Leseprobe
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Kollektives Gedächtnis – Das Gedächtnis hat einen sozialen Rahmen
Quellenangaben:
Kollektives Gedächtnis – Das Gedächtnis hat einen sozialen Rahmen
In meiner Hausarbeit werde ich auf das Phänomen des „kollektiven Sich-Erinnerns“ in einer Gesellschaft eingehen. Woher stammt das Wissen, dessen wir uns alltäglich bedienen? Wie entstehen die Bilder, welche wir von Ereignissen im Kopf haben, die wir selbst gar nicht erlebt haben? Was bringen uns solche Erinnerungen und wo liegen Gefahren in dieser Art der Tradierung? Gibt es aktuelle Bezüge, die in heutiger Zeit das „Dasein“ und „Wirken“ eines kollektiven Gedächtnisses zeigen?
Ich werde mich in meiner Argumentation auf den Text von Astrid Erll beziehen, ihre Darlegung mit anderen Fachwissenschaftlern vergleichen und auch eigene Gedanken mit einfließen lassen.
Man sollte den Themenkomplex „kollektives Gedächtnis“ nicht nur aus einem Blickwinkel, durch eine einzige Fachwissenschaft, beleuchten. In der gegenwärtigen Forschung werden aus diesem Grund fachbereichsübergreifende Forschungsgruppen gebildet. Die Arbeit dieser so neu entstandenen „Allround-Arbeitsgruppen“ fußt auf einer viel breiteren Basis als das in getrennten Untersuchungen der einzelnen Wissenschaftsbereiche möglich wäre. Ein solcher Zusammenschluss ist in Gießen von statten gegangen. Es gibt verschiedene, voneinander abweichende Forschungskonzepte über das Gedächtnis. Geschichts- und Sozialwissenschaft gehören zu den engagiertesten Erforschern der kollektiven Erinnerungspraktiken, denn Geschichtsbewusstsein und die soziale Dimension des Erinnerns gehören zu den zentralen Punkten des kollektiven Gedächtnisses. Doch diese Fachbereiche stehen nicht alleine mit ihrer Arbeit zum Themenkomplex.
Der Sonderforschungsbereich 434, der bereits seit 1997 die Arbeit aufgenommen hat, beschäftigt sich zum Beispiel mit genau diesen Themengebieten um die „Erinnerungskultur“.
Ihre umfassenden Untersuchungen werfen einen Blick auf die Inhalte und Formen kultureller Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Die Bandbreite der beteiligten Fachbereiche ist riesig. Historiker, Germanisten, Latinisten, Gräcisten, Kunsthistoriker, Romanisten, Anglisten, Orientalisten, Philosophen, Politologen, Soziologen und Psychologen erarbeiten das, was wir uns im Alltagsleben selten vor Augen führen: Sind es unsere eigenen Erinnerungen und Wertevorstellungen, die unser Verhalten prägen oder werden wir extrinsisch beeinflusst? „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder zu finden.“ (Assmann 1997, S.35). Weiterführend von dieser zentralen These, die meist als etwas zu statisch und „überhistorisch“ angelegt gesehen wird, wird ein neues Konzept erprobt, das Dynamik, Kreativität und Prozesshaftigkeit verbindet. Der neue Kern dieses Konzeptes bezieht sich auf die „Pluralität des kulturellen Erinnerns“[1]. Dies bedeutet gleich zwei Auffassungen zugleich. Erstens den Begriff „Erinnern“ statt dem mit einem reinen Informationsspeicher assoziierten „Gedächtnis-Begriff“ und zweitens die Verwendung des Plurals. Das bedeutet wiederrum, es gibt nicht eine Erinnerungskultur, sondern viele differenzierte Erinnerungskulturen. Es wäre falsch, von einem allgemeingültigen Schema auszugehen, da eine Vielzahl von historisch-kulturellen „Variabilitäten von Erinnerungspraktiken und –konzepten“ Verwendung finden.
Marcus Sandl beschreibt das Konzept wie folgt: „Der Begriff (Erinnerungskulturen) verweist auf die Pluralität von Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestieren, sondern auch synchron in verschiedenartigen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können.“ Eine sehr bedeutungsschwangere und komprimierte Zusammenfassung, die ich jedoch als sehr gelungen ansehe. Es geht nicht um eine Synthese und Einheitsfindung - dies kann durch die unterschiedlichen Voraussetzungen der Menschen gar nicht umgesetzt werden - sondern darum, Operatoren zu finden, die die Modi der Erinnerungen am besten beschreiben können. Jacque LeGoff, der jedoch eine rein auf seine Fachwissenschaft bezogene Erklärung findet, erschafft nichtsdestotrotz eine sehr schlüssige Beschreibung.
Für LeGoff muss die historische Disziplin „nach Objektivität streben und auf dem Glauben an eine historische „Wahrheit“ begründet bleiben. Erinnerung ist ein Rohstoff der Geschichte. In Geist, Wort oder Schrift stellt sie den Vorrat dar, aus dem die Historiker schöpfen. […] Im Übrigen speist die Disziplin ihrerseits die Erinnerungen und tritt damit in den großen, didaktischen Prozess von Erinnerung und Vergessen ein, den Individuen und Gesellschaften durchleben. Der Historiker ist dazu da, um über dies Erinnern und Vergessen Rechenschaft abzulegen, um es in denkbaren Stoff umzuwandeln, um es zu einem Gegenstand des Wissens zu machen.“
LeGoffs „Rohstoff“-Vergleich ist meiner Meinung nach ungemein passend. Wir „schürfen“ das Wissen aus Erinnerungen vergangener Zeiten, welche uns in Wort und Schrift vorliegen. Das Wissen ist jedoch nicht so einfach für jedermann zugänglich. Wir müssen es uns erst durchschaubar und vor allem nutzbar machen. Es ist dabei schwierig objektiv zu bleiben und einen Sachverhalt zu untersuchen, der gegebenenfalls in einer vorliegenden Quelle vollkommen subjektiv, mit Eigeninteressen versehen, dargestellt wird. Was ist denn die historische „Wahrheit“, wäre eine berechtigte Frage. Die Beantwortung dieser Frage beinhaltet auch die Gefahr, die von dem Umgang mit dem historischen Wissen ausgeht. Durch die Selektion dessen, was wir als wichtig erachten im Gegensatz zu dem, was wir in Vergessenheit gleiten lassen, wird unser Geschichtsbild/unser Gedächtnis erschaffen, von dem wir wiederrum unsere Persönlichkeit, die Moralvorstellungen und unser Zugehörigkeitsgefühl abhängig machen. Wir sind geprägt durch die Informationen, die wir durch andere in einem „didaktischen Prozess“ erfahren haben. Die physiologischen und kognitiven Voraussetzungen, also eine Auffassungsgabe und Verarbeitungsmöglichkeit für Erinnern und Vergessen, sind zwar an das Individuum gebunden, aber was erinnert und vergessen wird, ist vermittelt durch soziale Erfahrungen. Es wird also nur erinnert, was in der Gegenwart einen sozialen Bezugsrahmen hat. Hat das Wissen eine Aussage auf das Leben in heutiger Zeit, auf den Lebensraum in dem ich mich befinde?
Es ist immer auch die Frage, in welcher Form das Wissen tradiert wurde, welches die eigene Kultur, das eigene Umfeld gegebenenfalls auch in ein negatives Licht rückt. Gerade im sogenannten Familien- und Generationengedächtnis kann dies zu einer Verzerrung der Wahrnehmung führen: Denn das „gemeinsame Sich-Erinnern“ in einer Gruppe oder in der Familie kann zur Verdrängung von Fehlern beitragen. Die Geschichtsschreibung, welche auf objektive Überprüfbarkeit Wert legt, unterscheidet sich hier grundlegend von diesen persönlichen Erinnerungen. Letztere sind vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes, Gelesenes, oder sogar an eigene Träume zu erinnern. Daher sind Erinnerungen keine „neutral“ gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Assmann spricht dabei auch von „Erinnerungsfiguren“[2].
Neben dieser mehr oder weniger subjektiven Einfärbung kommen Erinnerungen noch weitere Eigenschaften zu. Erinnerungen sind zielgerichtet und zweckbestimmt. Sie dienen nicht nur praktischer Notwendigkeit, sondern erfüllen gleichzeitig Bedürfnisse nach Legitimation. Eine Kultur benötigt sie darüber hinaus nicht nur zur Legitimation, sondern auch zur Selbstdarstellung und Identitätsstiftung ihrer Gruppe, zur Rechtfertigung und Abgrenzung und zur Handlungsorientierung. Jeder Mensch will zur Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühles und der idealisierenden Selbstwahrnehmung seiner eigenen Biografie und der der Vorfahren einen positiven Zweck erringen. Wir wollen uns nicht wegen unserer Vergangenheit schlecht fühlen, daher wandelt unser ständig kontrollierendes Legitimationsbedürfnis für uns unpassende Erinnerungen in passende um. Besonders „gesichtsbedrohend“ wird es, wenn die von nationalsozialistischen Deutschen begangenen Verbrechen mit der eigenen nationalen Identität in Einklang gebracht werden soll. Man will nichts mit diesem Teil der Vergangenheit zu tun haben. Es sind nicht die eigenen Fehler und man kann nichts Positives daraus ziehen. Die „eigene Gruppe“ hat versagt und das wollen sich viele nicht eingestehen. Sie suchen nach Abmilderung und Erklärungen. Man kann also sagen: Je unpassender die Erinnerung, desto stärker das Legitimationsbedürfnis.
Ein Werk in dem das Aufarbeiten gemeinsamer Vergangenheit ein wichtiges Element darstellt, ist zum Beispiel das 2002 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienene „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer, in dem er den Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis beschreibt. Bereits in den letzten zehn Jahren hat sich die Holocaust-Forschung (zum Beispiel durch Studien von Christopher R. Browning, die Goldhagen-Kontroverse und die Wehrmachtsausstellung) verstärkt dem Verhalten der "ganz normalen Deutschen" im Nationalsozialismus gewidmet. Doch die historische Analyse der Handlungsspielräume und Überzeugungen jener Millionen deutscher „Arisierungsgewinnler, Denunzianten, Mitläufer, Sympathisanten und Wegseher“, erweist sich immer wieder als ein methodisch ausgesprochen schwieriges Forschungsfeld. Generalisierbare Aussagen scheinen nur für eng umgrenzte Fallbeispiele möglich zu sein. Wahrheitsfindung ist schwierig und Übergeneralisierungen führen zu einer, meiner Meinung nach, nicht duldbaren Vorverurteilung. Die Gefahren eines „Familiengedächtnisses“ sind jedoch nicht zu leugnen. Es kann nicht nur, wie schon erwähnt, zu Verdrängung führen, sondern auch durch das Loyalitätsbewusstsein, welches man ganz natürlich zu einer geliebten Person aus der Familie besitzt, zu einer Heroisierung kommen. Je stärker das Vertrauen in den Vermittler des Wissens, desto unreflektierter geschieht meist die Übernahme in den eigenen Wissensfundus.
Erst nach und nach, zum Beispiel durch die Oral History, die wir im Seminar kennengelernt haben, können wir uns durch eine Vielzahl von Zeitzeugenberichten ein klareres Bild der damaligen Verhältnisse kreieren und sie für uns deuten. Die Ereignisse sind für uns nicht ohne Folgen, auch heute noch gibt es rechtsradikale Gruppierungen, die die Demokratie unterwandern. Es gibt also immer noch einen thematischen Bezugsrahmen, der das Wissen wichtig erscheinen lässt, damit die Fehler der damaligen Zeit nicht noch einmal begangen werden. Claudia Fraas[3] beschreibt dies mit dem „Modell des sozialen Rahmens“. „Ein Mensch (und eine Gesellschaft) sind nur das zu erinnern imstande, was als Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist. Es wird genau das vergessen, was in der Gegenwart keinen Bezugsrahmen mehr hat.“ (Fraas 2000, S. 36). Es ist ein Studium der Vergangenheit und zugleich eine Integration der Erkenntnisse der Moderne möglich und auch sinnvoll.
Astrid Erll konstituiert zu diesem Thema in ihrem Text, dass die Kultur der Gesellschaft eine „warme Kultur“ sein soll. Sie darf nicht verhärtet sein und rückwärtsgewandt nur die Errungenschaften der Vergangenheit anerkennen. Sie stellt fest, „um erinnern zu können, benötigt man eine Erinnerungskultur“. Diese „Erinnerungskultur“ gliedert sich in drei Ebenen. In der ersten Ebene werden die Rahmenbedingungen des Erinnerns errichtet. Den Rahmen des Erinnerns bildet die Gesellschaftsformation, also der Typus der Gesellschaft, innerhalb der erinnert wird. Wird zum Beispiel in einer Adelsgesellschaft oder bürgerlichen Gesellschaft erinnert? Die Auslegungen der historischen Ereignisse werden teilweise enorme Abweichungen aufweisen, je nachdem im welchen Milieu eine Person aufgewachsen ist. „Jedes Kollektivgedächtnis hat als Träger eine in Raum und Zeit begrenzte Gruppe.“[4] So schreibt Assmann bereits im Jahre 1997 und lässt damit eine weitere Bedingung anklingen, das Zeitbewusstsein. Das Zeitbewusstsein einer Gesellschaft wird von der Geschwindigkeit, dem Umfang und der Art des historischen Wandels geprägt. Befindet man sich in einer Zeit von gesellschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Umbrüchen, in der in einem kurzen Zeitraum vieles geschieht? Dies wäre zum Beispiel in der Zeit der Industriellen Revolution oder des Wirtschaftswunders der Fall.
Es ist darüber hinaus wichtig, die Wissensordnung einer Gesellschaft zu berücksichtigen. Es lassen sich unterschiedliche „Wissensweisen“ herausbilden, die für die Erinnerungskulturen wichtig sind. Darin enthalten sind zum Beispiel das Fortschreiten und das Verwalten von bereits bekanntem Wissen. Wird Wissen in weltlichen institutionellen Einrichtungen vermittelt, wie beispielsweise in Schulen oder Universitäten, oder liegt die Erziehung in der Hand der eigenen Familien oder geistlichen Oberhäuptern und Kirchen? Jede Institution „färbt“ die tradierten Informationen so, dass sie den eigenen Interessen am meisten dienlich sind.
Die Herausforderungslage einer Gesellschaft beeinflusst ihre Entwicklung und ihre Selbstauffassung. Sie ist definiert durch die Krise von Erklärungs- und Interpretationsmustern angesichts gesellschaftlicher Umbrüche. In diesem Bereich ist die Erforschung der jüdischen Vergangenheit sehr populär. Josef Hayim Yerushalmi, ein jüdischer Historiker, der in Astrid Erlls Werk zum kollektiven Gedächtnis zu Wort kommt, berichtet in seiner Darstellung über die Schwierigkeiten und Hürden, die sich in der jüdischen Geschichte ergeben haben. Insbesondere durch die schlechte Quellenlage seien gerade in der Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels und dem folgenden Auszug aus ihrem Heimatland, kaum brauchbare Informationen zu finden. Der Aufarbeitung der jüdischen Geschichte habe man erst ab dem 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit gewidmet. Wie kam es dazu, dass das jüdische Volk nie ein festes Heimatland hatte und warum entstand eine Vielzahl von Vorurteilen? Die anfängliche Euphorie über die wissenschaftliche Aufarbeitung verebbte jedoch im Laufe der Zeit. Man sprach aufgrund der aufkommenden Säkularisierung der modernen jüdischen Geschichtsschreibung vom „Verfall des jüdischen Gedächtnisses“.
Die zweite Ebene der Erinnerungskultur gliedert sich in vier Unterpunkte. Der erste ist die Erinnerungshoheit. Damit gemeint ist der Aufbau von Machtverhältnissen, aber auch von Machtdurchsetzungsverhältnissen. Wie sind die Herrschaftsstrukturen und Institutionen gegliedert und auf welche Art, mit welchem Einfluss und welcher Härte setzen sie ihre Forderungen und Einsichten durch? Ist das Wissen in der Hand des Staates, spezialisierter Traditionsträger oder von Wissenseliten? Die Macht der Einzelnen schwindet mit dem fortschreitenden Einsatz von Medien. Medienumbrüche wie beispielsweise die Erfindung des Buchdrucks oder die Durchsetzung elektronischer Medien seit Beginn des 20. Jahrhunderts, eröffneten fast für jeden Bürger die Möglichkeit sich selbst zu informieren. Wissen wurde für die breite Masse zugänglich und man musste sich nicht mehr auf die möglicherweise vorgefilterten Informationen anderer verlassen.
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[1] Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen.2005.
[2] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München 2002.
[3] Fraas, Claudia: Begriffe - Konzepte - kulturelles Gedächtnis. Ansätze zur Beschreibung kollektiver Wissenssysteme. In: Schlosser, Horst Dieter (Hrsg.): Sprache und Kultur. 2000.
[4] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München. 2002.