Die Suche des Ich. Autobiographie, Fiktion und Selbsterkenntnis in Karl Philipp Moritz‘ Roman "Anton Reiser"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einige Vorüberlegungen

3. Die Seelenkrankheit des Anton Reiser
3.1 Religiosität als Problem
3.2 Flucht in die Innerlichkeit
3.3 Falscher und wahrer Kunsttrieb

4. Vom Streben nach Erkenntnis
4.1 Die Gattungsfrage
4.2 Die Wahrheitsfrage

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Eine Lektüre von Karl Philipp Moritz‘ Roman Anton Reiser lässt den Leser mit vielerlei Denkanstößen und mancher unbeantworteten Frage zurück. Nicht nur das Ende des bisweilen als „unvollendet“ bezeichneten Werks[1] gibt Rätsel auf, sondern schon der Beginn mutet eigenartig an. Von der „ inneren Geschichte des Menschen“ steht dort zu lesen, die erzählt werden soll,[2] von einem „Roman“ und zugleich einer „Biographie“, von der pädagogischen Bedeutung, die „Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften.“ Es sind dies ehrgeizige und weitgefasste Anliegen – Wagner-Egelhaaf spricht von „Hybridität“[3] –, die dem Leser zum einen zwar eine Annäherung aus unterschiedlichsten Richtungen ermöglichen, andererseits jedoch, im Hinblick auf die Frage, wo eine solche Vertiefung ansetzen soll, zugleich Herausforderung bedeuten. Die eingewobenen religiösen und außerdem die intertextuellen Bezüge zu einer ganzen Fülle an Werken der Weltliteratur machen die Sache nicht leichter, ebenso wie stilistische und inhaltliche Parallelen zur Produktion anderer Autoren, bspw. denen Goethes, auf den im Roman ebenso wie auf seinen Werther explizit verwiesen wird, dessen Wilhelm Meister darüber hinaus schon Keller in eine Traditionslinie mit seinem Grünen Heinrich, Grimmelshausens Simplicissimus und eben Moritzens Anton Reiser stellte.[4]

Die folgende Arbeit will versuchen, einigen der erwähnten Besonderheiten nachzugehen. In diesem Bemühen befasst sie sich sowohl mit Überlegungen zum Verhältnis von Autobiographie und Fiktion als auch mit wesentlichen Aspekten der in diesem Spannungsverhältnis erzählten Gegenstände. Dabei bilden vor allem Gedanken zum Thema Selbsterkenntnis und Identität einen Leitfaden, zu dessen narrativer Behandlung einige Betrachtungen angestellt werden.

Es bedarf kaum einer gesonderten Erwähnung, dass ein Versuch, wie der hier vorgestellte, sich diesem vor allem thematisch gehaltreichen Prosawerk Moritz‘ zu nähern,[5] nur in Auszügen vollzogen werden kann, zumal in Anbetracht des begrenzten verfügbaren Rahmens einer Hochschularbeit. Der Eindruck der Oberflächlichkeit einer solchen Behandlung ist dem Verfasser dieser Studien gewissermaßen schmerzlich bewusst, wird aber dennoch in Kauf genommen, in der Hoffnung, dass die im Folgenden wenn auch nur skizzenhaft ausgebreiteten Pfade dem Anschein des Defizitären entgegenzuwirken vermögen, indem sie als mögliche Wegweiser in dieses Labyrinth seelenkundlicher Wanderungen des Goetheschen Freundes und Zeitgenossen dienen.

2. Einige Vorüberlegungen

Bevor sich diese Arbeit einer eingehenderen Beschäftigung mit Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser widmet, seien zunächst einige Worte über frühere Arbeiten des Autors verloren, deren Gegenstände wesentlichen Anteil an der Gestalt des in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts entstandenen vierteiligen Romans haben. So richtet sich Moritz, den Meier als „jüngsten Klassiker der deutschen Literatur“ bezeichnet,[6] gleich zu Beginn seines Vorschlags zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde[7] „an alle Beobachter des menschlichen Herzens,“ die darüber hinaus „Wahrheit und Glückseligkeit unter den Menschen tätig zu befördern wünschen.“[8] Derartige Begrifflichkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch diesen Entwurf, ebenso wie die Idee von Wohl und Vervollkommnung der Menschheit.[9] Zu beidem wiederum glaubt Moritz durch die Sammlung von „Fakta“,[10] in Form unterschiedlichster Erfahrungsberichte, beitragen zu können – ein Ansinnen, das zunächst im Konzept einer „Erfahrungsseelenlehre“ kulminiert. Diese soll sich aus „den vereinigten Berichten mehrerer sorgfältiger Beobachter des menschlichen Herzens“ konstituieren, wodurch er sich Einsichten in „die innere Natur und Beschaffenheit“ der „Krankheiten der Seele“ verspricht, die wiederum „an praktischem Nutzen alles das weit übertreffen würde[n], was unsre Vorfahren an diesem Fache geleistet haben.“ Von der gründlichen Untersuchung und Beschreibung innerer Vorgänge erhofft sich Moritz also Aufschlüsse über die Pathogenese seelischer Leiden, deren Erforschung er einen weit höheren Stellenwert als der Behandlung körperlicher Gebrechen beimisst. Dabei wehrt er sich eindringlich gegen „Universalarzneien“ als Produkte einer ungenügenden Beschäftigung mit dem Einzelfall, die dann „mit großem Geschrei und in einem Schwall von Worten“ zu Markte getragen würden.[11] Košenina zeichnet einige geistesgeschichtliche Einflüsse der hier angedeuteten Überzeugungen nach und stellt heraus, dass Moritz ähnliche Ansichten schon in seinen Beiträgen zur Philosophie des Lebens[12] formuliert habe:

„Ihm ist es um ’Beobachtungen über uns selbst‘ und den ’Zustand unsrer Seele‘ zu tun, also um das reflektierende und wahrnehmende Subjekt selbst, ’die Geschichte seiner Gedanken und Empfindungen‘, ’zum Nutzen der Menschheit‘ protokolliert von einem ’kalten Beobachter‘. Es gilt, die ’Seele zu beobachten, da sie noch gerade in der größten Wirksamkeit und Tätigkeit begriffen war.‘ Mit all diesen vielfach wiederholten Bemerkungen zielt Moritz auf ’das innre Triebwerk‘, wo ’die ersten Keime von den Handlungen des Menschen sich im Innersten seiner Seele entwickeln‘.“[13]

Was von Moritz‘ Vorstellungen, dem „innren Triebwerk“, der „Kenntnis des menschlichen Herzens“ durch eine extensive Sammlung von „Beobachtungen und Erfahrungen“ unterschiedlichster Art auf die Spur zu kommen und damit „leeren Spekulazionen“ einen Riegel vorzuschieben,[14] noch in der Konzeption des Anton Reiser übrig geblieben ist, soll einen Teil der nun folgenden Untersuchungen ausmachen.

3. Die Seelenkrankheit des Anton Reiser

Darauf dass dieser die „innere Geschichte des Menschen“ erzählen und dabei „den Blick der Seele in sich selber schärfen“ will,[15] wird gleich zu Beginn in quasi programmatischer Manier hingewiesen.[16] Nicht von ungefähr fühlt sich der Leser sofort an das im vorangegangenen Abschnitt umrissene Erkenntnisstreben erinnert, das das Seelenleben des Menschen zum Hauptgegenstand des Untersuchungsinteresses macht. Auch in der Vorrede zum zweiten Buch des Romans artikuliert sich so etwas wie das akute Bedürfnis einer möglichst präzisen Schilderung der (inneren) menschlichen Existenz. Da heißt es, dass hier „eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen“ vorliege, als es „vielleicht nur irgendeine geben kann.“[17] In der Vorrede zum dritten und vierten Buch werden u.a. Gründe angeführt, warum dieser Versuch unternommen wurde, die wiederum an die Rede von der Beförderung der „Glückseligkeit“ unter den Menschen erinnern.[18] Es ist also schon bei einem Blick auf die vom Herausgeber verfassten Vorreden zu den einzelnen Teilen deutlich sichtbar, dass Kerngedanken, die bereits in den Beiträgen vorliegen und an manchen Stellen fast wörtlich Eingang in den Vorschlag gefunden haben, auch hier noch anklingen. Ob der in diesem Kontext artikulierte Erkenntnistrieb dem gleicht, was den zeitgenössischen Schriftsteller Maxim Biller, der unlängst die „Wiederkehr des Realismus in unserer Literatur“ postulierte, zu den drastischen Worten greifen ließ, die „letzten Fragen“ seien „so brutal, dass das Blut spritzt, zu stellen“, mag dahingestellt bleiben.[19] Zumindest artikuliert sich beim gut 200 Jahre älteren Kollegen – in freilich etwas anderer Sprache – in den vorangehend erwähnten Schriften eine nicht minder bedingungslose Wahrheitssuche, die auch in den Vorreden zum Anton Reiser noch hörbar ist. Doch wie nun ist das bisher umrissene und in besagten Vorreden formulierte Erkenntnisstreben auf den Seiten dazwischen literarisch umgesetzt?

[...]


[1] Vgl. Karl Philipp Moritz: Werke. Hrsg. v. Heide Hollmer et al. 2 Bände. Frankfurt/M. 1997-1999. Zitiert als „Holmer“ Hier Holmer I: 939. Außerdem Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Anneliese Klingenberg et al. Tübingen. 2005ff. Zitiert als „Klingenberg“. Hier Klingenberg I,2: 561, 632.

[2] Holmer I: 86.

[3] Wagner-Egelhaaf, Martina (22005): Autobiographie. Weimar. Hier: 160.

[4] Holmer I: 961.

[5] Müller spricht von einer „kreisförmig sich abrollenden Lebensgeschichte, die weder auf ein Ziel hin, noch von einem Ende her als sinnvoll interpretierbar erscheint“ (vgl. Müller, Lothar (1987): Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser. Frankfurt/M. Hier: 321).

[6] Vgl. Meier, Albert (2000): Karl Philipp Moritz. Stuttgart. Hier: 7.

[7] Im weiteren Verlauf der Arbeit als Vorschlag abgekürzt.

[8] Holmer I: 793.

[9] Vgl. z.B. Holmer I: 795, 797.

[10] Vgl. u.a. Holmer I: 797.

[11] Vgl. Holmer I: 794.

[12] Im weiteren Verlauf der Arbeit als Beiträge abgekürzt.

[13] Košenina, Alexander (2004): Propfreiser der Moral in allen Gattungen der Literatur. Karl Philipp Moritz’ Beiträge zur Philosophie des Lebens und die Anfänge der Lebensphilosophie. Hier S.11f. In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/moritz/kosenina_philosophie.pdf (Datum des letzten Besuches: 12.02.2010). Zu Herders Einfluss vgl. auch Nübel, Birgit (1994): Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen. Hier: 199f.

[14] Holmer I: 794, 798.

[15] Holmer I: 86.

[16] Vgl. dazu Meier, der hier eine deutliche Verbindung zu Popes „Leitthese der Aufklärung“ vom Menschen als ange- messenes Studienobjekt des Menschen sieht (Meier 2000: 235f.). Auch Schrimpf weist in diese Richtung und stellt – wie viele andere Forschungsbeiträge – darüber hinaus eine Verbindung zur Romantheorie Blankenburgs her (vgl. Von Wiese, Benno (1963): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Bd. 1. Düsseldorf. Hier: 99f.).

[17] Holmer I: 186.

[18] Zur besonderen Stellung des vierten Teils im Romanganzen wird weiter unten noch einiges zu sagen sein.

[19] Vgl. Biller, Maxim (2000): Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit. In: Die ZEIT 16. Online unter: http://www.zeit.de/2000/16/200016.moral_.xml.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Suche des Ich. Autobiographie, Fiktion und Selbsterkenntnis in Karl Philipp Moritz‘ Roman "Anton Reiser"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Biographie und Autobiographie bei Karl Philipp Moritz und Jean Paul
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V295331
ISBN (eBook)
9783656931539
ISBN (Buch)
9783656931546
Dateigröße
475 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl Phillip Moritz, Anton Reiser, Romantik, Autobiographie, Fiktion, Selbsterkenntnis
Arbeit zitieren
Fritz Hubertus Vaziri (Autor:in), 2009, Die Suche des Ich. Autobiographie, Fiktion und Selbsterkenntnis in Karl Philipp Moritz‘ Roman "Anton Reiser", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295331

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