Kritische Soziologie. Hartmut Rosas Theorie der Beschleunigung


Hausarbeit, 2010

13 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kritische Soziologie oder Soziologie der Kritik?
2.1 Wertneutralität soziologischer Erkenntnis
2.2 Soziologie der Kritik
2.3 Kritische Soziologie

3 Rosas Theorie der Beschleunigung
3.1 Wachstum und Beschleunigung
3.2 Das Grundversprechen der Moderne
3.3 Die Gefahr der Beschleunigungsprozesse

4. Resümee

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„ Gemeinsam teilen wir dieüberzeugung, dass in der Tat ein großer Akt der » Erneuerung « ansteht, [ … ]: die Rückkehr der Kritik in die Soziologie. “1

schreiben Dörre, Lessenich und Rosa 2009. In ihrem Buch „ Soziologie- Kapitalismus- Kritik “ geht es den drei Jenaer Soziologen dabei um die Wiederbelebung einer kritischen Praxis in der Soziologie, die Rückkehr zu einer Wissenschaft, die Kritik als Hauptaufgabe ihrer Theoriebildung begreift. Trotz der zunehmenden Kapitalismuskritik in Zeiten der „Krise“ sind die Autoren der Überzeugung, dass es der Soziologie als Disziplin bisher nicht gelungen sei, sich in einer Art und Weise mit dem aktuellen Wandel des Kapitalismus auseinanderzusetzen, die ihrem „ kritisch aufklärerischen Selbstverständnis gerecht würde “2

Sie sind sich einig, dass eine kritische Soziologie in der modernen Gesellschaft vor allem auf den Kapitalismus und seine gesellschaftlichen Konsequenzen abzielen müsse.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Hartmut Rosas Theorie der Beschleunigung. Da auch Rosa die Auffassung vertritt, dass Gesellschaftskritik die wesentliche Aufgabe der Soziologie sei, werde ich mich im ersten Teil mit der Frage nach der Rolle soziologischer Kritik auseinandersetzen. Immer wieder entstehen Debatten über die Legitimation und Sinnhaftigkeit der Soziologie als Wissenschaft. Dabei steht entweder die Wertneutralität soziologischer Studien oder ihr gesellschaftlicher Nutzen zur Disposition. Auch innerhalb der Soziologie selbst gibt es Verwerfungen über die Motivation, Aufgaben und Zielstellungen, die die Soziologie hat/haben sollte.

Die wesentliche Frage, der ich mich in meinen Betrachtungen widmen möchte, ist ob Soziologie sich auf Analysen beschränken muss oder ob sie selbst kritisch werden kann. Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich Hartmut Rosas Theorieansatz erläutern. Dabei werde ich mich vor allem auf die Texte aus „ Soziologie- Kapitalismus- Kritik “ beziehen. Abschließend möchte ich zu der anfänglichen Problemstellung zurückkehren und mit Hilfe von Rosas Ansätzen auf die Frage antworten, ob Soziologie kritisch sein sollte.

2 Kritische Soziologie oder Soziologie der Kritik?

„ Kann die Soziologie als Wissenschaft kritisieren? Oder ist sie darauf festgelegt zu beobachten, unter welchen Bedingungen, wie und mit welchen Folgen in der Gesellschaft Kritik geübt wird? “3

Mit dieser Frage eröffnet Georg Vobruba die E-Mail-Debatte zur Frage „Kann Soziologie kritisieren?“.

Er selbst vertritt dabei die Position, dass Kritik nicht Aufgabe der Soziologie sei, sondern lediglich ihre Beobachtung. Trotzdem könne man dies als Soziolog/in in kritischer Absicht tun. Allerdings sieht Vobruba keine Möglichkeit Kritik so anzulegen, dass man nicht aus der Wissenschaftler/innenrolle falle. Mit dieser Auffassung verbunden ist die These, dass ein/e Forscher/in dem Gegenstand der Betrachtung stets neutral und wertfrei gegenüber stehen müsse. Für ihn ergibt sich somit nur die Option, die real in der Gesellschaft stattfindende Kritik soziologischer Betrachtung zu unterziehen, also sich mit anderen Worten auf eine „ Soziologie der Kritik “ zu beschränken. Die Alternative dazu wäre kritische Intervention, was (nach Vobrubas Ansicht) bedeuten würde, die eigene analytische Position aufzugeben und durch Engagement zu ersetzen.

Stephan Lessenich vertritt hingegen die Position, dass die Soziologie als Wissenschaft bereits den Widerspruch verlange, also „ danach, zu widersprechen wie auch Widerspruch zu ernten “4. Die soziale Welt schreie geradezu nach grundsätzlicher Kritik und die Soziologie sei bisher nicht dazu in der Lage in ausreichendem Maße Gesellschaftskritik zu üben. Es reiche nicht eine wissenschaftliche Dauerbeobachtung der real gesellschaftlich existierenden Kritik anzustellen, sondern Soziologie müsse darüber hinausgehen. Er vertritt die Auffassung, dass die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen von der Soziologie als Wissenschaft kommen muss.

Hartmut Rosa geht mit seinen Thesen sogar noch einen Schritt weiter. Er wirft jenen Schulen der Soziologie, die den kritischen Anspruch in Frage stellen vor, dass sie den „ motivationalen Ursprung und legitimatorischen Anker der Soziologie vorsätzlich zu verleugnen versuchen “ 5. Das Ziel soziologischer Aufklärung muss es sein, Einblicke in die Umstände zu gewinnen, die eine gelingende menschliche Lebensführung fördern beziehungsweise ihr im Weg stehen. Rosa proklamiert also, dass die Soziologie nicht nur kritisch sein solle, sondern dass Kritik vielmehr ihr eigentlicher Ursprung, die Wurzel der Wissenschaft selbst sei.

Da die Forderung nach einer gesellschaftskritischen Ausrichtung der Soziologie bereits in sich eine politische Dimension besitzt werde ich nun auf die Frage nach der Wertneutralität der Soziologie eingehen.

2.1 Wertneutralität soziologischer Erkenntnis

Soll der soziologische Erkenntnisgewinn frei von Werturteilen sein, so müsste der/die Wissenschaftler/in eine neutrale Position zu dem jeweils betrachteten Forschungsgegenstand einnehmen. Allerdings besitzt jede/r Forscher/in eine eigene soziale Identität, geprägt durch die gesellschaftliche Gruppierung, der er/sie angehört, und die sozialen Rahmenbedingungen. Somit stellt die soziale Identität bereits einen ersten wesentlichen Einflussfaktor auf die Generierung soziologischen Wissens dar. Der/die Forscher/in kann diese Identität nicht einfach ablegen und kann somit niemals absolut objektiv sozialwissenschaftliche Phänomene betrachten. Selbst bei der Betrachtung in sich geschlossener mikrosoziolgischer Phänomene beeinflussen Normen- und Wertvorstellungen, die im Zuge der eigenen Sozialisation erworben wurden, die Sichtweise auf den Forschungsgegenstand.

Weitet man die Betrachtung auf die gesamte Gesellschaft aus, so steht die Gesellschaftskritik vor der Paradoxie zugleich Subjekt und Objekt der Kritik zu sein.

Die Vorstellung einer wertneutralen Soziologie, wie sie beispielsweise Georg Vobruba in der bereits zitierten E-Mail-Debatte vertritt, scheitert also schon an der sozialen Identität des/der Forschers/in. Die Frage nach der Objektivität und Werturteilsfreiheit soziologischer Forschung lässt sich folglich dahingehend beantworten, dass die Soziologie diese Ansprüche nicht erfüllen kann. Der Anspruch der Soziologie selbst, gesellschaftliche Prozesse zu beschreiben und zu analysieren wirft bereits das Problem auf, dass die Wissenschaft in diesem Fall ihrem Forschungsobjekt „voreingenommen“ gegenübersteht. Die vermeintlich mangelnde Wertneutralität ist also kein Widerspruch zum wissenschaftlichen Anspruch der Soziologie.

In der Diskussion um die Rolle der Kritik gibt es zwei grundlegend verschiedene Position, welche in den beiden folgenden Abschnitten erläutert werden sollen.

2.2 Soziologie der Kritik

Georg Vobruba argumentiert, dass sich die Soziologie, um ihrem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, auf die Beobachtung beschränken sollte anstatt selbst zu kritisieren. Beschränkt man sich auf eine solche „ Soziologie der Kritik “, wie sie Vobruba vorschlägt, bleibt man bei der Beobachtung von Situationen stehen und übersieht die dahinter stehenden gesamtgesellschaftlichen Prozesse.

Selbstverständlich kann auch diese Form der Soziologie in der Absicht betrieben werden gesellschaftliche Verbesserungen herbeizuführen, jedoch bleibt sie durch die Beschränkung auf Teilaspekte stets reformistisch.

„ Eine Soziologie, die schlicht die innere Ordnung von Situationen beschreibt [ … ] mag zwar » Reparaturen « im sozialen Betrieb anregen [ … ] aber zum Entwurf von gr öß eren kollektiven Projekten vermag sie nichts beizutragen “6 schreibt Luc Boltanski dazu. Seiner Meinung nach sei aber eben dieser Entwurf „ gr öß erer kollektiver Projekte “ die Aufgabe und Zielstellung der Soziologie, mit der sie bereits zu ihrer Entstehung angetreten sei.

Die real gesellschaftlich stattfindende Kritik bewegt sich zumeist in einem vorgegebenen Rahmen und kritisiert nur Teilaspekte, einzelne Vorkommnisse oder relative Ungerechtigkeiten. Die Struktureigenschaften der Gesellschaft insgesamt werden dabei meist nicht hinterfragt, da sie oft alternativlos erscheinen. Die vorherrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsform des Kapitalismus beherrscht den Geist der in ihr lebenden Subjekte. Aufgabe einer Gesellschaftstheorie mit kritischem Anspruch muss es sein, dieser Akzeptanz der Realität zu begegnen und eine über die alltäglichen Formen der Kritik hinausgehende Theorie zu formulieren. „ Sie muss Normailitäten, Notwendigkeiten und Wahrheiten problematisieren, mit denen und auf deren Fundament die Politik der Aktivierung operiert. “ 7

Die Gesellschaftskritik muss jene Werte und Normen in Frage stellen, die als „normal“ gelten; es geht um eine Kritik an den gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten8.

2.3 Kritische Soziologie

Gegenstand der Soziologie sei die „ Frage nach dem guten Leben “9 schreibt Hartmut Rosa, sie entstehe aus dem diffusen Gefühl „ Hier stimmt etwas nicht “10. Die Besorgnis über die Entwicklung der Lebensumstände war schon in der klassischen Soziologie Antrieb der Forschungen. Auch wenn soziologische Entwürfe nicht von vornherein kritisch angelegt waren, so enthielten und enthalten sie doch meist eine kritische Komponente. Nach Rosas Ausführungen macht dies auch die anhaltende Attraktivität der Kritischen Theorie aus, da sie bereits durch ihr Programm und ihren Namen jene Grundwahrnehmung der Soziologie, dass etwas nicht stimmt, beinhalte. Entgegen der Behauptung „ Wissenschaftlichkeit “ und „ Neutralität “ stünden im Widerspruch zum motivationalen Ursprung der Soziologie, vertritt Hartmut Rosa die These, „ dass Soziologie nur dann attraktiv und gerechtfertigt ist, wenn sie ihre Fragestellungen auf jenen Ausgangspunkt des gelingenden Lebens wenigstens indirekt bezieht “ 11.

Die Definition dessen, was als „gelingendes“ Leben angesehen wird entstammt dabei immer der Gesellschaft selbst. Es gibt folglich keine allgemein gültigen Maßstäbe soziologischer Kritik. Der/die soziologische Betrachter/in ist selbst stets Teil der Gesellschaft und die von ihm/ihr angewandten Maßstäbe der Kritik somit auch gesellschaftlichem Wandel unterworfen. Damit grenzt sich Rosa auch deutlich von soziologischen Ansätzen ab, die per Definition versuchen „wahrhaftige“ und „falsche“ Bedürfnisse menschlichen Strebens zu unterscheiden.

Rosa betrachtet alle Versuche kritischer Theoretiker/innen, solche allgemein gültigen Maßstäbe zu finden als gescheitert. Der/die Soziolog/in ist selbst Teil seines/ihres Beobachtungsgegenstandes und kann somit unmöglich die „wahre menschliche Natur“ definieren. Eine solche Herangehensweise stehe unter dem Verdacht ideolgiegeprägt zu sein.

In der spätmodernen Gesellschaft, darin sind sich Rosa, Lessenich und auch Dörre einig, komme eine Soziologie, die einen kritischen Anspruch verfolgt, nicht umhin sich mit dem Kapitalismus beziehungsweise seinen sozialen Bedingungen und Auswirkungen zu befassen. Die Kritik hat dabei in erster Linie das Ziel einer gesellschaftlichen Emanzipation von nicht zu rechtfertigender Herrschaft beziehungsweise von den gesellschaftlich nicht kontrollierbaren Systemzwängen. Sie zielt letztendlich auf eine Systemüberwindung ab, ohne dabei zwangsläufig einen Entwurf konkreter Utopien jenseits des kapitalistischen Systems zu formulieren.

3 Rosas Theorie der Beschleunigung

Wie ich schon im vorhergehenden Absatz erwähnt habe sieht Hartmut Rosa die Frage nach dem „ gelingenden Leben “ als den Ausgangspunkt jeglicher soziologischer Betrachtung. Die Untersuchung der Arbeitswelt, der Familie oder der Familienentwicklung ist für die Soziologie nur deshalb von Interesse, weil sich diese Umstände entscheidend auf eine gelingende Lebensführung auswirken.12

Weiterhin geht Hartmut Rosa davon aus, dass man als Soziolog/in ebenfalls handelndes Subjekt innerhalb der Gesellschaft sei. Daher findet die Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse aus einer internen Perspektive statt. Die Maßstäbe der Gesellschaftskritik stammen demzufolge aus der betrachteten Gesellschaft selbst. „ Es sind die Leidenserfahrungen der betroffenen Subjekte, die [ … ] die Kriterien für die Diagnosen der Soziologie liefern können. “13

Die Aufgabe der Kritik muss dann folglich darin bestehen die Ursachen für das Verfehlen des „ guten Lebens “ , nach den sozial wirkmächtigen Idealen, zu analysieren. Ebenso kann sie sich zur Aufgabe machen Unstimmigkeiten in diesen etablierten Konzeptionen aufzuzeigen. Diese Unstimmigkeiten können zu Einen darin bestehen, dass sich Leitideen gegenseitig widersprechen, zum anderen können sie selbst die Ursache dafür sein, dass ein gelingendes Leben den handelnden Subjekte unerreichbar scheint.14

In der kapitalistischen Moderne sind „ Autonomie “ und „ Authentizität “ die ideellen Eckpfeiler einer gelingenden Lebensführung. Kapitalismus und Demokratie sollen die Mittel zu deren Verwirklichung darstellen. Das Verfehlen dieser Leitideen beziehungsweise der Eintritt des Gegenteils im ökonomischen Konkurrenzkampf stellen somit einen „ Betrug am Projekt und am Grundversprechen der Moderen “15 dar.

Betrachtet man die Bedingungen unter denen die Akteure versuchen ihre Konzeptionen des gelingenden Lebens umzusetzen, so findet man schnell den Widerspruch, welcher die Umsetzung erschwert oder gar unmöglich macht.

3.1 Wachstum und Beschleunigung

Kapitalistische Gesellschaften zielen stets auf Wachstum ab. Das erklärte höchste Ziel ist die ständige Steigerung von Produktivität. Die Wachstumsfrage hat dabei Vorrang vor allen anderen Fragen. In dieser uneingeschränkten Priorität des Wachstums sieht Rosa bereits einen entscheidenden Widerspruch zu dem Versprechen der Moderne. Das kapitalistische System schafft den Wachstumszwang und steigert ihn in einem Maße, in dem er von den Bedürfnissen völlig unabhängig wird und unaufhaltsam weiter wächst. Dabei ist eben gerade die Überwindung materieller Zwänge das Versprechen, durch das die kapitalistische Vergesellschaftung ihr Legitimation erhält.

Obwohl der Wachstumszwang selbstverständlich scheint und von den Subjekten oft nicht in Frage gestellt wird bringt er einige Konsequenzen mit sich. Eine folgenschwere Konsequenz ist, „ dass wir als Akteure in solchen Gesellschaften gezwungen sind, jedes Jahr mehr zu produzieren, mehr zu zirkulieren und mehr zu konsumieren “16. Der Zwang zum Wachstum wirkt sich dabei unvermeidlich auf die Lebensführung der Akteur/innen aus, so dass auch sich auch Konsumverhalten zunimmt. Neben dem Wachstum charakterisiert die ständige Beschleunigung die kapitalistische Vergesellschaftung. So wird nicht nur immer mehr produziert und konsumiert, sondern diese Vorgänge gehen auch immer schneller. Wachstum und Beschleunigung sind dabei eng miteinander verbunden. Laut Rosas Theorie spiegelt sich die Beschleunigung auf verschiedenen Ebenen wieder: technische Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und Beschleunigung des Lebenstempos.

Beschleunigung bedeutet Zeitersparnis und bringt damit in kapitalistischen Gesellschaften einen Wettbewerbsvorteil mit sich. „ Zeit ist Geld lautet die einfache zeitliche Grundformel des Kapitalismus “17

Die Verknüpfung von Wachstum und Beschleunigung ist das, über alle Epochen hinweg bestehende, Wesensmerkmal des Kapitalismus. Daher prägen beide Phänomene essentiell die Lebensführung der Akteur/innen in kapitalistisch vergesellschafteten Systemen.

3.2 Das Grundversprechen der Moderne

Alle gesellschaftlichen Prozesse sind der Beschleunigung unterworfen. Das Streben nach Autonomie und Authentizität muss sich dem Konkurrenzkampf unterordnen. Das Verfehlen eines gelingenden Lebens ist somit quasi „vorprogrammiert“. Wir haben als Subjekte in der Gesellschaft nicht die Möglichkeit, uns nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu entwickeln und zu entfalten. Der ständige Zuwachs an Produktivität und die zunehmende Beschleunigung zwingen die Akteur/innen dazu „mitzuhalten“. Die Lebensführung muss sich also zwangsläufig an der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit orientieren. Wer nicht ständig auf die Steigerung der eigenen Produktivität und Effizienz bedacht ist, verliert den Anschluss im Konkurrenzkampf. Doch die Anschlussfähigkeit ist unabdingbare Grundlage zur Existenzsicherung, denn andernfalls droht Armut und materielle Not.

Das Grundversprechen der Moderne ist somit auf allen Ebenen gescheitert.18 Unter der Annahme, dass die Maßstäbe gelingenden Lebens kontingent sind und unter der Voraussetzung, dass sie tatsächlich den Wachstums- und Beschleunigungsprozessen zum Opfer fallen, könnte man also annehmen, dass sich die Ideale und Konzeptionen gelingenden Lebens ändern müssten. Mit anderen Worten, dass das Streben nach Autonomie und Authentizität in Folge des Modernisierungsprozesses untergeht.

Für Hartmut Rosa ergibt sich daraus die Frage, ob die Sozialkritik, als Ergebnis ihrer Analyse des Kapitalismus, eine Änderung der Konzeptionen des guten Lebens vorschlagen soll. Er lehnt allerdings die Aufgabe des Autonomieanspruches zugunsten einer Anpassung der Subjekte an die Systemgegebenheiten ab.

Stattdessen versucht er Schwächen des Beschleunigungskapitalismus aufzuzeigen, die seine eigene Reproduktion zu gefährden drohen. Im folgenden Abschnitt sollen diese Schwächen erläutert werden.

3.3 Die Gefahr der Beschleunigungsprozesse

Rosa behauptet, dass Wachstum und Beschleunigung den spätmodernen Kapitalismus an seine Grenzen führen.

„ Eine Grenze istüberschritten, wenn ich zwei Prozesse, die ineinandergreifen, so beschleunige, dass der eine nicht mehr mithalten kann. Wenn ich also zum Beispiel Rohstoffe schneller verbrauche, als sie nachwachsen können. “ 19

Neben der Überlastung des Ökosystems führt Rosa noch weitere Gründe dafür auf, dass die sich verselbstständigende Beschleunigung Fehlfunktionen in der Reproduktion des kapitalistischen Systems hervorruft.

Durch die Produktionsweise kapitalistischer Gesellschaften gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen sind. Diese Gruppe könnte durch revolutionäre Bestrebungen ebenfalls eine Gefahr für die Systemreproduktion darstellen. Durch die zunehmende Komplexität sind moderne Gesellschaften weitgehend ausdifferenziert, was wiederum eine Effektivierung der Aufgabenteilung bedeutet. Die unterschiedlichen Teilsysteme weisen unterschiedliche Anpassungsfähigkeiten auf. Somit droht bei steigender Beschleunigung eine ungleiche Entwicklung und fehlende Anpassung der Teilsysteme aneinander.

Aus den verschiedenen Fehlfunktionen, zieht Rosa den Schluss, dass Gesellschaftskritik nicht die

Aufgabe des Autonomieanspruches empfehlen sollte, sondern vielmehr eine grundlegende Kritik am Kapitalismus formulieren muss.

„ Selbst wenn er [Kapitalismus - Anm. d. Autors] reibungslos funktioniert, führt er mit logischer Notwendigkeit in ein uferloses Steigerungsspiel, das selbst die Profiteure und Gewinner nur unglücklich machen kann, weil es all ihre individuellen und kollektiven Energien einem einzigen, blinden, instrumentellen Telos unterwirft: dem Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. “20

4. Resümee

Die anfängliche Fragestellungen meiner Arbeit war, ob Soziologie selbst kritisch sein sollte oder ob sie sich auf eine „Soziologie der Kritik“ beschränken sollte.

Ich bin ganz klar der Meinung, dass Soziologie einen kritischen Anspruch verfolgen sollte. Das von Kritikern (wie z.B. Georg Vobruba siehe: 2 Kritische Soziologie oder Soziologie der Kritik?) vorgebrachte Argument der fehlenden Neutralität einer kritischen Gesellschaftstheorie kann meiner Meinung nach damit entkräftet werden, dass selbst eine unkritische Analyse gesellschaftlicher Bedingungen niemals völlig wertfrei sein kann.

Desweiteren genügt es meiner Meinung nach nicht einzelne Aspekte und Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft zu beleuchten, da die Ursachen dafür meist in den systemübergreifenden Rahmenbedingungen zu finden sind.

Wie man mit Hartmut Rosas Theorie zeigen kann, sind viele, sowohl persönliche als auch politische Entscheidungen, bewusst oder unbewusst kapitalistischen Systemzwängen unterworfen. Eine Kritik, die einen sozialen Wandel herbeiführen will muss also auf die Struktureigenschaften der Gesellschaft abzielen.

„ Worauf sie zielt, ist nicht der schnelle Erfolg im demokratischen Meinungsaustausch, sondern die Feinwirkung eines allmählich wachsenden Zweifels “21

Soziologie in kritischer Absicht kann also, wenn auch keine schnellen, sofortigen Veränderungen, zumindest ihren Teil zur gesellschaftlichen Selbstreflexion beitragen und ein kritisches Bewusstsein schaffen. Hartmut Rosa zeigt in seinen Texten Fehlfunktionen des kapitalistischen Systems auf. Das Aufzeigen und die Problematisierung derartiger systemischer Fehler kann möglicherweise eine öffentliche Debatte vorantreiben. Umso wichtiger ist es, wie Lessenich es formuliert, eine Kritik zu betreiben, die „ ... » Normalitäten « erschüttert, » Notwendigkeiten « anzweifelt und » Wahrheiten « zersetzt “22.

Auch ohne einen konkreten Gegenentwurf zum Kapitalismus oder eine „fertige“ Utopievorstellung liefern zu können, kann eine kritische Soziologie den gesellschaftlichen Wandel voranbringen. Das Ziel dieser Bestrebungen muss die Emanzipation von ungerechtfertigter Herrschaft, das Ende systemimmanenter Ausgrenzungsmechanismen also letztendlich die Überwindung des Kapitalismus sein. Oder in den Worten von Hartmut Rosa: die Ermöglichung gelingenden Lebens.

Literaturverzeichnis

Boltanski, Luc/ Chiapello Eve: Die Rolle der Kritik für die Dynamik des Kapitalismus: Sozialkritik versus Künstlerkritik, in: Miller, Max (Hrsg.): Welten des Kapitalismus, Frankfurt/New York, 2005

Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan / Rosa,Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009

Honneth, Axel: Idiosynkrasie als Erkenntnismittel, Gesellschaftskritik im Zeitalter des

normalisierten Intellektuellen in: Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main, 2007

Lessenich, Stephan/ Kalter, Frank/ Resch, Christine: Kann Soziologie kritisieren? Eine E-Mail- Debatte, in: Soziologie Jg. 38, H. 4, 2009

Rosa, Hartmut: Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben in: ZEIT-Magazin Nr. 52, 19.12.2007 Rosa, Hartmut/ Strecker, David/ Kotmann, Andrea: Soziologische Theorien, Stuttgart, 2007

[...]


1 Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan / Rosa,Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.12

2 Ebd., S.10

3 Lessenich, Stephan/ Kalter, Frank/ Resch, Christine: Kann Soziologie kritisieren? Eine E-Mail-Debatte, in: Soziologie Jg. 38, H. 4, 2009, S.432

4 Ebd.

5 Rosa, Hartmut: Kapitalismus als Dynamisierungsspirale in: Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan/ Rosa, Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.90

6 Boltanski, Luc/ Chiapello Eve: Die Rolle der Kritik für die Dynamik des Kapitalismus: Sozialkritik versus Künstlerkritik, in: Miller, Max (Hrsg.): Welten des Kapitalismus, Frankfurt/New York, 2005 , S.286

7 Lessenich, Stephan: Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft in: Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan/ Rosa, Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.129 8 Vgl. Ebd. 127

9 Rosa, Hartmut: Kapitalismus als Dynamisierungsspirale in: Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan/ Rosa, Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.87

10 Ebd. S.88

11 Ebd. S.90

12 Ebd. S.87

13 Ebd. S.92

14 Ebd. S.93

15 Ebd. S.97

16 Ebd. S.99

17 Ebd.

18 Ebd. S.115

19 Rosa, Hartmut: Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben in: ZEIT-Magazin Nr. 52, 19.12.2007 10

20 Rosa, Hartmut: Kapitalismus als Dynamisierungsspirale in: Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan/ Rosa, Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.125

21 Honneth, Axel: Idiosynkrasie als Erkenntnismittel, Gesellschaftskritik im Zeitalter des normalisierten Intellektuellen in: Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M.: 2007, S.229

22 Lessenich, Stephan: Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft in: Dörre, Klaus/ Lessenich, Stephan/ Rosa, Hartmut: Soziologie- Kapitalismus- Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S.128

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Kritische Soziologie. Hartmut Rosas Theorie der Beschleunigung
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Theorien der Gesellschaftskritik
Note
2,0
Jahr
2010
Seiten
13
Katalognummer
V294815
ISBN (eBook)
9783656926054
ISBN (Buch)
9783656926061
Dateigröße
386 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Kritische Soziologie, Hartmut Rosa, Theorie der Beschleunigung, Soziologie-Kapitalismus-Kritik
Arbeit zitieren
Anonym, 2010, Kritische Soziologie. Hartmut Rosas Theorie der Beschleunigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294815

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