niemals – wie oft in der Schule wie auch auf der Universität gelehrt oder beinahe gepredigt wird – objektive, ganzheitliche Wahrheit. ‚Objektiv‘ war bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein noch die Bezeichnung für alles ‚im Geiste‘ als Idee oder Vorstellung Existente. (vgl. Mittelstraß 1995) Die oftmals verkrampfte ‚Objektivität‘ der Wissenschaft jedoch ist ein (Alb)Traum, der in die falsche Richtung führt. Beobachtungen können per Definition nicht rein objektiv sein, da sie letztlich ein Subjekt tätigt.

Wissenschaft ist immer geprägt von der subjektiven Beobachtung der Menschen und deren Schlussfolgerungen und Handlungen, die auf den getätigten Beobachtungen basieren. Eine Form von scheinbarer ‚Objektivität‘ kann es trotzdem geben. Wie Gebser feststellt, haben individuelle subjektive Erfahrungen mitunter auch objektiven Charakter, da „[…] gewisse Dinge in verschiedener Intensität nicht nur den Einzelnen, sondern mehr oder weniger allen Menschen geschehen.“ (Gebser 1986, S.111)

Die wissenschaftliche ‚Objektivität‘ basiert auf getätigten Modellen, welche aufgrund der wissenschaftlichen Erweiterung laufend revidiert und überarbeitet werden müssen. Wenn es die Wissenschaft in Zukunft vermehrt schafft, sich von der Dualität zu verabschieden, werden Phänomene, die bislang in der spirituellen oder esoterischen Welt der Geheimnisse aufzufinden waren, nach und nach auch wissenschaftlich nachvollziehbar. Eine Spaltung in Dualitäten – wie es Objektivität und Subjektivität sind – kann zu keiner funktionierenden, das soll heißen, zu keiner wohltuenden Weltsicht führen.

Stanislawskij erforschte im Rahmen der Schauspielkunst das Mensch-Sein. Er erhoffte sich im Abwarten Hilfe von der zukünftigen, sich weiterentwickelnden Wissenschaft, um praktische Zugänge zum Geheimnis Mensch zu finden. „Wir werden warten […] Wir werden lernen, uns in der Logik zurechtzufinden, in der Folgerichtigkeit ihrer Gefühle, in der Psychologie und in der Charakterologie.“ (Stanislawskij 1940, S.142)

Doch wie lange sollen wir noch warten? Ich plädiere für eine allen Disziplinen gemeinsame und gegenwärtige Rückkehr zur grundlegenden Erforschung des Menschen und seiner Umwelt, unter Rücksichtnahme auf das individuelle und gemeinschaftliche Wohlbefinden. Das Lernen und Lehren in der Forschung darf nicht in Anpassung an das bestehende kapitalistische Gesellschaftssystem, welches uns in dieser einseitig gelebten Ausformung des Kapitalgewinnstrebens die letzten Jahrhunderte körperlich und geistig krank gewirtschaftet hat, getätigt werden. Wir brauchen kein Zuwarten mehr, wir brauchen denkende und empfindende Menschen, die es verstehen, authentisch und gegenwärtig zu leben und zu forschen. Wir brauchen Menschen, die das Bedürfnis verspüren, sich einer Wirklichkeit zu nähern, die nicht bereits durch bestehende Modelle und Muster vorgegeben ist. Diese ‚Weltwirklichkeit‘, wie Gebser sie nennt, wird nicht erfahrbar werden, wenn wir uns nicht bald dazu entschließen, die Systeme mit ihren kategorialen Fixierungen als unzureichend zu bezeichnen. (vgl. Gebser 1986, S.417)

Präsenz durch Körpertechnik?

Für Fischer-Lichte ist Präsenz keine expressive, sondern eine ‚rein performative Qualität‘, die durch ‚spezifische Prozesse der Verkörperung‘ erzeugt wird. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.165) Fischer-Lichte schreibt über unterschiedliche Arten, die erwünschte Kraft von Gegenwärtigkeit zu erzeugen und in Wirkung treten zu lassen. Sie unterscheidet dabei zwischen einem ‚schwachen‘, einem ‚starken‘ und einem ‚radikalen‘ Konzept von Präsenz. (vgl. Fischer-Lichte 2010, S.47)

Im ‚schwachen Konzept‘ von Präsenz geht es um die ‚bloße Anwesenheit des phänomenalen Leibes des Akteurs‘. Das ‚schwache Konzept‘ von Präsenz wird von Fischer-Lichte nicht näher beschrieben. Im ‚starken Konzept‘ geht es bereits um ‚die Beherrschung des Raumes durch den Akteur und die Fokussierung der Aufmerksamkeit‘ auf ihn. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.163f). In diesem ‚starken Konzept‘ von Präsenz spürt der Zuschauer „[…] eine Kraft, die vom Akteur ausgeht und ihn dazu bringt, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf ihn zu fokussieren, ohne sich von dieser Kraft überwältigen zu lassen; er empfindet sie eher als eine Kraftquelle.“ (Fischer-Lichte 2010, S.47) Fischer-Lichte stellt die Beherrschung des Raumes und die damit verbundene Beherrschung der Aufmerksamkeitslenkung als Eigenschaften des ‚starken Konzepts‘ von Präsenz in den Mittelpunkt. Beim ‚starken Konzept‘ von Präsenz gelingt es dem Darsteller, nicht nur den Bühnenraum, sondern den gesamten Theaterraum zu beherrschen. „Er beherrscht ihn, indem er – auf geheimnisvolle, ‚magische‘ Weise – auf den Zuschauer einwirkt und ihn dazu bringt, seine ganze Aufmerksamkeit ungeteilt auf ihn zu fokussieren.“ (Fischer-Lichte 2004, S.165)

Das von Fischer-Lichte beschrieben ‚radikale Konzept‘ von Präsenz ist schließlich dann gegeben, „[…] wenn es dem Schauspieler/Performer gelingt, mit seinen Verkörperungsprozessen Energien in einer Weise zu erzeugen, dass sie für den Zuschauer spürbar im Raum zirkulieren und ihn affizieren.“ (Fischer-Lichte 2010, S.47)

Die Magie der Präsenz besteht nach Fischer-Lichte also in der besonderen Fähigkeit des Darstellers, eine für die Zuschauer spürbare ‚zirkulierende‘ Energie im Raum zu erzeugen. Diese Energie wirkt im Idealfall unmittelbar auf die Zuschauer ein und animiert diese, selbst Energie hervorzubringen, wie Fischer-Lichte ausführt. Der Darsteller wird nun als ‚plötzliche‘ und ‚unerwartete‘ Kraftquelle wahrgenommen und lässt ihn für den Zuschauer in besonderer Weise als gegenwärtig erscheinen. Die nun verstärkte und zirkulierende Energie bewirkt die bereits erwähnte Transformation des Zuschauers. Wie Fischer-Lichte beschreibt, gelingt dies durch ‚besondere Fähigkeiten des Darstellers‘, nämlich durch ‚gewisse Verkörperungstechniken und –praktiken‘. Fischer-Lichte zählt einige Beispiele dieser besonderen Fähigkeiten des Darstellenden auf, wie z.B. eine Veränderung hin zu einem ungewohnten Gleichgewicht, welches ‚mehr Anstrengung verlangt und neue Spannungen nutzt, um den Körper aufrechtzuhalten‘, das anfängliche Bewegen des Körpers in die dem eigentlichen Ziel entgegengesetzte Richtung, rhythmische Körperbewegungen und rhythmisches Sprechen, dem Zusammenfallen von Impuls und Reaktion sowie Techniken von ‚slow motion‘. Fischer-Lichte bezieht sich dabei unter anderem auf den Theateranthropologen Eugenio Barba. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.169f)

“The Level that deals with how to render the actor’s energy scenically alive, that is, with how the actor can become a presence that immediately attracts the spectator’s attention, is the pre-expressive level and is theatre anthropology’s field of study.” (Barba und Savarese 1991, S.218)

Barba ist der Ansicht, dass die Gesamtheit einer Performance aus verschiedenen organisatorischen Ebenen besteht. Er leitet diese Ansicht aus den schulmedizinisch bekannten physiologischen Funktionskreisläufen des menschlichen Körpers ab, wie zum Beispiel die Ebene der zellulären Organisation, die Ebene der Organisation der Organe und die des Nervensystems. Barba postuliert die These, dass es einen allgemeinen, von der Kultur der Darstellenden und vom Inhalt der Darstellung unabhängigen ‚basic level of organisation‘ gibt und beschreibt diese Ebene als die ‚prä-expressive Ebene‘. Diese prä-expressive Ebene ist nach Barba auch verantwortlich für die Präsenz des oder der Darstellenden. Der oder die Darstellende hat die Möglichkeit, mit der prä-expressiven Ebene zu arbeiten als wäre das grundlegende Ziel die entstehende Präsenz und nicht die Bedeutung der Handlung. (vgl. Barba und Savarese 1991, S.218)

Barba beschreibt im Weiteren eine Körpertechnik, die er vor allem im traditionellen japanischen ‚No-Theater‘ beobachten konnte. Diese Technik lässt eine bestimmte Form von Energie, die sogenannte ‚Energie in der Zeit‘ (‚energy in time‘) entstehen. Barba erwähnt, dass die Verwendung dieser Form von Energie im westlichen Theater jedoch nur äußerst selten vorkommt. Für die ‚Energie in der Zeit‘ wird die Energie, die für das Ausführen einer Handlung im Raum notwendig wäre (‚Energie im Raum‘/‘energy in space‘) vom Performer nicht für die entsprechende Handlung verwendet (z.B. das Heben einer Flasche von einem Tablett), sondern sie wird vom Performer zurückgehalten. Der Performer hat bei dieser Technik einen Widerstand gegen das Bestreben der Handlungsausführung im Raum aufzubauen, damit es zu der Wandlung der Energie und einer maximalen Spannung kommen kann. Barba beschreibt die in der ‚Peking Oper‘ verwendete Praxis des plötzlichen Stoppens einer Bewegungsausführung auf dem Höhepunkt der körperlichen Spannung und dem darauffolgenden Beibehalten dieser Spannung in einem Zustand, der weder statisch noch inaktiv, sondern dynamisch wirkt. (vgl. Barba und Savarese 1991, S.84)

Fischer-Lichte sieht wie Barba Präsenz also auf einer Ebene vor dem Expressiven, vor dem Ausdruck lokalisiert. Auch für Lehmann ist die ‚lebendige Gegenwart‘ des Theaters eine Tatsache des Bewusstseins und ein ‚mentales Phänomen‘ und kein ‚primär real-körperliches‘. Lehmann beschreibt Präsenz als einen ‚innerhalb und außerhalb des Zeitverlaufs‘ angesiedelten und – wie er es nennt – ‚un-zeitigen‘ Bewusstseinsprozess. (vgl. Lehmann 1999, S.13)

Lehmann beschreibt ebenfalls deutlich körperorientierte Ansätze, um Präsenz zu ‚produzieren‘. Für Lehmann wird die Gegenwart des Theaters, wesentlich durch ihre Störung, Verdoppelung und Verzögerung ‚produziert‘. Sie entsteht durch Verlangsamung, Stockung und generell durch ‚Abweichung von Gegenwart‘. Lehmann bezieht diese Form der besonderen Gegenwart des Theaters zum einen auf Körper, die in ihrer Alltäglichkeit und Trivialität ausgestellt werden und durch ihre Hässlichkeit, Unförmigkeit, Krankheit und Gewalttätigkeit einprägsam werden, als auch auf das Eigenleben von ‚Stoffen und Dingen‘. Wie Lehmann ausführt, kann Gegenwart durch den Spieler als Performer produziert werden, dessen Handlungen „[…] das affektive und intellektuelle Muster seiner Beziehung zum Zuschauer aktuell formen, modifizieren, zentral machen […]“ sowie durch eine „[…] Spielweise, die mehr auf der Achse des Kommunizierens als des Verkörperns situiert ist, also das Abbilden einer anderen Identität zurücktreten lässt zugunsten der Etablierung eines gemeinsamen Sprach- und Wahrnehmungsraums von Spielerpersönlichkeit und Zuschauern“. (Lehmann 1999, S.20)

„Was ganz allgemein als emphatische Gegenwart, als Kunst der Präsenz beim Schauspieler empfunden wird, ist übrigens auch eine Art Abweichung von der gewohnten Präsenz, ein Ungegenwärtiges. […] Gegenwart ist immer auch Abweichung von Gegenwart. Gegenwartserzeugung ist immer auch Gegenwartsentzug, Bruch der Kontinuität, Schock.“ (Lehmann 1999, S.18)

Als Beispiel erwähnt Lehmann die Verlangsamung der Bewegungen eines Schauspielers, in Entsprechung der auch von Fischer-Lichte erwähnten ‚slow motion‘ Technik. „Eine Aura gesteigerter Anwesenheit legt sich um den Körper, wenn die normierte Rhythmik der Bewegung/Perzeption eine Störung erfährt.“ (Lehmann 1999, S.18).

Durch die Technik der Verlangsamung oder auch der extremen Beschleunigung von gewohnten zeitlichen Vorgängen kann es bei den Beobachtenden zu veränderten Zeitwahrnehmungen bis hin zu einer empfundenen Zeitlosigkeit kommen. Wer schon mal länger aufgrund eines Knochenbruches einen Gips tragen musste, kann verstehen, dass es bei dieser Erfahrung zu anderen Wahrnehmungen von Zeit kommen kann. Die Bewegungen verlangsamen sich, Wege werden in einem anderen Tempo und einer anderen Rhythmik ausgeführt, dadurch verändert sich auch die allgemeine Beobachtung von Zeit. Auch ältere Menschen, die in einem langsameren Tempo auf der Straße gehen, haben einen anderen Blick auf die Zeit, als es ein weitgehend gesunder Jugendlicher hat, der dieselbe Wegstrecke in einem Bruchteil der Uhrenzeit bewältigen kann. Allein die Beobachtung eines sich in ‚slow motion‘ bewegenden Menschen auf der Straße kann einen in einen präsenten Zustand versetzen, da die Zeit durch die Beobachtung der ungewohnten Rhythmik anders erlebt wird.

Auch die Autoren der Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik veranschaulichen die zentrale Bedeutung der theaterpädagogischen Übungen zu Verfahren der ‚Stillstellung‘ wie Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen, Einfrieren, Zeitlupe oder auch extreme Beschleunigung. Als wichtigstes gestalterisches Element der stillgelegten Handlungen wird die Unterbrechung der Alltagsintentionalität und die dadurch mögliche Entdeckung unbekannter oder verdrängter ‚Phantasie- und Spielbewegungen‘ genannt. (vgl. Wiese, Günther und Ruping 2006, S.101ff)

Sowohl Fischer-Lichte als auch Barba nutzen bei der Beschreibung von Präsenz häufig den Begriff der Energie. Schrödl beschreibt Energie als eine eindringliche Spannung oder Dynamik zwischen Wahrnehmbarem und Wahrnehmenden, welche eine Erfahrung von Intensität und Ergriffenheit beim Wahrnehmenden hervorruft und ihn so ins theatrale Geschehen involviert. Hierbei kann es beim Wahrnehmenden zu einer Transformation im Sinne einer Veränderung seines körperlichen, emotionalen oder mentalen Zustandes kommen. Schrödl legt anhand der Begriffsgeschichte die zentrale Rolle des Begriffes ‚Energie‘ in den ästhetischen kunst- und kulturwissenschaftlichen Debatten seit den 1970er Jahren dar, hält jedoch fest, dass auch in der Ästhetik eine theoretisch-systematische Erörterung des Begriffes bislang ausblieb. ‚Energie‘ ist nach Schrödl kein ‚freischwebendes, quasi objektives‘ Phänomen, sondern immer in Abhängigkeit von der jeweiligen Wahrnehmung zu sehen. (vgl. Schrödl 2005)

Energie ist das, was wir als deren Wirkung wahrnehmen. Energie ist abhängig von der Beobachtung und dem Umgang mit ihr. Auch aus der Wortherkunft lässt sich feststellen, dass das Wort ‚Energie‘ aus dem französischen ‚énergie‘, dieses aus dem spätlateinischen ‚energia‘ (‚Wirksamkeit‘), dieses wiederum aus dem griechischen ‚enérgeia‘ in Abwandlung zu dem griechischen ‚érgon‘ (‚Werk, Wirken‘) kommt. Das heutige Wortverständnis von ‚Energie‘ wird von den Fortschritten der Physik des 19.Jahrhunderts geprägt. (vgl. Kluge 2002, Eintrag Energie) Doch auch der Physiker Wolf weist darauf hin, dass kein Physiker auf der Welt weiß, was Energie eigentlich ist. Wolf ist der Meinung, dass Energie eine Erfindung des Denkens ist. Wir nehmen zwar die Folgen der Energie wahr, jedoch habe niemand Energie „[…] jemals gesehen oder sinnlich empfunden, auch wenn wir diesen Begriff verwenden, als wäre er ganz und gar greifbar.“ (Wolf 1995, S.50)

Die Unbestimmbarkeit des Begriffes der ‚Energie‘ weist wieder auf das Geheimnisvolle des Phänomens der Präsenz hin. Wenn Wolf schreibt, dass Energie eine Erfindung des Denkens ist, weist er wie Schrödl auf die Abhängigkeit der Energie von der jeweiligen Wahrnehmung hin. Energie ist wie Präsenz offensichtlich ein Phänomen der wahrnehmenden, subjektiven Beobachtung. Die Energie der Präsenz ist – wie die Etymologie des Wortes ‚Energie‘ bereits verrät – eine Frage der beobachteten und erlebten Wirksamkeit.

Präsenz durch Beobachtung?

Fischer-Lichte beschreibt die Ansteckung, die geschieht, wenn Zuschauer die ‚von Leidenschaft getriebenen‘ Handlungen der Schauspieler wahrnehmen. In Fischer-Lichtes ‚starken Konzept‘ von Präsenz spürt der Zuschauer, „[…] dass der Darsteller auf eine ungewöhnlich intensive Weise gegenwärtig ist, die ihm [dem Zuschauer] das Vermögen verleiht, sich selbst auf eine besonders intensive Weise als gegenwärtig zu fühlen.“ (Fischer-Lichte 2010, S.47) Durch die Wahrnehmung vom gegenwärtigen Körper des Schauspielers geschieht die Ansteckung auf den gegenwärtigen Körper des Zuschauers, wodurch auch in diesen Leidenschaften erregt werden, wie Fischer-Lichte ausführt. (vgl. Fischer-Lichte 2004, S.162)

Die Gegenwart der Agierenden scheint allein durch die Beobachtung der Darstellung auf die Gegenwart der Beobachtenden überzugehen. Durch die Beobachtung eines präsenten Agierenden werden wir als Beobachter in der Wahrnehmung unserer eigenen Gegenwärtigkeit gestärkt. Fischer-Lichte drückt das so aus:

„In der Präsenz des Darstellers erfährt und erlebt der Zuschauer den Darsteller und zugleich sich selbst als embodied mind, als dauernd Werdender, die zirkulierende Energie wird von ihm als transformatorische Kraft – und in diesem Sinne als Lebens-Kraft – wahrgenommen. […] Der Mensch ist embodied mind. Er läßt sich weder auf seinen Körper noch auf seinen Geist reduzieren […] Geist ist nicht ohne Körper zu haben und artikuliert sich im bzw. als Leib.“ (Fischer-Lichte 2004, S.171f)

Die Präsenz des Performers oder der Performerin kann also offensichtlich kommuniziert werden, sie wirkt ‚ansteckend‘ und bewirkt die verstärkte Präsenz der Beobachtenden. Präsenz scheint ein übertragbares Phänomen zu sein. Wer präsent ist und handelt, lässt auch im Beobachter Präsenz entstehen, wie auch Pavis sinngemäß formuliert:

“What we see in the body of the actor present is none other than our own bodies, hence our uneasiness and fascination with this strange and familiar presence. […] lt is thought to be related to a “direct” physical communication with the actor.” (Pavis 1998, Eintrag presence)

Wie Schrödl betont, ist die leibliche ‚Kopräsenz‘ von Akteuren und Zuschauern ein Wesensmerkmal der spezifischen Medialität von Aufführungen. Gemeint ist hierbei die gemeinsame, geteilte Anwesenheit von Schauspielern und Publikum im Hier und Jetzt des theatralen Geschehens. Die Aufführung wird so im präsentischen Zusammenwirken aller Anwesenden hervorgebracht, im Jetzt der Begegnung lebendiger Menschen. (vgl. Kolesch, Präsenz 2005) Auch Cechov erörtert, dass ein Schauspiel immer aus der Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Zuschauer entsteht:

„Ein Schauspieler, der sich das Gefühl für Atmosphäre bewahrt oder es wiedergewonnen hat, weiß wohl um das untrennbare Band, das ihn mit dem Zuschauer verknüpft, wenn beide von ein und derselben Atmosphäre ergriffen sind. Der Zuschauer fängt dabei von sich aus an, mit dem Schauspieler mitzuspielen.“ (Cechov 2010, S.26)

Lehmann betont die Wichtigkeit der Qualität der ‚Kopräsenz‘ im Sinne einer wechselseitigen Herausforderung zwischen Agierenden und Beobachtenden. „Daher ist nicht mehr sicher, ob diese Präsenz uns geschenkt wird, oder wir, die Zuschauer, sie allererst erzeugen. Die Präsenz des Spielers ist nicht objektivierbares Gegenüber, Gegen-stand, Ob-jekt, Gegen-wart, sondern Mit-Präsenz im Sinne einer unvermeidbaren Implikation.“ (Lehmann 2008, S.255f)

“The performer’s presence strongly engages the audience’s attention and cultivates the audience`s own sense of presence – a sense of the importance of being in that moment at that event.” (Allain und Harvie 2005, Eintrag presence)

Fischer-Lichte fragt sich, wieso allein die Beobachtung eines Menschen auf der Bühne im Zuschauer Emotionen und Empfindungen auslösen soll und stellt fest, dass sich die zeitgenössischen Theoretiker mit diesen Fragen kaum auseinandergesetzt haben. (vgl. Fischer-Lichte 2000, S.27) Die Neurobiologie jedoch hat sich mit dem Phänomen der Spiegelung beschäftigt.

Bauer erörtert die neurobiologische Resonanz, die durch Menschen ausgelöst werden, die in unseren Wahrnehmungshorizont treten, unabhängig davon ob wir oder die Menschen diese Aktivierung beabsichtigen oder nicht. Bauer beschreibt die als ‚Spiegelreaktionen‘ bekannt gewordenen Phänomene, welche durch verschiedene Aspekte des Verhaltens, wie Blickkontakt, Stimme, mimischer Ausdruck, Körperbewegungen und konkrete Handlungen ausgelöst werden. (vgl. Bauer 2005, S.85) Durch Spiegelung lernen wir. Wenn das Baby Bewegungen, Gesten und Laute nachahmt, lernt es, seinen eigenen Körper wahrzunehmen und zu entdecken. Es lernt, mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen.

Die kommunizierte Präsenz eines Menschen fasziniert die Beobachtenden, da diese die beobachtete Präsenz spiegeln und sich somit selbst als gegenwärtiger erleben. Die sinnlichen Präsenzphänomene ganzheitlich und gegenwärtig zu erleben befriedigt das Bedürfnis nach dem vielgesuchten körperlich-geistigen Wohlgefühl. Csikszentmihalyi beschreibt den sogenannten ‚flow-Zustand‘, ein Zustand von Gegenwärtigkeit, bei dem der Prozess des Beobachtens und des Handelns als einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten wahrgenommen wird und dabei kaum eine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt wird. (vgl. Csikszentmihalyi 1996, S.59)

„Die autotelische Erfahrung, der flow, bringt das Leben auf eine höhere Ebene. Aus Entfremdung wird Engagement, Freude ersetzt Langeweile, Hilflosigkeit verwandelt sich in ein Gefühl von Kontrolle, und die psychische Energie hilft dem Selbst, sich zu stärken, statt sich im Dienst äußerer Ziele zu verlieren.“ (Csikszentmihalyi 2010, S.99)

Wie wichtig es ist, das Selbst im Sinne des Selbstvertrauens zu stärken und sich von den eigenen, inneren Impulsen und Zielen leiten zu lassen, anstatt von außen vorgegebene Strukturen lediglich lustlos nachzuleben, wird in den nachfolgenden Kapiteln weitere Erwähnung finden. (vgl. Kapitel ‚Das Darstellen von Präsenz‘)

Nicht nur bei der Beobachtung von Menschen lässt sich die Ansteckung von Präsenz finden. Lehmann beschreibt eine Möglichkeit, Präsenz auf der Bühne entstehen zu lassen: „[…] durch Techniken, die die physische Realität der Dingwelt auf der Bühne, zumal in der Interaktion mit den menschlichen Akteuren zur Erscheinung werden lassen“. (Lehmann 1999, S.20) Seel erklärt, dass wir unsere eigene Gegenwart erfahren, sobald wir auf die Gegenwart eines Gegenstandes achten. Jede Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein eines Hier und Jetzt einer Erscheinung ist zugleich ein Bewusstsein des eigenen Hier und Jetzt.

„Es geht den Subjekten der ästhetischen Wahrnehmung um ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem. In der sinnlichen Präsenz des Gegenstands werden wir eines Augenblicks unserer eigenen Gegenwart inne.“ (Seel 2000, S. 62)

Präsenz kann sowohl bei einem beobachtenden Menschen als auch in einem Saal mit 2.000 Zusehenden entstehen. Die durch die Darstellenden kommunizierte Präsenz eines Gegenstandes auf der Bühne führt zu einer verstärkten Präsenz für alle Beobachtenden des von ‚entdeckten‘ Gegenstandes. Durch die Aufmerksamkeit auf das momentane Spiel der Erscheinungen entsteht – wie Seel ausdrückt – ein anschauendes Bewusstsein von Gegenwart, „[…] ein Bewußtsein eines Hier und Jetzt, daß zugleich ein Bewußtsein meines Hier und Jetzt umfaßt.“ (Seel 2000, S.62) Ich möchte das in zwei Beispielen erläutern.

Ein Schauspieler, der sich auf der Bühne intensiv beispielsweise mit einer Sonnenblume beschäftigt, lässt nicht nur die Sonnenblume für sich präsent werden, er kommuniziert die Präsenz durch seine Fähigkeit, den Beobachtenden die entdeckte Präsenz eben dieser durch ihn beobachteten Blume darstellerisch mitzuteilen. Um die Blume präsent werden zu lassen, wird er sich zuerst selbst als präsent wahrnehmen und dies zu kommunizieren wissen. Die kommunizierte Körperpräsenz des Schauspielers sowie die Darstellung der von ihm entdeckten Präsenz der Sonnenblume wirkt nun ansteckend, die Beobachtenden werden präsent, ihre Achtsamkeit richtet sich nun ebenfalls auf die Sonnenblume und automatisch auf die Sinnlichkeit ihres eigenen Körpers. Das Körpergefühl und die Empfindung der Blumen werden eins und verschmelzen im Idealfall zu einer als magisch empfundenen Zeitlosigkeit des gegenwärtigen Momentes.

Blickt der Performer einer Straßenperformance langsam und bedächtig über die Gruppe der Zusehenden, und bleiben seine Augen dabei auf einen orangefarbenen, aufgespannten Regenschirm einer Zuseherin haften, wird auch der Rest der Zuschauergruppe verleitet sein, ebenfalls diesen Regenschirm in seiner momentanen Präsenz, seiner leuchtenden Farben und seiner besonderen Form, wahrzunehmen. Lauscht der Performer nun dem plötzlich auftretenden Wind und ist selbst authentisch bewegt von dem Gefühl des Windes auf seiner Haut, der Luftfeuchtigkeit und der gewissen Kälte dieses Lufthauches, werden diesen Wind auch die meisten der aufmerksamen Zuseher wahrnehmen, ihn auf der Haut spüren und sein Rauschen in den umstehenden Bäumen hören. Kommt nun ein Außenstehender Beobachter zu dieser Performance hinzu, wird er vermutlich nicht nur den Performer, sondern insbesondere auch das Publikum als besonders präsent wahrnehmen.

Präsenz und die Zeit

Das Problem der Zeit

„[...] wir alle sind auch Werkzeuge dessen, was Wirklichkeit wird. Deshalb ist es nötig, daß wir uns die Mittel erarbeiten, mit deren Hilfe wir diese neue Wirklichkeit auch von uns aus mitgestalten können. Ein entscheidender Schritt wird dann getan sein, wenn es uns gelingt, die ganze Komplexität des „Zeit“-Themas zu realisieren; […]“ (Gebser 1995, S.81)

Das Phänomen der Präsenz und das der Zeit stehen in einem engen Zusammenhang. Dass Präsenz etwas mit Zeit zu tun hat, lässt sich bereits unmittelbar aus der Etymologie des Wortes herauslesen. Präsenz stammt vom Wort ‚Präsens‘, der Gegenwart. Bei der Beschäftigung mit Gegenwart sind auch die Themen Vergangenheit und Zukunft naheliegend.

Um Präsenz zu erforschen, ist es daher notwendig, die Phänomene rund um das Thema der Zeit zu untersuchen. Wie Drewes ausführt, ist Präsenz als Kategorie der Gegenwart immer auf den Kontext ihrer ‚jeweiligen Temporalstruktur‘ angewiesen, was bedeutet, dass die Kategorie Zeit das entscheidende Kriterium zu ihrer jeweiligen Bestimmung darstellt. (vgl. Drewes 2010, S.244) Auch Lehmann erwähnt, dass die ‚spezifische Zeitlichkeit der Künste‘ immer mehr zu einem Zentrum der kultur- und kunstwissenschaftlichen Forschung wird. (vgl. Lehmann 1999, S.14)

Für Lehmann ist die ‚Krise des Dramas‘ um die Jahrhundertwende wesentlich eine Krise der Zeit. Zu dieser Krise trugen die Veränderungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes, unter anderem die Quantentheorie, sowie neue Erkenntnisse der komplexen Zeitstruktur des Unbewussten bei. Lehmann beschreibt die zunehmende Erfahrung einer Spaltung der Zuschauer zwischen der Zeitperspektive des subjektiven Erlebens und der davon radikal abweichenden sozialen Uhrenzeit. (vgl. Lehmann 2008, S.321)

„Für das Theater geht es immer um die erlebte Zeit, um das Zeiterleben, das Akteure und Zuschauer teilen, und das offensichtlich nicht genau meßbar, sondern nur erfahrbar ist.“ (Lehmann 2008, S.309)

Kabat-Zinn nennt Zeitdruck als einen der Hauptstressfaktoren in unserer Gesellschaft. Er beschreibt die Möglichkeit, aus dem Fluss der Zeit herauszutreten, indem man es sich zu Gewohnheit macht, täglich eine gewisse Dauer damit zu verbringen, innerlich still zu werden. Kabat-Zinn beschreibt die transformierende Erfahrung der Zeit, die durch das bewusste Loslassen der (Uhren)Zeit und der dadurch entstehenden Gelassenheit, Entspannung und Zentriertheit gemacht werden kann. „Dann wird es möglich, mit der Zeit durch den Tag zu fließen, anstatt gegen sie anzukämpfen oder hinter ihr herzujagen, einfach dadurch, daß man dem gegenwärtigen Augenblick bewußt begegnet.“ (Kabat-Zinn 1993, S.268f)

„Das unbeteiligte Beobachten der Gedanken befähigt uns dazu, in der Stille jenseits des Gedankenstroms zu verweilen, ein einer zeitlosen Gegenwart. Da die Gegenwart das einzig immer Existierende ist, befindet sie sich außerhalb der Zeit.“ (Kabat-Zinn 1993, S.269)

Die Frage nach der ‚Zeit‘ wird immer dringender. Es scheint vor allem notwendig zu sein die Themen ‚Zeitnot‘ und ‚Zeitknappheit‘ der Menschen des westlichen Kulturkreises unserer jetzigen Epoche zu klären, denn „[…] statt daß wir uns der ‚Zeit‘ bewußt werden, vergewaltigt uns die ‚Zeit‘. Statt daß wir eine Zeitklarheit, die letztlich Zeitfreiheit ist, erreichen, unterliegen wir dem Zeitrausch. Denn es ist der Zeitrausch, das Spiegelbild der Zeitangst, der heute über uns herrscht […]“. (Gebser 1986, S.421)

Gebser beschreibt die ‚Zeitangst‘ als hervorstechendstes Merkmal unserer Epoche. Die Zeitangst äußert sich dabei vielfältig, wie zum Beispiel als ‚Zeitsucht‘, durch die wir immer darauf aus sind, Zeit zu gewinnen. Wie Gebser erörtert, wird dabei jedoch meist die falsche Zeit gewonnen, nämlich jene, die sich ‚greifbar in räumliche Mehrtätigkeit‘ umsetzen lässt oder jene, die totgeschlagen werden muss, sobald man sie hat. Wie Gebser ausführt, äußert sich die Zeitangst auch in einem Versuch, die Zeit durch Materialisierung festzuhalten, was sich im Ausspruch ‚Zeit ist Geld‘ ausdrückt. Gebser beschreibt die menschliche Hilflosigkeit der ‚Zeit‘ gegenüber, da diese immer ‚ausgefüllt‘ werden muss, wodurch die Eingliederung der Zeit in die räumliche Vorstellung sichtbar wird: Zeit als etwas, das leer ist und wie ein Gefäß räumlich ausgefüllt werden muss. Die ‚Zeitflucht‘, die Hast und das Eilen sowie das ‚Nicht-Zeit-haben‘ des heutigen Menschen erwähnt Gebser als eine der Auswirkungen der Zeitangst. (vgl. Gebser 1978, S.58)

Unser westliches Leben spielt sich zum Großteil in einem System ab, das seine Definitionen durch Abgrenzungen in Kategorien findet. Gebser ist der Überzeugung, dass es für den Fortschritt notwendig sein wird, Systeme mit kategorialen Fixierungen als unzureichend zu bezeichnen. (vgl. Gebser 1986, S.417) Gebser erläutert, dass jedes kategoriale System ein ideelles Ordnungsschema im Sinne eines dreidimensionalen Gerüstes ist. Es hat somit statischen sowie räumlichen Charakter. Gebser betont, dass durch ein solches System ‚reale Erscheinungstatsachen‘ fixiert und absolutiert werden. Dadurch reichen kategoriale Systeme nur zu einer Weltbewältigung innerhalb der dreidimensionalen Weltvorstellung und Begriffswelt aus. Gebser ist der Überzeugung, dass es notwendig werden wird, in Zukunft verstärkt auch akategoriale Elemente anzuerkennen. Als akategoriale Größe schlechthin nennt Gebser die ‚Zeit‘ als Intensität. (vgl. Gebser 1986, S.338)

Doch was ist ‚Zeit‘ nun?

Dies ist „[…] eine Frage, die durch die philosophischen Anstrengungen während zweitausendfünfhundert Jahren nicht gelöst wurde - oder höchstens individuelle Lösungen, Erklärungen oder Abstraktionen zutage förderte.“, wie Gebser feststellt. (Gebser 1978, S.250)

Hans-Thies Lehmann weicht dem Thema ‚Zeit‘ aus, indem er in seiner Arbeit ‚Die Gegenwart des Theaters‘ anfänglich klar stellt, dass ebendort gewiss nicht der Ort sei, um die ‚Labyrinthe der Zeitphilosophie‘ zu durchirren. (vgl. Lehmann 1999, S.13) Miriam Drewes mutmaßt, dass der naheliegendste Grund der marginalen Beschäftigung mit dem Thema Zeit in der Theaterwissenschaft in der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu suchen sein dürfte. Drewes stellt fest, dass das Thema ‚Zeit‘ sich entzieht, sobald man es begrifflich zu konkretisieren versucht und dass trotz aller Bemühungen zur Klärung des Begriffes von der Antike bis heute ‚Zeit‘ weder definierbar noch erklärbar gemacht werden konnte. (vgl. Drewes 2010, S.244)

Gebser erwähnt, dass spätestens seit Einstein und der Formulierung des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums am Beginn des 20. Jahrhunderts das Zeitproblem in den Naturwissenschaften eine Hauptrolle spielte. (vgl. Gebser 1986, S.384) Wendorff hält fest, dass sich die Philosophien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so intensiv wie niemals zuvor um das Zeitbewusstsein des Menschen bemüht haben und dass sich aus diesen Bemühungen auch ein starker Druck auf die Psychologie ergab. (vgl. Wendorff 1988, S.43)

Für Jung schien es, dass Raum und Zeit in einem Zusammenhang mit psychischen Bedingungen stehen und er erwähnte die Möglichkeit, dass beide Größen mitunter gar nicht existieren und nur durch das Bewusstsein ‚gesetzt‘ sind. Raum und Zeit blieben für ihn eine höchst zweifelhafte Sache. (vgl. Jung 1952, S.20) Auch Kabat-Zinn erinnert daran wie wichtig es ist zu erkennen, dass die Zeit ein Konstrukt des Geistes und keine absolute Größe ist. Minuten und Stunden seien nichts weiter als Konventionen, „[…] die weder aus sich selbst heraus noch in einer unabhängigen Art und Weise existieren.“ (Kabat-Zinn 1993, S.272)

Wie Gebser erörtert, sind die Aspekte der Zeit keine Größen, sondern Elemente oder ‚Funktionalen‘ und somit räumlich weder zu fassen noch einzuordnen. (vgl. Gebser 1986, S.382)

„Zeit ist nicht mehr nur Zeit-Raum, wie ein unmöbliertes Zimmer, das ich rational planend nach meinem Geschmack einrichten und quantitativ „füllen“ kann. Zeit ist ein Beziehungsfeld, ein Kraftfeld, an dem ich teilhabe.“ (Gebser 1949, S.10)

Das Bewusstsein der Zeit

Wie Zeit wahrgenommen wird, ist eine Frage des Bewusstseins. Um die Zeit zu untersuchen, ist die Erforschung des Bewusstseins unerlässlich. Einer der faszinierendsten Bewusstseinsforscher des 20. Jahrhunderts war der bereits zitierte Jean Gebser (1905- 1973).

Die Etymologie lehrt uns, dass das Wort ‚bewusst‘ in der reflexiven Formel ‚sich einer Sache bewusst sein‘ im Sinne von ‚wissen, sich klar darüber sein‘ gebraucht wird und zusammen mit der Ableitung ‚Bewusstsein‘ in der philosophischen und psychologischen Fachsprache eine bedeutende Rolle spielt. (vgl. Kluge 2002, Eintrag bewußt) Gebser meint, dass Bewusstsein jedoch mehr ist als Wissen, bloße Kenntnis oder Erkenntnisfähigkeit. Bewusstsein sei nicht mit dem Denkprozess oder dem reinen Ich-Bewusstsein gleichzusetzen. „Es ist kein bloßes Gegenüber zu den Dingen und Erscheinungen, sondern beobachtender Zuschauer, aber auch handelnde Instanz und hat regulative Funktionen.“ (Gebser 1978, S.291)

Gebser sieht die Entfaltung des Bewusstseins als Grundthema aller menschlichen Bemühungen. (vgl. Gebser 1978, S.71) Gebser ist jedoch der Auffassung, dass die vorherrschende Meinung, dem materiellen Mehr müsse ein bewusstseinsmäßiges Mehr gegenübergestellt werden ein Fehler unserer heutigen quantitativ betonten rationalen Haltung ist. Gebser betont daher, dass es nicht um eine Bewusstseinserweiterung geht, sondern wir stattdessen von einer Bewusstseinsintensivierung sprechen müssen. (vgl. Gebser 1978, S.209)

Gebser ist zur Auffassung gekommen, dass es verschiedene Intensitäten des Bewusstseins und damit verschiedene Strukturen des Bewusstseins gibt. Die Intensität unseres Bewusstseins entscheidet, wie wir uns und unsere Umwelt wahrnehmen. Die einfache Unterscheidung zwischen ‚bewusst‘ und ‚unbewusst‘ hält Gebser jedoch für einen Fehlschluss eines radikal angewandten Dualismus. Der reine Gegensatzbegriff ‚unbewusst‘ selbst würde durch die in der psychologischen Literatur vorgenommene Identifikation mit dem ‚Verdrängten‘ und ‚Vergessenen‘ entwertet. Der Begriff ‚unbewusst‘ ist für Gebser ein irritierender. (vgl. Gebser 1978, S.290f) Auch für Wolf ist die Vorstellung, dass die Psyche in einen bewussten und einen unbewussten Teil aufgespalten wird, ein „[…] strukturaler analytischer Ansatz, der sich der zu Freuds Zeiten vorherrschenden mechanistischen Weltsicht verdankt.“ (Wolf 1995, S.23)

Ebenso einer irreführenden Weltsicht entsprungen ist eine bloße dualistische Aufspaltung der Zeit in eine ‚subjektiv‘ erlebte Zeit, welche der gemessenen, ‚objektiven‘ Zeit gegenüber gestellt wird. Die Intensität Zeit muss differenzierter betrachtet werden. Wir dürfen nicht Gefahr laufen, die im Zeitempfinden oftmals auftretenden erlebten magischen Qualitäten lediglich als ‚irrealen‘ Gegensatz zur gemessenen ‚realen‘ Uhrenzeit zu sehen. Zeit ist offensichtlich mehr als die uns bekannte Uhrenzeit.

Gebser beschreibt das Bewusstsein als Intensität und ungreifbare Gegebenheit. Ihr gegenüber stellt Gebser die ‚Raum-Zeit-Welt‘ als ‚Extensität‘ und greifbare Gegebenheit, welche Gebser als korrespondierende Bühne beschreibt, dank derer das Bewusstsein Wirkcharakter bekommt. (vgl. Gebser 1978, S.205) Wie wir unser Bewusstsein auf dieser ‚Bühne des Lebens‘ in Raum und Zeit schließlich wirken lassen, hängt von den Möglichkeiten unserer derzeitigen Bewusstseinsstruktur ab. Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur das gestalten können, was wir auch wahrnehmen oder imaginieren können, dann gestalten wir unser Leben und Handeln anhand unserer Vorstellungen von Raum und Zeit.

Wie sich unsere Welt im Zusammenhang mit Raum- und Zeitwahrnehmung laufend verändert und bereits verändert hat, wird anhand Gebsers Forschungen zu den Bewusstseinsstrukturen ersichtlich, die ich in den nachfolgenden Kapiteln näher erläutern will.

Die Zeitformen nach Gebser

Gebser hat anhand kulturanthropologischer und spartenübergreifender Forschungen herausgefunden, dass es verschiedene Bewusstseinsstrukturen gibt, die sowohl in den Epochen der Menschheitsgeschichte zu finden sind als auch in der Geschichte jedes einzelnen Menschen wirksam werden. Sobald eine vorherrschende Bewusstseinsstruktur nicht mehr wirksam ist, mutiert aus ihr eine neue Bewusstseinsstruktur heraus.

Wie Gebser erklärt, ist die Art und Weise wie wir die Welt sehen abhängig von der Art unseres Bewusstseins. Bewusstsein und Zeitwahrnehmung sind mutationsbedingt in jeder einzelnen Bewusstseinsstruktur zu unterscheiden, da jede Bewusstseinsstruktur unterschiedliche Manifestations- und Realisationsmöglichkeiten ermöglicht. Jede Bewusstseinsstruktur wird durch eine andere Art der Zeitwahrnehmung charakterisiert. (vgl. Gebser 1978, S.291)

Gebser unterscheidet zumindest drei verschiedene Zeitformen: die magische, ‚vital betonte‘ Zeitlosigkeit, die mythische, ‚psychisch betonte‘ Zeithaftigkeit und die mentale, raum-betonte Zeitlichkeit, welcher der uns bekannten Uhrenzeit entspricht. In der Entstehung befindlich beschreibt Gebser die integrale Zeitfreiheit. (vgl. Gebser 1986, S.381) Die Zeitfreiheit steht, wie sich herausstellen wird, in einem engen Zusammenhang mit der Entdeckung und Darstellung von Präsenz.

Um die von Gebser beschriebenen Zeitformen auszuführen, möchte ich im Folgenden auf die Bewusstseinsstrukturen, die den jeweiligen Zeitformen zugrunde liegen, näher eingehen.

Gebser unterscheidet drei aus der archaischen Grundstruktur hervorgehende Bewusstseinsstrukturen, nämlich die magische, die mythische und die mentale Struktur. Gebser betont, dass es sich bei diesen die Menschen konstituierenden Strukturen um ein ganzheitliches Phänomen handelt, da jeder einzelne Mensch nicht nur die Summe oder das bloße Resultat dieser Bewusstseinsmutationen ist, sondern deren ganzheitliche Verkörperung darstellt. (vgl. Gebser 1978, S.173) Jeder Mensch stellt somit strukturmäßig die ganze Mutationsreihe der Menschheit dar und lebt sie auch. (vgl. Gebser 1978, S.183) Gebser erwähnt weiters, dass diese uns konstituierenden Strukturen nicht nur einen ‚Vergangenheits­Charakter‘ haben, „[…] sondern in mehr oder minder latenter oder akuter Form heute noch in jedem von uns vorhanden sind“. (Gebser 1978, S.81)

Die archaische Struktur ist, wie Gebser vermutet, anfänglich mit dem Ursprung selbst identisch und weitgehend ‚bewusstseinsfern‘. Bei dem Versuch Aussagen über diese Zeit heranzuziehen, fand Gebser kaum Hinweise, die zu einer Präzision dieser frühen Zeit führen. (vgl. Gebser 1978, S.83f) Die archaische Ursprungsgegenwärtigkeit beschreibt Gebser als ‚unverlierbar‘. Da alle weiteren Bewusstseinsstrukturen aus der archaischen herausmutierten, kann davon ausgegangen werden, dass auch diese nicht verloren gehen können und somit latent in uns vorhanden sind. (vgl. Gebser 1978, S.178)

Das archaische, magische und mythische Empfinden, welches wir als Erwachsene in unseren Träumen oder auch in wenigen, kurzen Momenten des Wachseins erfahren, ist in uns ‚gespeichert‘ und nicht für immer verborgen. Es kann wieder entdeckt werden.

Ich möchte im Folgenden auf die Zeitlosigkeit der magischen Struktur, die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur, die Zeitlichkeit der mentalen Struktur sowie auf die von Gebser propagierte entstehende Zeitfreiheit der integralen Struktur näher eingehen.

Die Zeitlosigkeit der magischen Struktur

Die Raum- und Zeitlosigkeit der magischen Struktur sind für Gebser der Ausgangspunkt einer speziellen Bewusstseinsleistung: Gebser erinnert daran, dass die Begriffe ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ von unserem Bewusstsein erarbeitet wurden und dieses auch konstituieren und seine Wirksamkeit ermöglichen. (vgl. Gebser 1978, S.234)

In der magischen Struktur wird der Mensch aus dem Einklang seiner ‚Eingeflochtenheit‘ in der Natur und damit aus der Identität mit dem Ganzen herausgelöst, womit ein erstes Bewusstwerden einsetzt, da der Mensch zum ersten Male nicht mehr nur in der Welt ist, sondern ein erstes ‚schemenhaftes Gegenübersein‘ beginnt, wie Gebser beschreibt. Der Mensch beginnt zu wollen, er stellt sich gegen die Natur und versucht ihre Übermacht mit den naturhaften Mitteln Bannen und Beschwören, Totem und Tabu in den Griff zu bekommen. (vgl. Gebser 1978, S.87f)

„Die Herauslösung aus der Natur ist der Kampf, dem jener merkwürdige Zwang zum Wollen, jener in einem sehr gewissen Sinne tragische Zwang zur Macht, zugrunde liegt. Dieser Zwang ist es, der den magischen Menschen befähigt, sich gegen die Übermacht der Natur zu stellen, um der bindenden Macht des Eingeflochtenseins zu entgehen.“ (Gebser 1978, S.95f)

Gebser sieht den Ursprung nicht nur unserer Maschinen und unserer Mechanik, sondern auch den der heutigen Machtpolitik in der magischen Struktur liegend. „[…] die Natur, die Umwelt und die Anderen müssen beherrscht werden, damit der Mensch nicht von ihnen beherrscht werde; diese Furcht, daß man gezwungen sei, das Außen zu beherrschen (um nicht von ihm beherrscht zu werden), ist symptomatisch gerade auch für unsere Epoche.“ (Gebser 1978, S.96)

Wir können einfacher in die Sphäre von Zeitlosigkeit und Magie eintreten, wenn wir den Wunsch erkennen, andere beherrschen und manipulieren zu wollen und beginnen, diesen zu transformieren. Dies wird in erster Linie dadurch zu erreichen sein, indem wir bereits frühzeitig zu erkennen lernen, wann wir beginnen, uns selbst manipulierend zu beherrschen.

Der Druck zur Leistung und Angepasstheit scheint uns zu einem Verhalten zu zwingen, welches unsere authentischen Impulse unterdrückt und uns Dinge tun lässt, die uns und damit auch unsere Umwelt auf Dauer mehr schädigen als dass sie positive Wirkung zeigen. Die Akzeptanz des eigenen Selbst und der achtsame Umgang mit sich selbst sind Grundvoraussetzungen für die Akzeptanz und wertfreie Beobachtung des Außen und damit eine entscheidende Komponente in der Entdeckung von Gegenwärtigkeit. Leider sind die erwähnten Kompetenzen üblicherweise kein Unterrichtsgegenstand in unseren heutigen Lehranstalten. Wir lernen vielmehr zu urteilen, zu zerteilen und wieder einzuordnen, um das Getane schließlich einer Bewertung zu unterziehen bzw. unterziehen zu lassen.

Gebser bezeichnet die frühe magische Struktur als eine Welt ohne Werte, in der alles gleiche Gültigkeit hat. Der magische Mensch empfindet die Dinge, die einander zu ähneln scheinen, als miteinander sympathisierend und verknüpft sie durch den ‚Vitalkonnex‘, wie ihn Gebser im Gegenzug zum mental-rationalen Kausalkonnex nennt. Gebser vergleicht diese Form von Gleichgültigkeit und Gleichsetzung mit dem, was wir assoziatives Denken nennen könnten. (vgl. Gebser 1978, S.94f) Assoziationsspiele sind im Training zur darstellenden Kunst und deren präsenter Form der szenischen Improvisation ein häufig angewandtes Proben- und Übungsmittel und somit auch ein möglicher Zugang zu den frühen magischen Strukturen.

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Ende der Leseprobe aus 133 Seiten

Details

Titel
Das Spiel mit Präsenz
Untertitel
Zur Entdeckung und Darstellung von Gegenwärtigkeit auf der Bühne und in bühnenähnlichen Situationen
Hochschule
Universität Wien  (Theater- Film- und MedienwissenschaftPhi)
Veranstaltung
Theater- Film- und Medienwissenschaft
Note
1
Autor
Jahr
2014
Seiten
133
Katalognummer
V294517
ISBN (eBook)
9783656922162
ISBN (Buch)
9783656922179
Dateigröße
994 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
“Herr Loibner wagt sich mit wissenschaftlichem Verantwortungsbewusstsein an die Analyse des Phänomens, indem er kultur-, mentalitäts- und sozialwissenschaftliche Thesen über Präsenz kritisch diskutiert und [...] unter Einbeziehung künstlerischer Konzepte selbstbewusst weiterentwickelt und in einer umfassenden Conclusio seine Forschungsergebnisse systematisiert.” Es liegt eine “[...] innovative, die Grenzen der Standardtechniken des wissenschaftlichen Arbeitens auslotende und nach Grenzüberschreitung fragende, konsequent durchdachte und flüssig formulierte Studie vor.”
Schlagworte
spiel, präsenz, entdeckung, darstellung, gegenwärtigkeit, bühne, situationen
Arbeit zitieren
Stefan Loibner (Autor:in), 2014, Das Spiel mit Präsenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294517

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