Psychoanalyse ist heute, am Ausgang des 20. Jahrhunderts und fast 60 Jahre nach dem
Tod ihres Begründers, immer noch der bestimmende Diskurs über menschliche Innerlichkeit.
Sie bietet für viele Menschen eine Beschreibungsmöglichkeit ihrer inneren Befindlichkeiten
und Gefühle, bietet das Vokabular für eine je eigene Selbstbeschreibung, indem man z.B. auf
die Erfahrung in der eigenen Erziehung rekurriert (oder auf Personen, Dinge, Ereignisse,
Situationen, Worte); psychoanalytischer Jargon ist fester Bestandteil unserer Alltagssprache
geworden, dessen man sich bedient, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Und dies nicht
ohne Grund, denn die Psychoanalyse stellt auch heute noch – trotz ihrer Umstrittenheit – für
manche Phänomene die einzige adäquate Beschreibungssprache zur Verfügung.
Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit den von Freud geprägten Begriffen –
betrachtet man zum Beispiel Verdrängung, Sublimierung, Projektion oder gar das Über-Ich –
fest umrissenen Gegenständen bzw. Vorgängen der Innenwelt eines Menschen oder des
Menschen allgemein entsprechen und ob man sie naturwissenschaftlich betrachten kann. Hier
stößt man auf das Problem, daß man Dinge solcher Art nicht messen und berechnen kann,
weil sich ein Zugang zur Innenwelt des Menschen ungleich problematischer gestaltet als zu
Dingen der äußeren Welt, der Natur. Ein sichtbarer Ausdruck dieses Problems zeigt sich in
der Unmöglichkeit, ‚Patentrezepte‘ zur Heilung von ‚psychischen Störungen‘ anzugeben.
Daher sind Überlegungen zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse angebracht. Ist sie nun
eine hermeneutische Disziplin, oder eine Naturwissenschaft, oder beides?
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, systematisch darzulegen, inwiefern die
Psychoanalyse ihrem Gegenstand gemäß eine hermeneutische Disziplin ist und daß sich der
Anspruch, Allgemeingültiges bzw. Naturgesetzliches über den Menschen auszusagen, nicht
einholen läßt1 und auf einem ‚szientistischen Selbst-Mißverständnis‘, wie es Habermas
nannte, beruht. Im weiteren werden das Verhältnis von Theorie und Praxis untersucht und
diskutiert werden, ob sich daraus resultierend eventuell Folgen für die psychoanalytische
Praxis ergeben.
1 Bittner 1998, S.66
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
EXKURS: Hermeneutik bzw. hermeneutische Psychologie
2. Die Besonderheit des Gegenstands der Psychoanalyse
3. Die psychoanalytische Situation
4. Absolutsetzung der Psychoanalyse - ein notwendigerweise unmögliches Unterfangen
4.1. Psychoanalytische Theorie und ihr Autor
5. Das Verhältnis von Theorie und Praxis: Junktim zwischen Heilen und Forschen?
6. Folgen für die Praxis der Psychoanalyse ?
7. Nachbemerkungen
Literatur
1. Einleitung
Psychoanalyse ist heute, am Ausgang des 20. Jahrhunderts und fast 60 Jahre nach dem Tod ihres Begründers, immer noch der bestimmende Diskurs über menschliche Innerlichkeit. Sie bietet für viele Menschen eine Beschreibungsmöglichkeit ihrer inneren Befindlichkeiten und Gefühle, bietet das Vokabular für eine je eigene Selbstbeschreibung, indem man z.B. auf die Erfahrung in der eigenen Erziehung rekurriert (oder auf Personen, Dinge, Ereignisse, Situationen, Worte); psychoanalytischer Jargon ist fester Bestandteil unserer Alltagssprache geworden, dessen man sich bedient, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Und dies nicht ohne Grund, denn die Psychoanalyse stellt auch heute noch – trotz ihrer Umstrittenheit – für manche Phänomene die einzige adäquate Beschreibungssprache zur Verfügung.
Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit den von Freud geprägten Begriffen – betrachtet man zum Beispiel Verdrängung, Sublimierung, Projektion oder gar das Über-Ich – fest umrissenen Gegenständen bzw. Vorgängen der Innenwelt eines Menschen oder des Menschen allgemein entsprechen und ob man sie naturwissenschaftlich betrachten kann. Hier stößt man auf das Problem, daß man Dinge solcher Art nicht messen und berechnen kann, weil sich ein Zugang zur Innenwelt des Menschen ungleich problematischer gestaltet als zu Dingen der äußeren Welt, der Natur. Ein sichtbarer Ausdruck dieses Problems zeigt sich in der Unmöglichkeit, ‚Patentrezepte‘ zur Heilung von ‚psychischen Störungen‘ anzugeben.
Daher sind Überlegungen zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse angebracht. Ist sie nun eine hermeneutische Disziplin, oder eine Naturwissenschaft, oder beides?
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, systematisch darzulegen, inwiefern die Psychoanalyse ihrem Gegenstand gemäß eine hermeneutische Disziplin ist und daß sich der Anspruch, Allgemeingültiges bzw. Naturgesetzliches über den Menschen auszusagen, nicht einholen läßt[1] und auf einem ‚szientistischen Selbst-Mißverständnis‘, wie es Habermas nannte, beruht. Im weiteren werden das Verhältnis von Theorie und Praxis untersucht und diskutiert werden, ob sich daraus resultierend eventuell Folgen für die psychoanalytische Praxis ergeben.
EXKURS: Hermeneutik bzw. hermeneutische Psychologie
Hermeneutik (griech.: Auslege-, Deutungskunst) ist eine Methode der Auslegung und Deutung von Texten, Sprach- und Kunstwerken und kulturellen Schöpfungen, die als Ausdruck oder Manifestation des menschlichen Geistes aufgefaßt werden, und bezeichnet im Allgemeinen den geisteswissenschaftlichen Weg des Verstehens im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Beobachtung von Naturobjekten. Hermeneutik ist dadurch gekennzeichnet, daß die Auslegung eng mit der Einordnung in einen Sinnzusammenhang und bei Bedarf mit einem historischem Verständnis gekoppelt ist und „anstelle von Allgemeingültigkeit eine Objektivität im Sinne der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand“ erstrebt.[2]
Dilthey (1833-1911) bemühte sich um eine systematische und methodische Begründung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen, Verstehen.“[3] Der Verstehensprozeß wird durch ein nachvollziehendes Erleben möglich:
„Auf der Grundlage des Erlebens und Verstehens seiner selbst, und in beständiger Wechselwirkung miteinander, bildet sich das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen aus.“[4]
In seinen „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ entfaltet Dilthey sein Programm einer hermeneutischen Psychologie: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben erklären wir…Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Das bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittels deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist.“[5] Diltheys Kriterium zur Unterscheidung der verschieden wissenschaftlichen Methoden richtet sich also nach dem jeweiligen Gegenstand. Im Folgenden soll daher zunächst einmal der Gegenstand der Psychoanalyse konkretisiert werden.
[...]
[1] Bittner 1998, S.66
[2] Böhm 1994, S.306
[3] Dilthey 1958, Bd. V, S.318; zit. n. Gudjons 1997, S.59
[4] Dilthey 1907, S.205; zit. n. Bittner 1998, S.59
[5] Dilthey 1894, S.144; zit. n. Bittner 1998, S.56
- Arbeit zitieren
- Michaela Sorgatz (Autor:in), 1999, Zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse: Psychoanalyse - eine hermeneutische Psychologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29594
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.