Leseprobe
1 Inhaltsverzeichnis
§ 2 Literaturverzeichnis
A. Vom Vorurteil zum Urteil
B. Fürstenspiegel, ein literarisches Genus. Ein Vergleich von Senecas „De clementia“ und Machiavellis „Il Principe“
1. Historische und biographische Situierung von Autor und Werk
1.2 Literarisches Genre
1.2.1 Definition eines „Fürstenspiegels“
1.2.2 Zuordnung Senecas und Machiavellis
2. Vergleich der Fürstenspiegel
2.1 Grundüberzeugungen bezüglich des Machterhalts
2.1.1 Senecas deontologischer Ansatz
2.1.2 Machiavellis teleologischer Ansatz
2.2 Philosophische Anthropologie
2.2.1 Senecas Menschenbild
2.2.2 Machiavellis anthropologischer Pessimismus
2.3 Anforderungen an den Fürsten
2.3.1 Senecas Postulat nach clementia
2.3.2 Machiavellis Postulat nach zweckmäßigen Mitteln in Krisensituationen
2.4 Ob es besser ist, geliebt oder gefürchtet zu werden
2.4.1 Senecas Résumé
2.4.2 Machiavellis Résumé
3. Rezeptionsgeschichte
C. Persönliche Bewertung
§ 2 Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Vom Vorurteil zum Urteil
„Erbarmen ist ein Laster der Seelen, die sich allzu sehr über Erbärmlichkeit erschrecken.“ [1] Würde man jemanden fragen, ob dieses Zitat eher Seneca oder doch Machiavelli zuzuordnen sei, entschiede sich dieser mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit für Machiavelli, wiewohl es von Seneca stammt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als wir doch oftmals recht schematisch zu urteilen pflegen. Der zweifelsohne negativ konnotierte Begriff des „Machiavellismus“ beweist, wohin die unbesehene Hinnahme vorgegebener Urteile führt. Das Ansehen des dergestalt gebrandmarkten Florentiners ist sogar in solchem Maße beschädigt, dass die Engländer selbst nicht davor zurückschrecken, mit Machiavellis Vornamen ihren Spott zu treiben: „Old Nick“ gilt als ein Synonym für den Teufel. Im Sinne einer umfänglichen und fairen Betrachtungsweise sei jedoch erwähnt, dass es ein Brite war, der Machiavelli folgende Grabinschrift gesetzt hat: „Tanto nomini nullum par elogium“.[2]
Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat verwischt die Konturen und kann somit, mitunter intendiert, zu einem Trugschluss führen. Dessen ist sich auch der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau bewusst, wenn er sagt: „Traue keinem Zitat, das du nicht selber aus dem Zusam-menhang gerissen hast.“[3] Ein vermeintlich entlarvendes Zitat vermag es also, jemanden in seiner Meinung zu beeinflussen und undifferenzierte Vorurteile zu verstärken, wenn dieser die genauen Hintergründe nicht kennt.
Soweit das überhaupt möglich ist, soll es Anspruch und Methode dieser Arbeit sein, weitgehend unvoreingenommen und ausgewogen die staatstheoretischen Abhandlungen Niccolò Machiavellis und Senecas zu analysieren. Im Zuge dessen lohnt es sich auch der Frage nachzugehen, warum eine so polarisierende Persönlichkeit wie Machiavelli scheinbar viel mehr Beachtung findet, sei sie negativ oder positiv, als der uns rechtschaffen dünkende Seneca.
Ziel der Arbeit ist es dementsprechend, ausgehend von einem Vergleich der beiden Fürstenspiegel „Il Principe“ von Machiavelli und „De clementia“ von Seneca, über die Rezeptionsgeschichte der beiden Werke, hin zu einem von Informationen getragenen Urteil zu kommen.
B. Fürstenspiegel, ein literarisches Genus. Ein Vergleich von Senecas „De clementia“ und Machiavellis „Il Principe“
1. Historische und biographische Situierung von Autor und Werk
Zuallererst empfiehlt es sich, sowohl das Leben des Autors, als auch das Werk selbst in den historischen Kontext einzuordnen, allerdings nur in den Grundzügen, um sich nicht zu sehr vom eigentlichen Thema zu entfernen.
1.1 Zeitumstände und Motivation
Lucius Annaeus Seneca wurde zwischen 4 v. Chr.[4] und dem Jahre 1[5] in einer begüterten römischen Familie im spanischen Cordoba geboren. Bereits in frühen Jahren kam er nach Rom, um dort die übliche Ausbildung beim grammaticus und rhetor zu erhalten. Hierbei eignete sich Seneca auch profunde Kenntnisse in der Philosophie an. Eine schwere Bronchitis, verbunden mit Fieber-anfällen, begleitete ihn ein Leben lang. Diese Belastung trieb ihn bereits in jungen Jahren zeitweilig an die Grenze des Suizids. Zur Erholung reiste er nach Ägypten, von woher er nach längerem Aufenthalt im Jahre 31 zurückkehrte. In Rom wurde Seneca hierauf Quaestor und somit Senator unter Kaiser Caligula. Nach dessen Ermordung im Jahr 41 fiel Seneca bei der Frau des neuen Kaisers Claudius, Messalina, in Ungnade, die ihm Ehebruch vorwarf. Deswegen wurde er zwischen 41 und 49 nach Korsika verbannt. Die Mutter des späteren Kaisers Nero, Agrippina, rief Seneca aus der Verbannung zurück, denn er sollte Nero auf dessen zünftiges Kaiseramt vorbereiten. Als im Jahr 54 Nero zum Kaiser berufen wurde – Claudius war inzwischen durch seine eigene Frau vergiftet worden – und Seneca das Konsulat erhielt, begann das sogenannte „quinquennium Neronis“ , also fünf Jahre, in denen de facto Seneca, zusammen mit dem Gardepräfekten Burrus, das römische Weltreich überaus maßvoll und erfolgreich lenkte. Ohne allzu große Trauer dürften Seneca und Burrus im Jahre 59 die Nachricht entgegen-genommen haben, dass die herrschsüchtige Agrippina, die stets um politischen Einfluss rang, im Auftrag ihres eigenen Sohnes ermordet worden war. Als jedoch im Jahr 62 Burrus starb, schwand auch Senecas Einfluss auf Nero immer mehr. Obwohl Nero ein Rücktrittsangebot Senecas abgelehnt hatte, zog sich der Verfasser von „De clementia“ auf seine Besitztümer in Rom und Kampanien zurück, da sich ein weiteres Engagement am Kaiserhof mit seiner philosophischen Grundhaltung nicht vereinbaren ließ. Im Zusammenhang mit der gegen Nero gerichteten Pisonischen Verschwörung vom Jahre 65 musste Seneca, angeblich Mitwisser der Verschwörung, auf Weisung des Kaisers Selbstmord begehen.
Seneca ist der Epoche der frühen Kaiserzeit zuzuordnen. Seine von Menschlichkeit erfüllte stoische Ethik fand in einigen Teilen der Bevölkerung großen Widerhall. In den Annalen kommt Tacitus oftmals auf Seneca zu sprechen. So sagt er, dass der Stoiker eine „angenehme Begabung besessen habe, die in ihrer gefälligen Art dem Geschmack seiner Zeit zusagte“.[6] Als Stoiker glaubt Seneca an die Gleichwertigkeit jedes Menschen, sofern er einen Funken des die Welt durchwaltenden Weltfeuers in sich trägt. Der vom logos wohlgeordnete Kosmos, sowie die Natur werden den Menschen zum Maß und Ziel gesetzt. Durch die Vernunft haben die Menschen Anteil an der All-Vernunft. Diese stoische Ethik berührt sich vielfach mit dem Christentum, weshalb Seneca von manch einem Kirchenvater für einen Christen gehalten wurde. Indem der zu den „großen Spaniern“ der römischen Literatur zählende Seneca für Nero einen Fürstenspiegel ausar-beitet, mittels dessen er den Princeps zu leiten sucht, greift er potentiell in das Leben von Millionen ein.
Niccolò Machiavelli, geboren am 03.05.1469 in Florenz, schlug frühzeitig die Beamtenlaufbahn in seiner Heimatstadt ein und avancierte zu einem hochrangigen Politiker, der in einer Art Kriegs- und Außenministerium aktiv war. Als allerdings im Jahre 1512 die Medici in Florenz wieder an die Macht gelangten, die sie 1494 infolge der französischen Invasion verloren hatten, wird Machiavelli all seiner Ämter enthoben, ja sogar eingesperrt und gefoltert, nachdem man ihm Verschwörungs-absichten nachgesagt hatte. Jedoch stellte sich seine Unschuld heraus; trotzdem verbannte man ihn auf sein kleines väterliches Landgut nahe Florenz. In völliger Abgeschiedenheit begann Machiavelli, seine politischen Vorstellungen über Macht- und Herrschaftstechniken in einem Buch niederzuschreiben. Unter dem Titel „De Principatibus“[7] veröffentlichte er diese im Jahre 1513, dem einflussreichen Lorenzo de’ Medici gewidmet. Am 22.06.1527, also noch fünf Jahre vor dem Erstdruck von „Il Principe“, verstarb Machiavelli auf seinem Landgut in großer Armut.
Machiavelli lebte zu Zeiten der Hochrenaissance, circa 1500 Jahre nach Seneca, in der ein von der Machbarkeit der Welt erfüllter Geist die Seelen der Menschen erfasste. Konträr zu den für jene Zeit typischen humanistischen Autoren, die sich auf antike oder christliche Tugenden rück-besannen, beschäftigte sich Machiavelli mit den „realhistorischen Möglichkeiten“[8] zur Rettung Italiens aus Korruption, Zersplitterung und Fremdherrschaft. Dies war sein vornehmliches Anliegen, denn nach vierzig Jahren relativen Machtgleichgewichts innerhalb Italiens seit dem Frieden von Lordi im Jahre 1454, zeigte sich durch die Invasion Karls VIII. von Frankreich in Italien im Jahre 1494, wie uneinig, zersplittert und wehrlos Italien eigentlich war. Italien wurde zum Kampfplatz europäischer Großmächte, denn auch Spanien-Habsburg intervenierte. Unzählige größere und kleinere Fürstentümer und Republiken befehdeten sich zudem im Inneren des Landes.
Nur ein auf dem Prinzip der Selbstbehauptung beruhender Machtstaat, wie er in „Il Principe“ beschrieben wird, ist nach Machiavelli in der Lage, die italienische Krise zu bannen und Italien zu einen. Der Verfasser des „ Principe“ stützt sich dabei, in scheinbar unkritischer Weise, auf die zeitgeschichtliche Wirklichkeit: „Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie.“[9] Sein Selbstverständnis als empirischer Realist wird hier deutlich. Schon in seiner Widmung spricht Machiavelli selbstbewusst von Kenntnissen, die er sich „durch lange Erfahrungen mit den gegenwärtigen Zuständen und durch beständiges Studium der Verhältnisse des Altertums“[10] angeeignet habe und nun in Regeln fassen wolle.[11] Welche Anforderungen Machiavellis Fürst idealiter erfüllen muss, soll im Folgenden geklärt werden.
1.2 Literarisches Genre
1.2.1 Definition eines „Fürstenspiegels“
Vorab eine Definition des Fürstenspiegels. Nach Meyers Großem Konversation-Lexikon ist ein Fürstenspiegel „eine Schrift, in der das Musterbild eines Herrschers aufgestellt wird“,[12] entweder in Anlehnung an das idealisiert beschriebene Leben eines bestimmten Herrschers,[13] häufiger aber als allgemeine Darstellung des Wesens und Wirkens eines Fürstens, die auch utopische Züge haben kann. In seltenen Fällen kann der Fürstenspiegel auch als Grundlage für die Erziehung junger Fürstlichkeiten angedacht sein.
1.2.2 Zuordnung Senecas und Machiavellis
1.2.2.1 Senecas traditioneller Fürstenspiegel
Bei Seneca fällt die Zuordnung zu einer dieser Arten von Fürstenspiegeln nicht schwer. Wie bereits erfahren, soll Seneca den jungen Nero auf Veranlassung von dessen Mutter Agrippina in das Kaiseramt einweisen. Deshalb besitzt die Schrift „De clementia“ einen hohen Grad an Konkretheit für Kaiser Nero. Häufig nimmt Seneca direkt Bezug auf den Kaiser. Nero, der gerade erst das achtzehnte Lebensjahr überschritten habe[14], übertreffe selbst den vergöttlichten Augustus an Güte, denn „mag er maßvoll und gütig gewesen sein, aber doch nach einem von römischen Blut gefärbten Meer von Actium“.[15] Nero hingegen habe noch nie Bürgerblut vergossen. Seine Güte findet ihren Ursprung nicht in der Reue über früheres Wüten wie bei Augustus, dessen Güte somit „ermüdete Grausamkeit“[16] sei. Er legt Nero ans Herz, auch in Zukunft nie unüberlegt und von Begierde entflammt zu handeln, sondern vielmehr „die Schärfe der Herrschaft abzustumpfen“.[17] Seneca widmet seinen Fürstenspiegel somit explizit Nero, in den er all seine Hoffnungen projiziert. Später muss er jedoch Neros mörderisches Potential erkennen, das letztlich sogar ihn selbst, Seneca, das Leben kostet.
1.2.2.2 Machiavellis revolutionärer Fürstenspiegel
Die Zuordnung Machiavellis Schrift „Il Principe“ ist hingegen nicht eindeutig zu leisten. Seine Widmung „an den erlauchten Lorenzo de‘ Medici“[18] wird bereits dadurch dekonstruiert, dass Machiavelli sein Werk ursprünglich Lorenzos Onkel, Giuliano de‘ Medici, zueignen wollte. Einen speziellen Herrscher kann Machiavelli wohl nicht anzusprechen beabsichtigt haben, vielmehr geht es ihm um die allgemeine Darstellung des Wesens und Wirkens eines Fürstens. Einen utopischen Entwurf des idealen Staates allerdings, im Rekurs auf die Scholastik,[19] arbeitet Machiavelli auch nicht aus. Wie bereits unter dem Punkt der Motivation erwähnt, zeigt Machiavelli eine pragmatisch-, empirisch- und vor allem an der Realität orientierte Grundhaltung. Die Verbind-lichkeit normenorientierter Tugend, tritt hinter die, dem Augenblick folgenden, erfolgs-orientierten Tüchtigkeit zurück. Indem Machiavelli wissentlich mit dem Konzept klassischer Staatsphilosophie bricht und somit die Akzentuierung gänzlich anders setzt, handelt es sich bei seinem Werk streng genommen um einen revolutionären Fürstenspiegel. Häufig liest man in diesem Zusammenhang auch über die „Bombe im Gebetbuch“. Nur scheinbar knüpft Machiavelli an die Tradition der Fürstenspiegel an, insofern als er seine Schrift, die zudem „Il Principe“ heißt, einem Fürsten widmet. Dieser formalen Anknüpfung steht ein inhaltlicher Bruch gegenüber, der, in Bezug auf die bestehenden Traditionen, nicht drastischer hätte ausfallen können. Alles wird bei Machiavelli dem Primat der staatlichen Existenzsicherung untergeordnet. Hierin besitzt „Il Principe“ seine hohe Konkretheit. Von Kapitel 1 bis 11 befasst sich Machiavelli ausschließlich mit der Typisierung von Fürstentümern und von Kapitel 12 bis 14 mit Organisations- und Rekrutierungsformen im Heereswesen. Traditionelle Tugenden wie Sanftmut, Freigebigkeit, Güte oder Ehrlichkeit finden hingegen nicht die Beachtung, die ihnen in einem traditionellen Fürstenspiegel zugebilligt wird. Jedoch folgt selbst der Florentiner einer bestimmten ethischen Ausrichtung. Wie diese genau beschaffen ist, soll im Nachfolgenden noch genauer dargestellt werden.
2. Vergleich der Fürstenspiegel
Um die beiden Fürstenspiegel detailliert zu vergleichen, empfiehlt es sich, vorab den Rahmen abzustecken, indem die prinzipiellen politischen Konzepte zum Machterhalt dargestellt werden.
2.1 Grundüberzeugungen bezüglich des Machterhalts
2.1.1 Senecas deontologischer Ansatz
Seneca vertritt eine deontologische Ethik.[20] Ein zielgerichtetes Streben, wie jenes nach Macherhalt, schließt sich also schon per definitionem aus. Seneca glaubt an den Wert der Tugenden, die um ihrer selbst willen befolgt werden sollen. Mit der Richtschnur der Tugenden werden die Grenzen menschlichen Handelns abgesteckt. Ziel sei es, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen, ausgerichtet am Guten. Ein wichtiger Aspekt ist die Versöhnung zwischen der Moral und dem Nützlichen.[21] Der Stoiker glaubt nämlich, dass, was dem Menschen würdig ist, ihm auch nützlich ist,[22] und somit Würde und Nutzen gleichsam zwei Seiten des Einen sind: nämlich des Guten.
Seneca geht es um das Gemeinwesen des Römischen Reiches; der Machterhalt wird vor dem Hintergrund des Eins-Seins der römischen Bürger mit ihren Kaiser[23] zu einer eventuellen Begleiterscheinung. Am Erfolg oder an der Effizienz politischer Maßnahmen misst sich der Kaiser nach Seneca nicht. Seinen Lohn erhält er durch das Bewusstsein, recht gehandelt zu haben. Die Vernunft, sowohl die Weltvernunft im Großen, als auch die eigene Vernunft, spielt dabei eine entscheidende Rolle.
2.1.2 Machiavellis teleologischer Ansatz
Niccolò Machiavellis Ethik hingegen ist offensichtlich teleologisch[24] geprägt. Unter dem Primat des Erhalts und der Stabilisierung des Staates, i.e. um das Gemeinwesen und eben nicht individuelle Herrschsucht zu fördern, sieht Machiavelli den Fürsten befugt, fast alle Mittel einzusetzen. Oft wird Machiavelli deshalb zur Last gelegt, er trenne auf diese Weise Macht und Moral − die Politik werde zur selbstständigen sozialen Sphäre.[25] Klarzustellen ist, dass Machiavelli unmoralischem Verhalten keine Absolution erteilt, wie ihm so oft vorgeworfen wird, denken wir nur an den „Machiavellismus“. Ein solches Verhalten nämlich bindet Machiavelli an bestimmte Voraussetzungen, die gegeben sein müssen. Dann allerdings seien auch unmoralische Handlungs-weisen, die im Übrigen erst erlernt werden müssten,[26] nahezu unausweichlich, wie noch an späterer Stelle belegt werden soll. Auch lehnt Machiavelli beispielsweise den humanistisch geprägten Wert der Sanftmut keineswegs kategorisch ab; geliebt zu werden sei ebenfalls eine zweifelsohne fürstliche Errungenschaft.[27] Um aber die politische Handlungsfähigkeit, die sich am Erfolg orientiert, zu garantieren, müssen in Krisensituationen die Befugnisse des Princeps derart beschaffen sein, dass er diese auch überwinden zu kann. Die Vernunft im klassischen Sinne hat für Machiavelli versagt – abzulesen an der damaligen italienischen Krise −, was eine Auseinandersetzung mit der Macht notwendig macht. Die Vernunft, gedacht als deterministische, stoische All-Vernunft, wird bei ihm durch die Macht, die wiederum ihrer eigenen Logik folgt, ersetzt.[28]
2.2 Philosophische Anthropologie
Diese grundverschiedenen Positionen sind Folge des jeweiligen Menschenbildes der beiden Autoren. Nachfolgend soll über deren detaillierte Argumentation referiert werden.
2.2.1 Senecas Menschenbild
2.2.1.1 Der Mensch als „sociale animal“
2.2.1.1.1 Definition unter besonderer Berücksichtigung der Güte
In alter Tradition versteht Seneca den Menschen als „sociale animal“. Als ein solches Gemeinschaftswesen ist er zum gemeinsamen Wohl erzeugt, zum Guten und zum Nutzen seiner Mitmenschen. Erst innerhalb des Gemeinwesens kann der Mensch seine sittliche Bestimmung erfüllen und die eudaimonia [29] erlangen. Jedem Menschen gesteht Seneca ein „commune ius animantium“,[30] als eine Art Menschenrecht avant la lettre zu. In diesem Zusammenhang kommt Seneca auf die Güte zu sprechen, die einen derartigen Kernbegriff in der Staatstheorie Senecas darstellt, dass ihr an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet werden soll. Unter dem Punkt philosophische Anthropologie muss allerdings vorweggreifend erwähnt werden, dass laut Seneca keine Tugend dem Menschen angemessener sei als die Güte, „da keine menschlicher ist“[31]. Für die römischen Bürger ziemt sich also ein tugendhaftes Leben, insbesondere die Ausrichtung nach der Güte.
2.2.1.1.2 Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten
Das Gemeinwesen muss nach Seneca von einem Herrscher gelenkt und geleitet werden. Diese Machtstellung könne gar nicht schädlich sein, wenn sie „ad naturae legem“[32] aufgebaut wird: „Die Natur hat nämlich den König ausgedacht.“[33] Dies soll keinesfalls als Rechtfertigung für eine Monarchie gelten, die unbeschränkt und unkontrolliert Macht ausübt. Anhand eines amüsanten Beispiels aus dem Tierreich, nämlich des Bienenstaates, zeigt Seneca auf, dass die exponierte Stellung des Princeps mit all ihren potentiellen Möglichkeiten zur Machtausübung, dennoch ihre Einschränkungen haben muss. Der „König“[34] der Bienen besitzt das geräumigste und sicherste Gemach inmitten der Wabe und sei lediglich „ein Prüfer fremder Arbeiten“.[35] Stirbt er, so gehe mit ihm der ganze Staat zugrunde. Sehr treffend und unterhaltsam ist noch die Ergänzung, dass die Arbeiterbienen jähzornig seien und gerne von ihrem Stachel Gebrauch machten, der König selber aber ohne Stachel sei. So habe die Natur seinen Zorn waffenlos gemacht: „Das ist für große Könige ein gewaltiges Vorbild.“[36] Wie ist es nun um das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten bestellt? Welche Macht besitzt der Princeps seiner Untertanen gegenüber? Eine solche Frage der Macht stellt sich nach Seneca eigentlich überhaupt nicht. Dies belegt er mittels eines Bildes. Das Staatsvolk und der führende Mann bilden demnach ein Ganzes. Obwohl der Körper, stellvertretend für das Volk, viel größer sei als die Seele, die den Herrscher repräsentiert, sei er ihr dienstbar, vorausgesetzt sie sei im Besitz der Herrscherweisheit[37]: „So wird diese unermeßliche [sic] Menge, sich scharend um das Leben eines einzigen, durch seinen Atem regiert, durch seine Vernunft gelenkt […].“[38]. Nach Seneca ist das Leben der Menschen untrennbar mit dem des Herrschers verflochten, da er das Band ist, „durch das das Gemeinwesen zusammenhält, der Lebensatem, den diese so vielen Tausende einziehen[…].“[39] Gelte also seine Sorge dem Einzelnen wie der Gesamtheit, so könne er sich der Opferbereitschaft seiner Bürger bis in den Tod gewiss sein. Dass ein ganzes Volk sich für ihren Herrscher opfern würde, geschieht nach Seneca − aus bereits dargelegten Gründen − nicht aus einem Minder-wertigkeitsgefühl oder Wahnsinn.
2.2.1.2 Patriarchalisches System
2.2.1.2.1 Väterliche Gewalt des „Pater Patriae“
Seneca betont den patriarchalen Charakter des Princeps, indem er einen Vergleich zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern anstellt. Nicht bereits beim ersten Anlass würden gute Eltern ihren Sohn enterben. Erst wenn alle Mahnungen zur Besserung, alle Hilfsmittel nicht ihre erhoffte Wirkung zeigen, sei die Verhängung einer Strafe unumgänglich. Ebenso soll auch der Princeps handeln, denn nicht aus leerer Schmeichelei habe man ihm den Beinamen „Pater Patriae“[40] verliehen. Diese „väterliche Gewalt“[41] sei dem Princeps „am gemäßigtsten“.[42] Der Vater nämlich stellt seine Egoismen hintan und sorgt sich um seine Kinder, von denen jedes für ihn einen besonderen Wert besitzt. Im übertragenen Sinne bedingt solch eine väterliche Einstellung des Princeps seinen Bürgern gegenüber eine Nähe zum Volk, die Grausamkeit verhindern will und Güte bedingt. Im Übrigen sieht Seneca das Verhältnis zwischen Kaiser und Göttern für ähnlich beschaffen. Der Herrscher müsse sich den „Sinn der Götter“[43] zulegen, deren Eigenart es sei, zu schonen, zu retten und Stellung zu verleihen. Wie der Herrscher für sich die Götter wünscht, so soll er sich auch seinen Bürger gegenüber verhalten. An Bürgern, die dem Gemeinwesen nützlich sind, soll er sich freuen. Wenn sie allerdings diesem Ideal nicht entsprechen, so soll er sie dennoch tolerieren. Mit milder Sinnesart möge er die Herrschaftsmacht ausüben. Dieses Leitmotiv der Götter-Princeps-Beziehung zieht sich durch den gesamten Fürstenspiegel.
2.2.1.2.2 Ablehnung bloßen Scheins
Kurz sei hier noch erwähnt, dass es bei einem Vergleich beider Schriften ins Auge fällt, dass Seneca, seinem ethischen Hintergrund entsprechend, Verstellung oder Heuchelei eines Herrschers vehement ablehnt: „Niemand nämlich kann lange eine Maske tragen.“[44]. Denn alle Augen sind auf ihn gerichtet, er führt ein Leben in und für die Öffentlichkeit, muss also seiner repräsentativen Funktion gerecht werden und sich um seinen guten Ruf kümmern. Diesen ganz konsequent zu wahren sei zugegebenermaßen eine Knechtschaft, aber diesen Zwang, „nicht kleiner werden zu können“,[45] teile er mit den Göttern.
2.2.1.3 Realitätsnähe
Es bleibt abschließend zu beurteilen, wie realistisch Senecas Menschenbild ist, also gerade der Punkt, welchen zu erfüllen sich Machiavelli so anheischig macht. Schon relativ am Anfang seines Werkes stellt der gebürtige Spanier nüchtern fest: „Peccavimus omnes.“[46] Mit ironischem Unterton fährt er dann fort, dass bei strenger Auslegung der seiner Richtlinien das Gemeinwesen einer Wüste gleichen würde.[47] Diese Betrachtungsweise legt eine recht solide Menschenkenntnis nahe. Zwar verlangt Seneca dem Kaiser stets eine adäquate Handlungsweise ab, dem einfachen Bürger gegenüber zeigt er sich allerdings deutlich kompromissbereiter. Einem Privatmann, dem Unrecht angetan wurde, billigt er durchaus Rachegedanken und Gefühle des Zornes zu, allerdings gilt auch hier: Verzichtet er auf die Rache, erlange er „den Ruhm der Sanftheit“[48]. Während aber Aggression unter seinesgleichen faktisch unbedeutend sind, sei für den Herrscher bereits die „Unbeherrschtheit in Worten nicht seiner Größe entsprechend“.[49] Ganz illusionslos stellt Seneca im Übrigen fest, dass die Menschen trotzig und widerstrebend seien, wolle man ihnen etwas aufzwingen. Für ihn ergibt sich daraus die Konsequenz, dass sie, wie Rassepferde, mit lockeren Zügeln gelenkt werden sollten,[50] fernab repressiver Maßnahmen: „Einem, der lockerer befiehlt, wird besser gehorcht.“[51]
2.2.2 Machiavellis anthropologischer Pessimismus
Machiavelli zeichnet ein durch und durch konträres Menschenbild. Seine Staatstheorie baut zumeist auf einem anthropologischen Pessimismus auf. Ziel müsse es sein, die Kontrolle über die Menschen zu gewinnen.
2.2.2.1 Das menschliche Wesen: Schlechtigkeit der Menschen im Allgemeinen und Nieder- tracht der politischen Handlungsträger im Besonderen
Im XVII. Kapitel des „Príncipe“, dem Schlüsselkapitel seines ganzen Werkes, bezeichnet der Florentiner den Menschen als „[…]undankbar, wankelmütig, unaufrichtig, heuchlerisch, furcht-sam und habgierig.“[52] Sei die Not fern, so „bieten [sie] dir ihr Blut, ihre Habe, ihr Leben und ihre Kinder[…]; kommt diese dir aber näher, so begehren sie auf.“[53] So betrachtet, bilden die Liebe und die Zuneigung zum Kaiser keine Machtbasis, auf der sich aufbauen ließe. Denn eine solche Zuneigung werde allein durch das Band der Dankbarkeit aufrechterhalten, das die Menschen jedoch zerrissen, böte sich ein persönlicher Vorteil.[54] Generell gesehen, bemesse das einfache Volk den Fürsten nicht anhand seiner moralischen Prinzipien, sondern anhand seines Erfolgs.
Die Politik allgemein sieht Machiavelli als schmutziges und unmoralisches Geschäft, in dem derjenige, der sich dennoch moralisch verhalten will, gleich einem Lamm im Wolfsrudel zugrunde gehen muss.
[...]
[1] Seneca: „De clementia“, Kapitel 2, 6, 4, S. 85.
[2] „Der Größe dieses Namens wird kein Lob gerecht“.
[3] Rau, Johannes: von 1999 bis 2004 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, angelehnt an: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast.“. Persönliche Anmerkung: Dieses Zitat wird für gewöhnlich dem britischen Politiker Winston Churchill zugeschrieben, möglicherweise stammt es aber vom deutschen Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der diese Aussage Churchill andichtete.
[4] Benedicter, Kurt: „Antike und Gegenwart“, Bamberg, 1999, C. C. Buchners Verlag, S. 7.
[5] Préchac und K. Abel in: Gregor Maurach, „Seneca – Leben und Werk“, Darmstadt, 2005, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 15 f.
[6] Tacitus: „Germania, Die Annalen“, Augsburg, 1964, Goldmanns Gelbe Taschenbücher, S. 213.
Originaltext: „ […]fuit illi viro ingenium amoenum et temporis eius auribus accommodatum.“.
[7] Erstdruck 1532 in Rom unter dem Titel „Il Principe“.
[8] Machiavelli: „Il Principe“, Nachwort, S. 238.
[9] Ibid., Kapitel XV., S. 119.
[10] Ibid., S. 5.
[11] Cf. ibid., S. 6.
[12] Meyers Großes Konversations-Lexikon, hrsg. von F. K. v. Strombeck, Leipzig und Wien, 1885-18924, 19 Bde., Band 6, S. 796.
[13] Cf. Xenophon: „Κύρου παιδεία“, bzw. „De institutione Cyri“ oder „Kyropädie“, 8 Bücher umfassender Staatsroman, o.O., 4 Jh. v. Chr. – persönliche Anmerkung: Hierin wird die Vorzüglichkeit der unbeschränkten Fürstengewalt gezeigt, sofern sie in den Händen eines tüchtigen Mannes ist.
[14] Cf. Seneca: „De clementia“, Kapitel 1, 9, 1, S. 27.
[15] Ibid., Kapitel 1, 11, 1, S. 35 - Antonius vs. Octavian, Schlacht bei Actium, 31 v. Chr.
[16] Ibid., Kapitel 1, 11, 2, S. 35.
[17] Ibid., Kapitel 1, 11, 2, S. 37.
[18] Machiavelli: „Il Principe“, S. 5.
[19] persönliche Anmerkung: Ausgehend von den logischen Schriften des Aristoteles, handelt es sich um ein Verfahren zur Klärung wissenschaftlicher Fragen mittels theoretischer Erwägungen.
[20] Griechisch: δέον (deon) − die Pflicht.
[21] Cf. Seneca: „De clementia“ Kapitel 1, 11, 4, S.37 : „Clementia ergo non tantum honestiores, sed tutiores praestat ornamentumque imperiorum est simul et certissima salus.”
[22] Cf. Griechen: „Kalokagathia“, (griechisch: kalós = schön; agathós = gut) ist die körperliche, moralische und geistige Vollkommenheit.
[23] Cf. ibid., Kapitel 1, 4, 3, S. 17.
[24] Griechisch: τέλος (télos) – das Ziel.
[25] Cf. Machiavelli: „Il Principe“, S. 240.
[26] Cf. ibid., Kapitel XV, S. 119.
[27] Cf. ibid., Kapitel XVII, S. 127.
[28] Seneca: „De clementia“, Kapitel 1, 3, 2, S.12 – cf. Aristoteles: „zoon politikon”: Gemeinschaftswesen.
[29] griechisch: Glückseligkeit.
[30] Seneca: „De clementia“, Kapitel 1, 18, 2, S.53 – „allgemeines Recht der Lebewesen“.
[31] Ibid., Kapitel 1, 3, 2, S. 13.
[32] Ibid., Kapitel 1, 19, 1, S. 53 : „nach dem Gesetz der Natur“.
[33] Ibid., Kapitel 1, 19, 2, S. 53.
[34] Ibid., persönliche Anmerkung: Entweder aus biologischer Unkenntnis, oder weil es ins Bild gepasst hat, da es sich eigentlich um eine Bienenkönigin handelt.
[35] Ibid.
[36] Ibid., Kapitel 1, 19, 3, S. 55.
[37] Cf. ibid., Kapitel 1, 3, 5, S. 15.
[38] Ibid.
[39] Ibid., Kapitel 1, 4, 1, S. 15.
[40] Ibid., Kapitel 1, 14, 2, S. 44 – Vater des Vaterlandes.
[41] Ibid.
[42] Ibid.
[43] Ibid., Kapitel 1, 5, 7, S. 21.
[44] Ibid., Kapitel 1, 2, 6, S. 9.
[45] Ibid., Kapitel 1, 8, 3, S. 25.
[46] Ibid., Kapitel 1, 6, 3, S. 20 – „Wir haben uns alle vergangen.“.
[47] Cf. ibid.
[48] Ibid., Kapitel 1, 7, 3, S. 23.
[49] Ibid., Kapitel 1, 7, 4, S. 25.
[50] Cf. ibid., Kapitel 1, 24, 2, S. 65.
[51] Ibid.
[52] Machiavelli, Niccolò: „Il Principe“, Kapitel XVII, S. 129.
[53] Ibid., S. 131.
[54] Cf. ibid.