Die Funktionen der Spiegel in Friedrich Dürrenmatts "Minotaurus. Eine Ballade"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Mythos vom Minotaurus

3. Die Dramaturgie des Labyrinths - zum labyrinthischen Begriffs Dürrenmatts

4. Dürrenmatts Variante des daidalischen Labyrinths

5. Funktionen der Spiegel
5.1 Der Tanz
5.2 Auf dem Weg zum Ich – Lacans Theorie des Spiegelstadiums
5.3 Die Erkenntnisstufen des Minotaurus

6. Begegnung mit Theseus

Schlussfolgerung

Bibliographie

1. Einleitung

Friedrich Dürrenmatt schafft mit Minotaurus (1985) eine Entdramatisierung des antiken Mythos. In seiner Ballade wird das Monstrum im Labyrinth zum Gefangenen des Labyrinths. Es wird nicht weggesperrt, weil es eine Bedrohung für Menschen darstellt, vielmehr ist es durch die Menschen gefährdet. Der Minotaurus wandelt sich zum Sympathieträger und dekonstruiert den Heldenmythos von Theseus. Der Stiermensch wird in ein gläsernes Labyrinth gesperrt und sieht sich plötzlich seinen eigenen unzähligen Spiegelbildern ausgesetzt. Für ihn beginnt der Prozess der Ich-Findung, indem er zuerst sein eigenes Spiegelbild erkennen muss. Gilt das Beschreiten des Labyrinths doch auch als Initiation, wird hier die Komplexitäterfahrung zur Autonomieerfahrung1.

Die Umdeutung des Mythos steht im Dienste einer Metapher. Denn Dürrenmatt erwählt das Labyrinth-Motiv zum Gleichnis, das die Welt wieder spiegelt, in der wir leben. Er führt das Labyrinthische der Welt vor Augen und entlarvt die ewige Suche nach Erkenntnis als hoffnungsloses Unterfangen. Durch den ohnmächtigen Blickwinkel eines Tieres, das auch Mensch ist, wird das Labyrinth zur Welt. Dabei wird das Labyrinth-Motiv in der Ballade potenziert: Zum einen allein durch die multiplen Spiegelungen der Glaswände, dann durch die verschachtelt formulierten Sätze, die das Labyrinthische vertiefen und nicht zuletzt durch das Wesen des Minotaurus. Dürrenmatt erkennt die Polyvalenz der Mythenfigur des Minotaurus und beleuchtet sie. Sie birgt in sich eigene Oppositionen, eine gespaltene Identität. Im Minotaurus kämpfen Göttliches gegen Menschliches und das Menschliche wiederum gegen das triebhafte Tierische.

In dieser Arbeit wird Dürrenmatts Umdeutung des Mythos aufgezeigt. Es wird seine Dramaturgie des Labyrinths skizziert, um sein Weltverständnis zu erläutern und den Zusammenhang von Weltwirklichkeit und Labyrinth zu erklären. Den Schwerpunkt werden die Funktionen der Spiegel im Labyrinth, die die Ich-Findung des Minotaurus initiieren, bilden. Zu diesem Zweck wird Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums angeführt, die als Folie für die einzelnen Erkenntnisstufen des Minotaurus dient. Ziel ist es zu zeigen, dass das Schicksal des Labyrinthbewohners sinnbildlich für den Menschen steht, der versucht seine Welt aus der Distanz zu sehen, um sie zu reflektieren. Als Einführung wird der antike Mythos der Analyse der Ballade voran gestellt.

2. Der Mythos vom Minotaurus

Es gibt nicht die eine Überlieferung zur Mythenfigur des Minotaurus. Zahlreiche Erzählungen, die mit ihm zusammenhängen, haben das Labyrinth des Minotaurus zum Zentrum, um das sich „die antike Sage als ein Konglomerat von mehr oder weniger zusammenhängenden Teilgeschichten herausgebildet hat.“2 Der antike Basis Text ist eher Bestandteil eines allgemeineren kulturellen Textes, den gesellschaftliches Labyrinth-Bewusstsein nach und nach entwickelt hat. „Der Labyrinth-Mythos hat als narratives Äquivalent keine genuine Erzählung mit relativ abgeschlossener Gestalt wie z. B. die Ödipus-Sage (von der Geburt bis zum Tode des Helden), sondern bleibt in seinen narrativen Ausmaßen konturlos, ohne präzisen Anfang und ohne genau lokalisierbares Ende.“3

Die Überlieferung von König Minos, die von seiner Feindschaft zu den Griechen erzählt, erklärt im Grunde genommen den Grund für die Existenz und die Gefangenschaft des Minotaurus.

Um seine Herrschaft in Kreta von den Göttern legitimieren zu lassen, bittet Minos Poseidon, den Gott des Meeres, ihm einen Stier aus dem Meer zu schicken, den er Poseidon wiederum opfern will. Als Minos seinen Stier erhält, bricht er allerdings sein Versprechen und reiht den Stier, da dieser ein erlesenes Prachtexemplar ist, in seiner Herde ein. Daraufhin lässt der Gott den Stier wütend und zügellos werden. Der Stier beginnt in seiner Raserei Kreta zu zerstören. In Pasiphae allerdings, der Gattin des Königs Minos, lässt er eine unnatürliche Leidenschaft zu dem Stier entstehen. Um das widernatürliche Begehren zu stillen, hilft ihr der Architekt und Künstler Daidalos indem er ihr eine Kuhattrappe baut, in die sie schlüpfen kann. Der Stier fällt auf diese Täuschung rein und aus ihrer Vereinigung entsteht der Minotaurus.

Er ist ein Ungeheuer, das aus dem Kopf eines Stieres und dem Körper eines Menschen besteht. Minos tötet das außereheliche Resultat seiner Gattin nicht, sondern lässt ihn in ein Labyrinth sperren, das ebenso von Daidalos entworfen ist. Auf diese Weise wird das Land vor noch einem vermeintlich rasenden Wesen geschützt. Als Minos' Sohn Androgeos in Attika ums Leben kommt, unternimmt Minos einen Feldzug gegen die Stadt Athen. Den Athenern legt er nach ihrer Niederlage die schwere Buße auf, alljährlich sieben Knaben und sieben Mädchen zur Fütterung des Minotaurus nach Kreta zu senden. Theseus, Sohn des Königs von Athen, fährt bei der dritten Sendung mit nach Kreta, um dieser Pflicht ein Ende zu bereiten. Dort gewinnt er die Liebe der Ariadne, einer Tochter Minos'. Auf Anraten von Daidalos gibt sie Theseus ein Wollknäuel mit, das er auf dem Weg ins Labyrinth abrollen soll, um wieder aus dem demselben heraus zu finden. Im Zweikampf überwältigt Theseus den Minotaurus und kehrt aus dem Labyrinth zurück. Daidalos wird aufgrund seiner Mittäterschaft bei Ariadnes Vorhaben den Minotaurus töten zu lassen bestraft und zusammen mit seinem Sohn Ikaros in sein eigenes Labyrinth gesperrt. Mit Hilfe von selbst gefertigten Flügeln aus Wachs und Federn gelingt den beiden die Flucht. Doch Ikaros hört nicht auf die Warnung seines Vaters nicht zu dicht an die Sonne zu fliegen und stürzt aufgrund des schmelzenden Wachses in das seither nach ihm benannte Ikarische Meer. Daidalos erreicht Sizilien und wird von König Kokalos aufgenommen, der seine Auslieferung an König Minos ablehnt.4

3. Die Dramaturgie des Labyrinths - zum labyrinthischen Begriffs Dürrenmatts

Reduziert man die einzelnen Erzählungen zum Labyrinth des Minotaurus auf ihre Protagonisten, so bleiben Minos, Pasiphae, Daidalos, Ariadne und Theseus. Da es keine unmittelbare Überlieferung zum Minotaurus gibt, wird man im Lexikon auf Minos verwiesen, wenn man mehr über den Stiermenschen erfahren möchte.

Friedrich Dürrenmatt kehrt dies um und besinnt sich auf das Wesen, das all die Erzählungen vereint. In seiner Ballade Minotaurus, wird der Mythos ausschließlich aus dessen Perspektive erzählt. Da der Minotaurus ein Stier mit dem Körper eines Menschen ist und nicht ein Mensch mit einem Stierkopf, empfindet Dürrenmatt mehr eine tierische Sicht nach. In der Ballade muss das „Wesen“, wie der Autor den Minotaurus zu Anfang betitelt, seine Lage, seine Gefangenschaft erst verstehen. Darüber hinaus muss es erst sich selbst kennenlernen, das heißt sein Ich finden. Dürrenmatt verlagert den Mythos vom Minotaurus hin zum Prozess der Selbstfindung. Seine Ballade schildert die Bewusstwerdung des Minotaurus.

Dass Dürrenmatt die Perspektive des Minotaurus wählt, um den Mythos neu zu erzählen, hat den Hintergrund, dass diese Sicht Dürrenmatts eigene Sicht zum Leben wiedergibt. In seiner Dramaturgie des Labyrinths erläutert Dürrenmatt seinen Zugang zum Labyrinth und wie es auf mehreren Ebenen interpretiert werden kann:

Indem ich jedoch ein Labyrinth entwarf, identifizierte ich mich unbewußt mit dem Minotaurus, dem Bewohner des Labyrinths, und sei es auch im Bilde der sinnlos krepierenden Soldaten an den Steilhängen des Chomo-lungma oder des Hidden Peak, vollzog ich den Urprotest, protestierte ich gegen meine Geburt, denn die Welt, in die ich hineingeboren wurde, war mein Labyrinth, der Ausdruck einer rätselhaften mythischen Welt, die ich nicht verstand, die Unschuldige schuldig spricht und deren Recht unbekannt ist.5

Unschuldig ist auch der Minotaurus, dessen einzige Schuld es ist Minotaurus zu sein. Doch auch die anderen Perspektiven bzw. Beziehungen zum Labyrinth werden beleuchtet, denn das „Labyrinth ist ein Gleichnis und als solches mehrdeutig wie jedes Gleichnis“.6 Daidalos besitzt als Erbauer des Labyrinths den Überblick über die gesamte Anlage. Hinsichtlich seines Verhältnisses zum Labyrinth ist er die Gegenfigur zum Minotaurus. Eine distanzierte Aussage über das Labyrinth machen zu können, setzt eine Identifikation mit Daidalos voraus7:

Wir wissen wenig vom Labyrinth, doch gelingt es uns insofern, eine Idee von ihm zu bekommen, als wir den Gedankengang des Dädalus auch nachträglich noch zu vollziehen vermögen, versetzen wir uns nur in seine Aufgabe, wenn das auch nur höchst unvollkommen möglich ist, mangelt es uns doch durchaus an dessen Einfallskraft.8

Daidalos Position einzunehmen, ist in Hinblick auf Dürrenmatts Weltsicht, ein unmögliches Unterfangen. Denn die Welt als Labyrinth begriffen, wird der Mensch immer ihr Bewohner sein, niemals ihr Erschaffer. Es gibt keine Position, die ihr außerhalb liegt und so bleibt die Welt und das Leben undurchdringlich und undurchschaubar. „Jeder Versuch, die Welt, in der man lebt, in den Griff zu bekommen, sie zu gestalten, ist ein Kampf mit dem Minotaurus.“9 Einerseits steht dieser Kampf für den ohnmächtigen Versuch des Minotaurus das Labyrinth auf seine Weise zu begreifen. Andererseits gelangt man hier zu der Perspektive des Theseus. Diese ist eine Besondere, da sie sich nach der Dramaturgie nicht ganz auflösen lässt. Theseus bewältigt zwar auch hier den Minotaurus aber im Grunde genommen trägt er den Kampf mit sich selbst aus, denn es ist der Versuch der Wirklichkeit, also des Lebens Herr zu werden. „Das Ringen mit der Welt erweist sich als Auseinandersetzung mit sich selbst.“10 Demnach gilt es nicht nur das Labyrinth zu überwinden sondern auch seinen ungeheuerlichen Bewohner, um die Wirklichkeit zu bändigen. Theseus steht in diesem Gleichnis der Position des Dichters nahe, der dem Labyrinth außerhalb steht und sich freiwillig hinein begibt, um den Minotaurus zu besiegen. Um ein Weltengleichnis aufzustellen, muss Dürrenmatt der Dichter das Labyrinth betreten und einen Kampf bestehen, wenn er die Wirklichkeit bändigen will. Allerdings widerspricht diese Möglichkeit der Wirklichkeitsbezwingung der eigentlichen Position eines jeden Menschen: Dass er nämlich niemals etwas bezwingen kann, dessen er Teil ist. Um dies aufzulösen denkt sich Dürrenmatt die Option, dass Theseus niemals auf den Minotaurus gestoßen sei, weil es dieses Wesen nie gegeben habe:

Am Ariadnefaden seines Denkens beginnt er, nach dem Minotaurus zu suchen, in den verschlungenen Gängen beginnt er zu fragen, zuerst, wer denn Minotaurus überhaupt sei, später, ob es ihn überhaupt gebe, und endlich beginnt er zu überlegen – wenn er ihn immer noch nicht gefunden hat –, warum denn, wenn es den Minotaurus nicht gebe, das Labyrinth überhaupt sei: Vielleicht deshalb, weil Theseus selber der Minotaurus ist und jeder Versuch, diese Welt denkend zu bewältigen – und sei es nur mit dem Gleichnis der Schriftsteller –, ein Kampf ist, den man mit sich selber führt: Ich bin mein Feind, du bist der deinige.11

Man merkt, dass die Dramaturgie des Labyrinths von Dürrenmatt selbst labyrinthisch angelegt ist. Dabei muss das Gleichnis nicht eindeutig aufgehen, sonst wäre es eine „Allegorie, eine verkleidete Sentenz.“12 Er denkt um Ecken, Reflexionsvarianten werden durchgespielt und verschiedene Deutungen vorgeführt. Dabei hat Dürrenmatt niemals die überblickende Position des Daidalos. Allerdings verliert auch Letzterer diese Position, wenn er in sein eigenes Bauwerk eingeschlossen wird und Flügel benötigt, um es verlassen zu können. Jedenfalls sieht Dürrenmatt nie das Labyrinth aus der Distanz und weiß auch nicht, was das Wahre und Endgültige ist.13 Zu Beginn seiner Dramaturgie erklärt er, dass er der wahren Welt eine fiktionale gegenüberstellt bzw. sie in einem Labyrinth darstellt, um Distanz zu derselben zu gewinnen und über die Situation des Menschen in ihr reflektieren zu können. Doch sind die Bilder, die er entwirft nicht zufällig, sondern schon längst vorhanden. Denn alles Erdachte und jedes Gleichnis war bereits da. So greift auch seine Fantasie auf alte Strukturen zurück, auf „Urstrukturen“ und auf „Urmotive“14, wie dem Mythos vom Minotaurus. Diese Art der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt nennt Dürrenmatt dramaturgisches Denken. Er meint mit Dramaturgie hier nicht die äußere Form oder die innere Struktur eines Theaterstücks. Aber er denkt gleichfalls mit denselben Mitteln wie ein Dramatiker oder ein Erzähler. Das heißt „die Fiktion muss so gewählt und gestaltet werden, dass sie die Wirklichkeit, eben den Minotaurus, zu bannen vermag.“15 Die Welt zu erfassen und gar zu gestalten, stellt einen Versuch dar eine Gegenwelt zu erschaffen. Diese wird der Welt gegenüber gestellt und konfrontiert damit sie sich in ihr spiegeln kann. Dies führt zum nächsten besonderen Aspekt in Dürrenmatts Ballade – den Spiegeln im Labyrinth.

4. Dürrenmatts Variante des daidalischen Labyrinths

Geht man von den antiken Labyrinthen, die auch kretische oder klassische genannt werden, als Vorbild für das daidalische Labyrinth aus, findet man lediglich ein lineares Labyrinth vor. Es besteht aus einem gewundenen Weg mit einem Zentrum, in dem der Minotaurus zu erwarten ist. Doch die Gefahr des Verirrens ist in diesem ersten Typ, wie ihn Monika Schmitz-Emans kategorisiert, gar nicht gegeben. Erst die Renaissance entwickelt den zweiten Typus des Irrgartens, mit dem der Begriff des Labyrinths gemeinhin in Verbindung gebracht wird. Dieser Typ braucht keinen Minotaurus als Herausforderung für den Labyrinthgänger, denn er steht immer wieder vor der Entscheidung, welchen Weg er einschlagen soll. Es gibt nur einen Weg ins Zentrum und zum Ausgang aber viele irreführenden Sackgassen. Schließlich gipfelt das Undurchschaubare in dem dritten Typ, den Umberto Eco „gleichfalls als labyrinthisch klassifiziert und metaphorisch als ,Netz' oder ,Rhizom' bezeichnet.“16 Hier kann jeder Punkt mit einem anderen beliebig verbunden werden, so dass unzählige mögliche Wege erst beim Gehen entstehen. Sie sind also zunächst rein virtuell. Dieser letzte Typ eines Labyrinths ist wahrscheinlich auch derjenige, der einem vorschwebt, wenn die Rede von einer unübersichtlichen Situation oder eines labyrinthischen Gegenstandes ist. Somit ist dieses Labyrinth metaphorisch zu verstehen. Doch Dürrenmatt konstruiert es literarisch, indem er dem daidalischen Labyrinth durch Wände aus Glas das Zentrum nimmt. Durch die Spiegelung der Glaswände potenziert sich das Labyrinthische und wird zum Rhizom. Es zu beschreiten wird zum Erkenntnisprozess des Minotaurus, der in der Dürrenmatt'schen Ballade für den Menschen steht.

5. Funktionen der Spiegel

5.1 Der Tanz

Die Spiegel kommen in der Ballade für das Wesen Minotaurus vor allem in seiner Selbstverdoppelung zum Tragen. Diese veranlasst ihn zu glauben, dass es „ein Wesen unter vielen gleichen Wesen“17 zu sein scheint. Das Gefühl unter Gleichartigen zu sein, bestärkt es und lässt es den anderen gegenüber freundlich werden. Fürchtet es sich zu Anfang und möchte die Schar an anderen Wesen vertreiben, merkt es bald, dass sie ihm in seinen Bewegungen und Handlungen nacheifern und es beginnt sich als Anführer der Wesen zu fühlen. Es entwickelt sich ein Spiel, indem es vormacht, was die anderen imitieren sollen. Aus Hin- und Hergehen, Sprüngen und des Sich-Überschlagens entwickelt sich Rhythmus, entwickelt sich ein Tanz:

Das Wesen tanzte durch sein Labyrinth, durch die Welt seiner Spiegelbilder, es tanzte wie ein monströses Kind, es tanzte wie ein monströser Vater seiner selbst, es tanzte wie ein monströser Gott durch das Weltall seiner Spiegelbilder. (S. 13)

Der Tanz des Minotaurus schafft den Bezug zum Ursprung des Labyrinths. Denn die erste und klassische Labyrinthstruktur geht auf den Tanz zurück und nicht auf ein Bauwerk. Die Tänze und ihre choreographischen Ausführung wurden späteren Zeiten unverständlich und trugen so zur Verknüpfung mit dem Labyrinthbegriff, der bereits in der Antike für etwas Unübersichtliches verwendet wurde und Irrwege jeglicher Art bezeichnete, bei.18 Der Tanz ist des Minotaurus Medium zum Ausdruck, quasi seine Sprache. Er drückt seine Emotionen und Empfindungen tänzerisch aus. Der Tanz erfüllt für ihn sogar seine Form des humanen Umgangs. Dies zeigt sich, als das erste menschliche Wesen – ein Mädchen – sein gläsernes Gefängnis betritt:

Es wich zurück, die großen Augen auf ihn gerichtet, und als er zu tanzen begann, begann das Mädchen zu tanzen, und die Spiegelbilder der beiden tanzten mit. Er tanzte seine Ungestalt, es tanzte seine Schönheit, er tanzte seine Freude, es gefunden zu haben, es tanzte seine Furcht, von ihm gefunden worden zu sein, er tanzte seine Erlösung, und es tanzte sein Schicksal, er tanzte seine Gier, und es tanzte seine Neugier, er tanzte sein Herandrängen, und es tanzte sein Abdrängen, er tanzte sein Eindringen, es tanzte sein Umschlingen. (S. 18f.)

Doch der Minotaurus besitzt nun mal keinen Intellekt und folgt seinen Trieben. So endet sein freundlich gesinntes Zugehen in einem gewaltsamen Liebesakt, der den Tod des Mädchens zur Folge hat. Der Tanz ist in der Ballade allgegenwärtig. Als der Minotaurus zum Schluss seinem Gegner Theseus begegnet, tanzt er ein letztes Mal. Er sieht in Theseus' Maskerade, derer dieser sich bedient, um das Ungeheuer zu täuschen, einen Freund. Er erkennt, dass Theseus keine Spiegelung seiner selbst ist und freut sich ein anderes Wesen gleich ihm gefunden zu haben. So tanzt er „seine Zweisamkeit“, „seine Erlösung“ und somit den „Untergang des Labyrinths, das donnernde Versinken seiner Wände und Spiegel in die Erde“. (S. 50)

[...]


1 Vgl. Schmitz-Emans, Monika (2000): Labyrinthe: Zur Einleitung. In: Röttgers, Kurt und Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Labyrinthe: philosophische und literarische Modelle. Verlag Die Blaue Eule, Essen. S. 7-32. S.10.

2 Schmeling, Manfred (1987): Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell. Athenäum Verlag, Frankfurt am Main. S.25.

3 Ebd.

4 Nach Herder Lexikon: Griechische und römische Mythologie. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1981, 5. Auflage; und nach Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. Verlag Brüder Hollinek, Wien 1988, 8. Auflage.

5 Dürrenmatt, Friedrich (1984): Dramaturgie des Labyrinths. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 56. Friedrich Dürrenmatt II. München September 1984, 2. Auflage. S. 1-7. S. 5f.

6 Ebd. S. 2.

7 Burkhard, Martin (1991): Dürrenmatt und das Absurde. Gestalt und Wandlung des Labyrinthischen in seinem Werk. Verlag Peter Lang, Bern. S. 138.

8 Dürrenmatt (1984): S. 3.

9 Ebd. S. 6.

10 Burkhard (1991): S. 159.

11 Nach Burkhard (1991): S. 159.

12 Dürrenmatt (1984): S. 6.

13 Burkhard (1991): S. 152.

14 Dürrenmatt (1984): S. 1.

15 Burkhard (1991): S. 126.

16 Schmitz-Emans(2000): S. 26.

17 Hier und im Folgenden zitiert nach: Friedrich, Dürrenmatt (1985): Minotaurus. Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors. Diogenes Verlag, Zürich. S. 9. Im Text mit Seitenangabe nachgewiesen.

18 Schmitz-Emans (2000): S. 15f.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Funktionen der Spiegel in Friedrich Dürrenmatts "Minotaurus. Eine Ballade"
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Künste und Medien)
Veranstaltung
Im Labyrinth. Literatur und labyrinthischer Diskurs
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V294849
ISBN (eBook)
9783656926887
ISBN (Buch)
9783656926894
Dateigröße
659 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
funktionen, spiegel, friedrich, dürrenmatts, minotaurus, eine, ballade
Arbeit zitieren
Gloria Reinhardt (Autor:in), 2012, Die Funktionen der Spiegel in Friedrich Dürrenmatts "Minotaurus. Eine Ballade", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294849

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