Michel Foucaults Analytik moderner Macht. Eine kritische Würdigung


Hausarbeit, 2014

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Michel Foucaults Analytik moderner Macht
2.1 Die Methode: Eine Genealogie des Gefängnisses
2.2 Die Ergebnisse: Fünf Merkmale moderner Macht
2.2.1 Moderne Macht bemächtigt sich des Menschen
2.2.2 Moderne Macht ist relational und dezentral
2.2.3 Moderne Macht ist produktiv
2.2.4 Moderne Macht bringt das moderne (Disziplinar-)Individuum hervor
2.2.5 Moderne Macht funktioniert nur im Verbund mit den Humanwissenschaften

3. Kritische Würdigung
3.1 (Einige) Stärken der foucaultschen Machtanalytik
3.2 (Einige) Schwächen der foucaultschen Machtanalytik

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Wenn es ein durchgängiges Motiv im Denken Foucaults gibt, so ist es die[...] entschiedene Antidogmatik und, damit verbunden, die Bereitschaft, das Kaleidoskop weiterzudrehen, bevor sein Bild erstarrt.“ (Konersmann 1991: 70)

Die Beschäftigung mit den Schriften des französischen Philosophen Michel Fou- cault (1926-1984)1 stellt auch 30 Jahre nach dessen Tod noch eine Herausforde- rung für die Interpreten dar (vgl. Schneider 2008: 5). Dies gilt insbesondere für die Entschlüsselung des inneren Zusammenhangs von Foucaults Publikationen (vgl. Kammler 2008: 9), da diese - wie Kneer (2013: 266) anschaulich konstatiert - „weniger der Logik einer gradlinigen Schnellfahrtsstraße [folgen] als vielmehr der eines verwirrenden Labyrinths“. Und tatsächlich waren Neuinterpretationen, Nach- besserungen, Umdeutungen und terminologische Verschiebungen ständige Be- gleiter des foucaultschen Theoriebildungsprozesses (vgl. Kammler 2008: 11), ungeachtet dessen lassen sich allerdings auch relativ problemlos durchgängige Themen und Problemstellungen im Werk Foucaults identifizieren (vgl. Kneer 2013: 266). So ist fraglos zuzustimmen, wenn beispielsweise Fink-Eitel (1989: 7) Fou- caults Schaffen mit den Worten „Die bei Foucault verhandelte Sache heißt ‚Macht’“ auf einen Nenner bringt und Ruoff (2013: 154) zu dem Schluss gelangt: „Die Macht darf als Kernbegriff des foucaultschen Werkes gelten“2.

Bereits in seiner ersten größeren Veröffentlichung „Wahnsinn und Gesellschaft“ aus dem Jahre 1961 (Foucault 2009), beschäftigt sich Foucault mit der Geschichte des Wahnsinns, mit der Institutionalisierung der Psychiatrie und damit mit den Machttechniken, mit denen Geisteskranke überwacht und bestraft werden. Über- nimmt er damals noch mehr oder minder vorbehaltlos „die traditionelle Konzeption der Macht“ (Foucault 1978: 104), so empfindet er diese in der Folgezeit - spätes- tens ab Beginn der 1970er-Jahre - als unzureichend und möchte ihr eine eigen- ständige Machtkonzeption entgegensetzen (vgl. Kneer 2013: 267). Diese „Analytik der Macht“ entwickelt Foucault in mehreren Schriften - hauptsächlich in den ein- ander ergänzenden und kurz hintereinander erscheinenden Werken „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ und „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ - und bildet auch den Mittelpunkt dieser Arbeit3.

Durch welche wesentlichen Merkmale ist moderne Macht laut Michel Foucault charakterisiert, auch in Abgrenzung zum traditionellen Machtverständnis der politi- schen Philosophie? Und welche Stärken und Schwächen hat seine Machtkonzep- tion? Diesen beiden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Dazu wird in Kapitel 2 zunächst - nach einem kurzen Abriss über Foucaults genealogische Vorgehensweise - Foucaults Verständnis moderner Macht überblicksartig anhand ihrer fünf wesentlichen Merkmale dargestellt. Ergänzend zu Foucaults Schriften „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (Foucault 1977) und „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ (Foucault 1983), wird dabei auch auf seine machttheoretisch besonders aufschlussreichen Aufsätze „Die Ma- schen der Macht“ (Foucault 2005a) und „Subjekt und Macht“ (Foucault 2005b) sowie auf Sekundärliteratur zurückgegriffen4. Anknüpfend an diese Darstellung wird Foucaults Analytik der Macht in Kapitel 3 einer kritischen Würdigung unterzo- gen, indem schlaglichtartig einige ihrer Stärken und Schwächen herausgearbeitet werden, bevor das Konzept in Kapitel 4 auf Grundlage der im Rahmen der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse abschließend in seiner Gesamtheit beurteilt wird.

2. Michel Foucaults Analytik moderner Macht

Bei Michel Foucaults Konzeption moderner Macht handelt es sich - darauf weist er selbst hin - „weniger um eine ‚Theorie’ als um eine ‚Analytik’ der Macht“ (WW: 102). Foucault möchte also keine theoretischen und universellen Vorschläge liefern, wie man Macht definieren kann, vielmehr zielt sein Forschungsinteresse darauf ab, die Machtverhältnisse in der modernen Gesellschaft so umfassend wie mög- lich zu beschreiben und zu analysieren (vgl. Polat 2010: 53): „Statt um ein ‚Was ist die Macht?’ geht es um die Frage ‚Wie funktioniert Macht hier, heute, in diesem unseren Kontext?’“ (Kögler 1994: 98). Da eine Gesellschaft ohne Machtbeziehun- gen für Foucault (2005b: 258) „nur eine Abstraktion“ wäre, hält er es für notwen- dig, „dass wir analysieren, wie sie in einer bestimmten Gesellschaft beschaffen und wie sie geschichtlich entstanden sind“. Foucault geht es folglich um eine Un- tersuchung, die „die Historizität der Machtbeziehungen reflektiert und so zugleich eine Diagnostik der Gegenwartsgesellschaft erlaubt“ (Lemke 2005: 320). Dafür wählt er die - eng an Friedrich Nietzsche angelehnte - Methode der Genealogie. Ihre Grundmerkmale werden zunächst kurz skizziert (Kapitel 2.1), bevor der Blick auf die Ergebnisse der foucaultschen Machtanalytik gerichtet wird (Kapitel 2.2).

2.1 Die Methode: Eine Genealogie des Gefängnisses

Michel Foucaults Arbeit in den 1970er-Jahren lässt sich „durch eine markante Ak- zentverschiebung und Ergänzung seines methodischen Ansatzes“ (Lemke 1997: 54) gegenüber seinen archäologischen Schriften der 1960er-Jahre kennzeichnen5.

Zusätzlich zur Analyse historischer Diskursformationen und ihrer immanenten Re- gelhaftigkeit und Positivität, wie sie in der Archäologie im Mittelpunkt stand, verfolgt die Genealogie ab Beginn der 1970er-Jahre die Erschließung jener Machtmecha- nismen, die an der Entstehung von Wissensordnungen, Wissenssubjekten und vor allem der Humanwissenschaften beteiligt sind (vgl. Vogl 2008: 255). Stellte die Ar- chäologie bei der Analyse diskursiver Formationen die Aussage in den Mittelpunkt und ließ ihre jeweiligen sozialen, ökonomischen oder politischen nicht-diskursiven Rahmenbedingungen unberücksichtigt, stellt die Genealogie somit eine Untersu- chungsmethode dar, die explizit nach den äußeren Bedingungen, Beschränkun- gen und Institutionalisierungen von Diskursen fragt (vgl. Lemke 1997: 54f.).

Seine Konzeption der Genealogie entwickelt Foucault dabei aus einer Lektüre der Texte Friedrich Nietzsches heraus, vorrangig aus der Auseinandersetzung mit dessen gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen moral- und erkenntniskri- tischen Schriften „Morgenröte“ (1873), „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878), „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) und „Zur Genealogie der Moral“ (1887)6. Fou- cault greift das von Nietzsche darin entfaltete Prinzip der Genealogie auf, spritzt es programmatisch auf sein eigenes Vorgehen zu (vgl. Vogl 2008: 255) und stellt es im Jahr 1971 in seinem Aufsatz „Nietzsche, die Genealoge, die Historie“ (Fou- cault 2002a) erstmals systematisch vor, wobei er sich insbesondere um eine Ab- grenzung der Genealogie von der klassischen Geschichtswissenschaft bemüht.

Genealogie ist für Foucault, Nietzsche aufgreifend, eine neue Form der Ge- schichtsschreibung, die von philosophischen Substanzannahmen befreit ist (vgl. Saar 2007: 199) und die Nietzsche deshalb als „wirkliche Historie“ bezeichnet:

„Die ‚wirkliche’ Historie unterscheidet sich von der Historie der Historiker dadurch, dass sie keinerlei Beständigkeit voraussetzt [...]. Alles, worauf man sich stützen mag, um sich der Geschichte zuzuwenden und sie in ihrer Totalität zu erfassen, und alles, was sie als ruhige, kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systematisch zerstört werden. Es gilt, alles in Stücke zu schlagen, was dem tröstlichen Spiel des Wiedererkennens Vorschub leistet“ (Foucault 2002a: 179).

Im Gegensatz zur klassischen Form der Geschichtswissenschaft, die von „linea- re[n] Genesen“ (Foucault 2002a: 166) ausgeht, die Gegenwart auf evolutionären Fortschritt und anthropologische Wurzeln zurückführt (vgl. Bublitz 2001: 30) und damit „von der unvermeidlichen Geburt der Wahrheit und der Werte“ (Foucault 2002a: 182) erzählt, geht die Genealogie davon aus, „dass es hinter den Dingen ‚etwas ganz anderes’ gibt: nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren“ (Foucault 2002a: 168f.).

Während die traditionelle Geschichtsschreibung versucht, „das einzelne Ereignis in einem idealen Kontinuum aufzulösen: entweder in einer teleologischen Entwicklung oder in einer natürlichen Kausalkette“ (Foucault 2002a: 180), muss die Genealogie „die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller gleich bleibenden Finalität erfassen, sie dort aufsuchen, wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen: Gefühle, Liebe, Gewissen, Triebe. Sie muss nach deren Wiederkehr suchen, aber nicht um die Kurve ihrer langsamen Evolution nachzuzeichnen, sondern um die verschiedenen Bühnen zu finden, auf denen sie unterschiedliche Rollen gespielt haben“ (Foucault 2002a: 166).

Genealogen - und als ein solcher begreift sich Foucault ab den 1970er-Jahren - fassen einen Untersuchungsgegenstand also als historisch gewachsen auf und versuchen mithilfe von präzisem Wissen, einer Fülle angesammelten Materials und Geduld (vgl. Foucault 2002a: 166) dessen Entwicklung zu rekonstruieren. Der Genealoge verneint dabei jede Vorstellung einer teleologisch begründeten, kausa- len geschichtlichen Kontinuität, vielmehr sieht er das historische Wachsen seines Untersuchungsgegenstandes als eine Aufeinanderfolge kontingenter Diskontinui- täten, die in singulären, quasi von außen hereinbrechenden Ereignissen zum Aus- druck kommen (vgl. Siebenpfeiffer 2008: 250). Durch eine genaue Betrachtung dieser „Ereignisse der historischen Wirklichkeit“ (Foucault 2002b: 507) lässt sich die Entstehung eines Phänomens betrachten, wobei Foucault (2002a: 174) unter Entstehung das „Prinzip und Gesetz eines Erscheinens“ versteht. Während die Geschichtswissenschaft nach dem Ursprung eines Untersuchungsgegenstandes fragt, fragt die Genealogie somit nach dessen Herkunft (vgl. Foucault 2002a: 168f.), was stets auch die Rekonstruktion der Machtverhältnisse einschließt, die zu seiner Formierung beigetragen haben. Die klassische Geschichtswissenschaft „versetzt die Gegenwart an den Ursprung und lässt so an die verborgene Wirkung einer Bestimmung glauben, die sich von Anfang an her Bahn bricht. Die Genealogie rekonstruiert dagegen die verschiedenen Unterwerfungssysteme: nicht die vorgreifende Macht eines Sinns, sondern das zufällige Spiel der Herrschaftsbeziehungen“ (Foucault 2002a: 174f.).

Als das prominenteste genealogische Werk Foucaults kann seine im Jahr 1975 veröffentlichte Schrift „Überwachen und Strafen“ gelten (deutsche Veröffentli- chung: 1976), Vogl (2008: 256) spricht hierbei auch von „Foucaults nietzsche- anischstem Buch“, wenngleich der Name Nietzsche darin kein einziges Mal er- wähnt wird (vgl. Marti 1999: 73). In der Abhandlung widmet sich Foucault am Bei- spiel Frankreichs der Genealogie des Gefängnisses, um damit die Frage zu be- antworten, weshalb sich dieses innerhalb einer kurzen Zeitspanne von wenigen Jahrzehnten zu Beginn des 19. Jahrhunderts als zentrale Strafinstitution durch- setzt und die Körperstrafe durch Marter und Hinrichtung ablöst, obwohl es davor nur eine marginale Rolle im System der Strafen gespielt hatte (vgl. Bogdal 2008: 70 und Lemke 1997: 69). Foucault kann dabei mithilfe seiner genealogischen Un- tersuchung aufzeigen, dass der Umbruch der Strafpraktiken nicht etwa - im Sinne der klassischen Geschichtsschreibung - Ausdruck linearen Fortschritts und einer zunehmenden Humanisierung des Strafvollzugs ist (vgl. Lemke 1997: 69), son- dern dass „die rasche institutionelle Ausbreitung der Gefängnisstrafe [...] gerade dadurch möglich wurde, weil sich zeitgleich die Gesellschaft selbst zu einem gi- gantischen Kerker-System, zu einer Disziplinargesellschaft formte“ (Kneer 2013: 270). Das Gefängnis setzte sich also durch, „weil sich in ihm eine Machtwirkung entfaltete, die sich in [...] anderen gesellschaftlichen Bereichen schon längst durchgesetzt hatte“ (Fink-Eitel 1989: 75). Mit anderen Worten: Moderne Macht bzw. die Disziplinarmacht, wie sie sich im Gefängnis manifestiert, hatte sich - noch bevor die Haftstrafe zur institutionell vorherrschenden Bestrafungsform wur- de - bereits „in den Poren der gesamten Gesellschaft [...] ausgebreitet“ (Kögler 1994: 90), sodass sich das Gefängnis bei genauer Betrachtung „als die getreue Kopie“ (Kneer 2013: 270) dieses Machtmechanismus entpuppt und seine Etablie- rung als zentrale Strafinstitution das zwangsläufige Resultat dieser Entwicklung darstellt. Foucault ist deshalb der Meinung, dass sich am Beispiel des Gefängnis- ses in analytischer Klarheit die Mechanismen der Macht studieren lassen, die für moderne Gesellschaften insgesamt charakteristisch sind (vgl. Lemke 2005: 329):

„Dass das Zellengefängnis mit seinem Zeitrhythmus, seiner Zwangsarbeit, seinen Überwachungs- und Registrierungsinstanzen, seinen Normalitätslehren [...] zur modernen Strafanlage geworden ist - was ist daran verwunderlich? Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?“ (ÜS: 292)

Somit schreibt Foucault in seiner genealogischen Abhandlung nicht nur eine „Ge- schichte des Gefängnisses“ (Lemke 1997: 69) und eine „neuzeitliche Geschichte des Strafens“ (Hetzel 2001: 200), sondern vielmehr eine „Geschichte der Gegen- wart“ (ÜS: 43), indem er die in der gesamten modernen Gesellschaft anzutreffen- de, jedoch in der Institution Gefängnis „gebündelt zum Ausdruck kommende mo- derne Macht“ (vgl. Kögler 1994: 91) näher untersucht und beschreibt7.

2.2 Die Ergebnisse: Fünf Merkmale moderner Macht

Moderne Macht, deren Profil Michel Foucault in erster Linie in „Überwachen und Strafen“ anhand der Institution des Gefängnisses und ergänzend in „Der Wille zum Wissen“ anhand von Überlegungen zur Sexualität analysiert8, lässt sich im Wesentlichen anhand von fünf zentralen Merkmalen charakterisieren. Diese Merkmale werden im Folgenden in konzentrierter Form herausgearbeitet9. Obgleich die fünf Charakteristika moderner Macht der Übersichtlichkeit halber einzeln und nacheinander dargestellt werden, wird ersichtlich werden, dass alle Charakteristika eng miteinander verknüpft sind, also erst alle fünf Charakteristika zusammen das ergeben, was Foucault unter moderner Macht versteht.

2.2.1 Moderne Macht bemächtigt sich des Menschen

Foucault eröffnet seine Abhandlung „Überwachen und Strafen“ mit der eindrückli- chen Schilderung der öffentlichen Hinrichtung des versuchten Königsmörders Ro- bert-François Damien 1757 in Paris (vgl. ÜS: 9-12) und kontrastiert diese im An- schluss mit einem Pariser Gefängnisregelement aus dem Jahr 1838 (vgl. ÜS: 12ff.), um damit den Wandel der Strafmethoden im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhun- dert zu illustrieren: „Das eine Mal eine Leibesmarter, das andere Mal eine Zeitpla- nung“ (ÜS: 14). Bestand die Strafmethode im klassischen Feudalsystem noch darin, eine Straftat durch körperliche Folter und physischen Tod des Straftäters im Rah- men eines brutalen öffentlichen Schauspiels zu sühnen (vgl. Kögler 1994: 91), um damit symbolisch die Macht des allmächtigen Souveräns wiederherzustellen (vgl. ÜS: 65), besteht sie gut 80 Jahre später - als „die Haft zur wesentlichen Form der Züchtigung“ (ÜS: 148) geworden ist - darin, durch eine minutiöse und präzise Pla- nung und Regelung des Gefängnisalltags (vgl. Lemke 1997: 69) disziplinierte, un- terworfene, für die Gesellschaft nützliche Individuen zu produzieren (vgl. ÜS: 176f.).

Wurde das Verbrechen im Feudalsystem als Anschlag auf den Souverän gewertet, wird es in der modernen Gesellschaft als Anschlag auf die Gesellschaft gedeutet (vgl. Hetzel 2001: 203). Die Strafe verschiebt sich von der „Rache des Souveräns auf die Verteidigung der Gesellschaft“ (ÜS: 115), ihr Hauptziel bildet nun die Prä- vention. Mit der Verringerung der Intensität des Strafens vergrößert sich zugleich der Bereich strafwürdiger Handlungen, da das neue Projekt der Verteidigung der Gesellschaft jede Art von Gesetzesübertretung sanktionieren muss (vgl. Hetzel 2001: 203)10 ; die einst unkontrollierte, verschwenderische Gewalt des Souveräns wird auf eine „Straf-Gesellschaft“ (ÜS: 145) verteilt, die sie kontrolliert einsetzt (vgl. Bogdal 2008: 73) - anstelle der großen, den Alltag unterbrechenden Hinrichtungs- zeremonien werden „tausend kleine Züchtigungstheater“ in der Öffentlichkeit errich- tet: „Jedem Verbrecher sein Gesetz, jedem Verbrecher seine Strafe“ (ÜS: 145).

Die Abschaffung der Folter ist für Foucault somit keineswegs mit einer Humanisie- rung des Strafvollzugs oder mit einer höheren Achtung der Menschenwürde gleichzusetzen (vgl. Hetzel 2001: 207; Bogdal 2008: 73), vielmehr geht für ihn mit der Einführung des Gefängnisses die Einführung eines neuen, umfassenderen, ef- fizienteren, ja, auch „perfidere[n]“ (Rosa et al. 2007: 295) Machttyps einher. Im Zuge von Bevölkerungswachstum und aufkommendem Kapitalismus geht es bei der Bestrafung von Straftätern nicht mehr um symbolische Wiedergutmachung, sondern um die Herstellung von effektiv einsetzbaren, das System tragenden und ertragreichen Individuen (vgl. Kögler 1994: 91), d.h. es geht in den Gefängnissen nicht mehr vorrangig darum, den Insassen Schmerzen zuzufügen, sondern eher darum, produktive Eigenschaften zu erzielen (vgl. Polat 2010: 84). Das Ziel des Gefängnisses ist es demnach nicht aus-, sondern einzuschließen. Seine politische Bedeutung liegt nicht so sehr in der Freiheitsberaubung und Einsperrung, sondern darin, nützliche und gehorsame Individuen zu produzieren (vgl. Lemke 2005: 328).

Dazu werden die sogenannten Disziplinen eingesetzt, weshalb Foucault die moderne Macht auch als Disziplinarmacht bezeichnet. Disziplinen sind „Technologien, die durch die Strukturierung und Konformisierung von Körperverhalten bestimmte Verhaltensweisen und Individualtypen erzeugen“ (Kögler 1994: 91f.). Das Verhalten des Einzelnen wird durch einen genauen Zeitrhythmus, durch die Kontrolle von Gesten, Haltungen etc. sowie unterstützend auch durch Architektur und Raumaufteilung bis ins Kleinste geregelt, um eine bestimmte Verhaltensordnung in den Individuen durch die ewig wiederholte Einübung der entsprechenden Handlungsweisen zu verankern (vgl. Kögler 1994: 92):

„Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. [...] Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“ (ÜS: 176f.).

Die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf den Körper des Menschen, „sie um- kleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, matern ihn, zwingen ihn zum Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen“ (ÜS: 37). Disziplin ist für Foucault (2005a: 228) deshalb „der Machtmechanismus, über den wir den Ge- sellschaftskörper bis hin zum kleinsten Element, bis hin zu den sozialen Atomen, also den Individuen, zu kontrollieren vermögen“.

[...]


1 vgl. für einen konzisen Überblick über seine Biografie z.B. Schneider 2008, eine übersichtliche Zeittafel mit den wichtigsten Lebensstationen Foucaults und eine vollständige Bibliografie finden sich in Kammler et al. 2008: 443ff.

2 Zwar erklärt Foucault (2005b: 240) gegen Ende seines Lebens „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist [...] nicht die Macht, sondern das Subjekt“, doch genau genommen stellt das Phänomen der Macht natürlich auch in seinen subjekttheoretischen Überlegungen das zentrale Element dar. Vgl. hierzu z.B. Paulus (2009: 8), der Foucaults Subjekttheorie dahingehend interpretiert, dass sich Subjekte bei ihm „als reine Formen, als leere Hülsen [zeigen], welche durch die Machtpraxen ihrer Zeit geformt, ja eigentlich erst hervorgebracht werden“. Auch Biebricher (2005: 101f.) argumentiert in diese Richtung: „Foucault [...] kennt kein authentisches, selbstidentisches, schlicht ‚entstehen- des’ Subjekt, das sich unschmerzlich wie ein gut sitzender Handschuh über das Individuum stülpt. Subjekte werden erzeugt, erzeugt von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, die machtgela- den sind und den Individuen mehr oder weniger gewaltsam eine Subjektivität aufzwingen“.

3 Der begrenzte Umfang der vorliegenden Arbeit macht es notwendig, sich auf einen bestimmten Ausschnitt des foucaultschen Werkes zu beschränken. Deshalb konzentriert sich diese Arbeit auf die originäre Analytik der Macht, wie sie Foucault in seinen Schriften „Überwachen und Strafen“ (1975) und „Der Wille zum Wissen“ (1976) entwickelt, und muss zwangsläufig alle Weiterentwick- lungen der Machtanalytik in den darauffolgenden Jahren ausklammern; dies gilt auch für die von Foucault ab Ende der 1970er-Jahre entwickelten Konzepte der Gouvernementalität und der Pasto- ralmacht. Vgl. zu den nachträglichen Modifikationen der foucaultschen Machtanalytik Kneer 2013: 277-281, zur Gouvernementalität z.B. Lemke 2008, zur Pastoralmacht z.B. Ruoff 2013: 169-173.

4 Der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber werden die in dieser Arbeit häufig zitierten Schriften „Überwachen und Strafen“ und „Der Wille zum Wissen“ unter den Siglen „ÜS“ und „WW“ zitiert. Zi- tate, die diesen Werken entnommen werden, werden zudem der neuen Rechtschreibung angepasst.

5 Gemeinhin wird Foucaults Werk von zahlreichen Interpreten in drei Phasen eingeteilt (vgl. z.B. Kögler 1994, Suárez Müller 2004: 154 und Volkers 2008: 61): Archäologie (Phase der frühen Schriften bis etwa 1970), Genealogie (Schriften der 1970er-Jahre, wobei „Die Ordnung des Diskur- ses“ - Foucaults Antrittsvorlesung am Pariser Collège de France im Dezember 1970 - als Über- gangstext von der Archäologie zur Genealogie gilt, vgl. z.B. Ruoff 2013: 37), Ethik (Schriften vom Ende der 1970er-Jahre bis zum Tode Foucaults 1984). Dabei machen jedoch verschiedene Auto- ren - z.B. Spitzmüller/Warnke 2011: 66 - richtigerweise darauf aufmerksam, dass diese Dreiteilung des Werkes Foucaults „als Orientierung zwar hilfreich“ sei, jedoch auch „zu fatalen Fehlinterpreta- tionen geführt“ habe: „Zum einen hat man die Phasen isoliert zu betrachten versucht und Brüche herausgearbeitet, die längst nicht so radikal sind, wie es den Anschein haben mag. Die Schriften aus den verschiedenen ‚Phasen’ beziehen sich durchaus aufeinander [...]. Außerdem implizieren diese Einteilungen einen teleologischen Fortschrittsprozess, der Foucaults Arbeitsweise zuwider- läuft“. Aus diesen Gründen wird die Aufteilung des Werkes Foucaults in der neueren Forschung heftig kritisiert (vgl. Maset 2002: 14f.) und es erscheint sinnvoller, statt von aufeinanderfolgenden Phasen von Akzentverschiebungen und Ergänzungen zu sprechen (vgl. Kammler 2008: 11).

6 Friedrich Nietzsche kann generell als wissenschaftliche Leitfigur für Foucault angesehen werden. Foucault (2005d: 868f.) selbst bezeichnete sich als „Nietzscheaner“ und erklärte, er „versuche so weit wie möglich, was eine gewisse Anzahl von Punkten betrifft, mit Hilfe von Texten Nietzsches - aber auch mit antinietzscheanischen Thesen (die gleichwohl nietzscheanisch sind!) - herauszufin- den, was man in diesem oder jenem Bereich machen kann“. Balke (2008: 172) kommt deshalb zu dem Schluss, dass es unstreitig Nietzsche gewesen sei, der Foucaults Forschungsarbeit „durchweg die Stichworte und die methodische Orientierung geliefert hat“. Auch die französische Edition sämt- licher Werke Nietzsches wurde von Foucault - und Gilles Deleuze - betreut (vgl. Vogl 2008: 255).

7 Michel Foucaults Interesse an der Institution des Gefängnisses kann dabei auch auf praktische Erfahrungen zurückgeführt werden. Am 8. Januar 1971 gründet er die G.I.P., die „Groupe d’information sur les prisons“. Es handelt sich dabei um einen Arbeitskreis, der sich mit Gefängnis- sen und den Rechten der Insassen beschäftigt; vorrangig verfolgt Foucault mit seinem Engage- ment das Ziel, die Öffentlichkeit über die Situation der Gefangenen zu informieren und die Mittel und Ziele von Strafpraktiken zum Gegenstand einer politischen Diskussion zu machen (vgl. Polat 2010: 16). Vgl. zur „Groupe d’information sur les prisons“ ausführlicher z.B. Lemke 1997: 62ff.

8 Vgl. zu Foucaults genauem Forschungsinteresse in „Der Wille zum Wissen“ z.B. Gehring 2008a.

9 Zur Strukturierung der einzelnen Merkmale wird dabei lose auf eine Darstellung von Kögler (1994: 91-99) zurückgegriffen, die jedoch modifiziert wird.

10 Hetzel (2001: 203) verdeutlicht dies anschaulich anhand der englischen Strafgesetzgebung: Unterscheidet diese 1760 lediglich 160 Typen von Kapitalverbrechen, sind es 1819 bereits 223.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Michel Foucaults Analytik moderner Macht. Eine kritische Würdigung
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Master-Seminar: Habermas und Foucault
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
38
Katalognummer
V295881
ISBN (eBook)
9783656938330
ISBN (Buch)
9783656938347
Dateigröße
674 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
38 Seiten (inklusive Deckblatt, Inhaltsverzeichnis und Literaturverzeichnis), Literaturverzeichnis mit 60 Literaturangaben.
Schlagworte
Foucault, Macht, Analytik der Macht, Überwachen und Strafen, Der Wille zum Wissen, kritische Würdigung
Arbeit zitieren
Christian Rohm (Autor:in), 2014, Michel Foucaults Analytik moderner Macht. Eine kritische Würdigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295881

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