Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Blick auf die für madame de Rênals Geschichte und Entwicklung wichtigen Geschehnisse
Stendhals Lehre der cristallisation in der Liebe
Spiegelung seiner Theorie in der Entwicklung madame de Rênals
La naissance de l‘amour
Der Beginn der amour-passion
Weitere Entwicklungsschritte von madame de Rênal
Die erste Begegnung als Grundstein für die entstehende Liebe
Die irreversible Veränderung madame de Rênals Charakter
Der listige Plan
Die letzten Begegnungen der zwei Liebenden
Die Fremdbestimmtheit der madame de Rênal
Durch ihren Mann und später Julien
Durch die Gesellschaft
Durch die Religion
Der heuchlerische Plan und die Gefängnisepisode als Emanzipation?
Conclusion
Bibliografie
Einleitung
„L’auteur a su peindre avec simplicité l’amour tendre et naïf“[1].
Das ist Stendhals Einschätzung seines eigenen Werkes, die er in einem unveröffentlichten Artikel verfasst hat. Mir erscheint dies eine Untertreibung von Seiten Stendhals. Er sagt, er habe die Liebe mit Einfachheit beschrieben, doch der Verlauf der Liebe seiner beiden Heldinnen und der von Julien werden von einem heutigen Leser als sehr komplex empfunden und sind definitiv einer näheren Beleuchtung und Interpretation wert.
In dieser Arbeit geht es um die Entwicklung der madame de Rênal, insbesondere um die Entwicklung ihrer Liebe und den Aspekt der Fremd- beziehungsweise Selbstbestimmung.
Erster Blick auf die für madame de Rênals Geschichte und Entwicklung wichtigen Geschehnisse
Louise de Rênal wird dem Leser als zurückhaltende Frau des Bürgermeisters von Verrières vorgestellt. Ganz wie man es von einer Frau ihres Jahrhunderts erwartet hört sie ihrem Mann genau zu, sie hält seinen Arm und hat ein wachsames Auge auf die drei Kinder. Ihre „ voix douce “ (S.52) erhebt sich, wenn überhaupt, nur schüchtern. Der Leser lernt sie als typische Ehefrau und Mutter des 19. Jahrhunderts kennen: Sie ist ängstlich, sie bewundert ihren Mann und seine Entscheidungskraft, sie ist empfindsam und wird schnell blass. Zudem erfährt man, dass madame de Rênal eines Tages ein reiches Erbe zusteht. Kurz darauf folgt dann die explizite Charakterisierung durch den Erzähler:
„Elle avait un certain air de simplicité […] [une] grâce naïve, pleine d’innocence et de vivacité […]“, „ni la coquetterie, ni l’affectation n’avaient jamais approché de ce cœur“(S.58).
Erneut wird sie als schüchtern und sogar töricht beschrieben. („ Elle passait pour sotte “ S.58). Bis zum 6. Kapitel, in welchem Julien sich bei der Familie Rênal als der neue Hauslehrer vorstellt, bleibt madame de Rênal im Hintergrund, wird nur indirekt beschrieben und äußert nur vier kurze Sätze. Nun erst wird madame de Rênal zur eigenständig handelnden Person. Nachdem sie erfahren hat, wer Julien ist und sich mehrmals vergewissert hat, dass er nett zu ihren Kindern sein wird, bittet sie ihn herein und unterhält sich kurz mit ihm. Julien, hingerissen von der Schönheit der madame de Rênal, lässt sich zu einem Handkuss hinreißen, der seine neue Herrin überrascht, schockiert und sich nach einigen Augenblicken über sich selbst ärgern lässt („ Il lui sembla qu’elle n’avait pas été assez rapidement indignée “ S. 79). Nachdem ihr anfänglicher Ärger gegen Julien verflogen ist, macht sich ein neues Gefühl bei ihr breit: das Mitleid. Sie möchte ihm Geschenke machen, wird jedoch von ihrem Mann brüsk zurückgewiesen, als sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet. Kurz nach Juliens Ankunft im Hause Rênal wird von der Vergangenheit madame de Rênals erzählt: Sie wurde von Nonnen im Kloster Sacré-Coeur aufgezogen, hat keine Bildung genießen dürfen, hat „ aucune expérience de vie “ (S.86) und glaubt, dass alle Männer die gleichen Charaktereigenschaften wie ihr Mann oder M. Valenod: Grobheit, Empfindungslosigkeit gegenüber jedem Thema, welches nicht mit Geld oder Religion zu tun hat, und der blinde Hass gegen jeglichen Gedankengang, der ihnen widerspricht (S.87). Aufgrund ihrer Erfahrungen mit männlichen Denk- und Verhaltensweisen bewundert sie den jungen précepteur Julien umso mehr, es scheint ihr, als ob „ la générosité, la noblesse d’âme [et] l’humanité “ (S.88) nur bei ihm existierten. Sie empfindet große Sympathie für Julien, bemitleidet aber weiterhin seine Armut, die sie oftmals zu Tränen rührt. Nach und nach nähert sie sich ihm an und nennt ihn eines Tages „ mon ami “ (S.89), ein Wort, mit dem sie gewöhnlich nur ihren Mann anspricht. Nachdem Julien ihr Geldangebot für neue Wäsche ausgeschlagen hat, ist sie zunächst am Boden zerstört („ presque évanouie de douleur “ (S.91), doch sie sammelt sich und wird nun zum ersten Mal mit einer starken Eigenschaft beschrieben, die sich vollkommen von ihrer gewohnten Schüchternheit abhebt: Mut („ avec un accent de courage que Julien ne lui avait jamais vu“, S.91). Einige Seiten später fällt zum ersten Mal in Stendhals Roman das Wort Liebe: „Mme de Rênal [...] n’avait de sa vie éprouvé ni vue rien qui ressemblât le moins du monde à l’ amour “ (S.95).
Madame de Rênal erfährt, dass ihre Zofe Élisa Julien zum Mann nehmen will. Plötzlich glaubt sie, sie würde verrückt, leidet und wird schließlich krank. Am selben Abend erzählt ihr Élisa, dass Julien sie abgewiesen hat und madame de Rênal fühlt sich überflutet von einem ungeahnten Glücksgefühl
„L’excès du bonheur lui avait presque ôté l’usage de la raison“ (S.99), „Elle ne put résister au torrent de bonheur qui inondait son âme après tant de jours de désespoir“ (S. 100).
Beinahe im selben Augenblick stellt sie sich die unausweichliche Frage „ Aurais-je de l’amour pour Julien?“ (S.100). Sie beginnt viel Zeit mit Julien zu verbringen, vergisst während der glücklich mit Julien verbrachten Stunden und Tage ihren Mann („ elle avait oublié son existence “ S. 102) und gibt sich außerordentlich viel Mühe mit ihrer Garderobe. Während sie als verheiratete Frau sich ihrer Zuneigung schon bewusst ist, empfindet Julien noch keine Liebe für sie. Dennoch nimmt Julien eines Abend die Hand von madame de Rênal, besessen von der Idee, dass er diese Hand in der seinen halten muss, um seiner niedrigen sozialen Stellung zu trotzen. Während er rundum glücklich ist, die Hand nach einigen Rückzugsversuchen in der seinen zu halten, ist madame de Rênal so aufgewühlt, dass ihre Freundin madame de Derville sie krank glaubt. Doch diese Bewegtheit dauert nicht lange an, bald schon empfindet sie Freude und lässt sich von dem neuen Gefühl der Liebe tragen ohne darüber nachzudenken („ Mme de Rênal, transportée du bonheur d’aimer, était tellement ignorante, qu’elle ne se faisait aucun reproche“ S.109). Sie beginnt, ihren Mann nicht mehr gedankenlos zu bewundern, sondern ihn und seine Handlungen kritisch zu betrachten, empfindet zum ersten Mal bewusst Eifersucht („… madame de Rênal était en proie à toutes les horreurs de la jalousie “ S.114) und gesteht sich kurz darauf zum ersten Mal ein, dass sie Julien wirklich liebt (S.122). Sie denkt lange über ihre Liebe zu Julien und die Beziehung zu ihrem Mann nach und es scheint ihr, als hätte sie bis zu diesem Augenblick nicht gelebt (S.123). Während dieser Reflexion über ihre derzeitige Situation kommt ihr plötzlich ein schreckliches Wort in den Sinn: Ehebruch. Sie durchlebt völlig neue Gefühle („son âme arrivait dans des pays inconnus“ S.124) und beschließt schließlich Julien mit Kälte entgegenzutreten, wenn sie ihn das nächste Mal sehen wird (S.125).
Als Julien einige Tage verreist, erkrankt madame de Rênal erneut und erlebt nach seiner Rückkehr ein Auf und Ab der Gefühle, bis sie schließlich beschließt: „ Jamais je n’accorderai rien à Julien “ (S.140), sie würden nur Freunde bleiben. Nach und nach schlüpft Julien in die Rolle des Verführers, jedoch noch ohne ein Gefühl der Liebe für madame de Rênal. Als der Hauslehrer seine Ankündigung, sie nachts zu besuchen, wahr macht, schafft es die Liebende nach kurzem innerem Kampf, sich ihm zu verweigern („ elle repoussait Julien loin d’elle, avec une indignation réelle, et ensuite se jetait dans ses bras “ S.147).
Mit der geheimen, nun ausgelebten Liebschaft beginnt madame de Rênal unter Gewissensbissen zu leiden („ … et ses combats avec les remords […] la déchiraient “ S. 148) und zweifelt daran, dass Julien sie, eine um 10 Jahre ältere Frau, wirklich liebt. Schnell verdrängen ihre Sorgen um Juliens Liebe zu ihr die Gewissensbisse aus ihren Gedanken („ ses inquiétudes lui ôtaient presque tout à fait ses remords envers son mari “ S. 149) und auch die Trauer über die Abreise ihrer Freundin madame de Derville ist nicht von Dauer; schnell freut sich madame de Rênal nun beinahe den ganzen Tag mit ihrem Geliebten verbringen zu können.
Als der Besuch des Königs ansteht, bemüht sich madame de Rênal für Julien einen Platz als Reiter in der garde d‘honneur zu reservieren, sie wünscht sich, ihn einmal außerhalb seiner schwarzen Lehrerkleidung zu sehen und möchte ihn und die ganze Stadt überraschen. Das Gefühl von Glück und Stolz, Julien in der Ehrenlegion reiten zu sehen, wird von ersten wahren und schwerwiegenden Gewissensbissen abgelöst, als ihr jüngster Sohn Stanislas-Xavier krank wird. „ Tout à coup madame de Rênal tomba dans des remords affreux “(S.177). Nun wird sie sich der Größe ihres Vergehens in den Augen Gottes bewusst, sieht in den Worten Juliens, der sie zu beruhigen versucht, die Sprache der Hölle und beginnt unter Schlaflosigkeit zu leiden. Sie glaubt, sie müsse entweder Julien hassen oder ihr Kind werde sterben und da sie sich außerstande sieht, ihren Liebhaber zu hassen ist sie untröstlich und sagt bezogen auf ihren Sohn: „ aux yeux de Dieu, je suis coupable de meurtre “ (S.179). Sie kann ihre Liebe zu Julien nicht unterdrücken und erwägt ernsthaft, ihren Ehebruch öffentlich zuzugeben, um ihren Sohn zu retten. Obgleich Julien es schafft, sie davon abzuhalten, ist ihr Leben weiterhin von Gewissensbissen und Angst vor der Strafe Gottes geprägt:
„Les remords restèrent […]. Sa vie fut le ciel et l’enfer: l’enfer quand elle ne voyait Julien, le ciel quand elle était à ses pieds“ (S.182).
Während das Leben der zwei Liebenden zwischen Schuldgefühlen, Liebe und Lust dahinfliegt, unterhält sich Élisa des Öfteren mit M.Valenod. Dieser fühlt sich in seiner Selbstachtung zutiefst gekränkt, da er selber madame de Rênal sechs Jahre lang ohne Erfolg umworben hat („ cette femme si fière […] venait de prendre pour amant un petit ouvrier déguisé en précepteur “ S.185) und schreibt M. de Rênal daraufhin einen anonymen Brief, in welchem er madame de Rênal des Ehebruchs bezichtigt.
Julien schlägt vor, sich in jener Nacht nicht zu treffen, da er glaubt, M. de Rênal habe durch den Brief, den er seufzend gelesen hat, etwas über ihre Liebschaft erfahren. Seine Geliebte jedoch verliert völlig den Kopf, als Julien ihr nicht die Tür öffnet, als sie zur gewohnten Zeit zu seinem Zimmer kommt, und schreibt ihm einen langen Brief. In diesem zweifelt sie zu Beginn an der Aufrichtigkeit von Juliens Liebe, doch trotz ihres aufgewühlten Zustandes und der Ruhelosigkeit ihrer Gedanken schmiedet sie einen hinterlistigen Plan: Sie wird einen anonymen Brief vortäuschen, um ihren Mann von der Belanglosigkeit und Falschheit der Anschuldigungen zu überzeugen. Mit dieser List zeigt madame de Rênal plötzlich völlig neue Eigenschaften: Sie scheint berechnend und kaltblütig. Als er seine Geliebte nun verändert sieht, ist Julien sehr stolz auf sie, vielleicht hatte sie ihm nie mehr gefallen
„Est-ce là cette femme que le remords rendait si folle? Pensa-t-il. Quels sont ses projets en ce moment? Il était trop fier pour le lui demander; mais, jamais peut-être, elle ne lui avait plu davantage“ (S.191).
Durch all die plötzliche Aufregung in ihrem Leben wird madame de Rênal von wilden und überspannten Fantasien verfolgt:
„Elle se figurait sans cesse son mari tuant Julien à la chasse, comme par accident, et ensuite le soir lui faisant manger son cœur“ (S.197)
und hat Angst vor der Konfrontation mit ihrem Mann. „ Grand Dieu! Il me faut du talent, du sang-froid; où les prendre ?“ (S.197). Mit Freude und Bewunderung bemerkt sie, dass Julien mit seiner Vermutung Recht hatte, führt ihre List kaltblütig aus und lobt sich selbst für ihre Vorgehensweise. Sie ist überglücklich, als sie sich sicher ist, dass ihr Plan aufgeht („ Elle était la plus heureuse des femmes “, S.201) und verspricht Julien lächelnd ihm in dieser Nacht von den Einzelheiten zu berichten („ Perversité de femme! pensa Julien. Quel plaisir, quel instinct les porte à nous tromper! “, S.206). Obwohl die „ bataille “ (S.203) zunächst gewonnen scheint, ist madame de Rênal nicht dauerhaft überzeugt vom positiven Ausgang ihrer Liebesbeziehung zu Julien und fühlt sich in einigen seltenen Momenten außerstande, ihren Ehebruch ihrem Mann gegenüber abzustreiten (S.218). Im Laufe all dieser Geschehnisse macht sie eine eindeutige Wandlung von einer zurückhaltenden Dame höheren Standes zu einer leidenschaftlichen Liebenden durch („ Mais ce n’était plus cette femme simple et timide de l’année précédente, sa fatale passion […] l’avaient éclairée “, S.233), eine Entwicklung, welche ich im Folgenden noch genauer untersuchen werde.
Es wird entschieden, dass Julien in ein Priesterseminar nach Besançon gehen soll. Bei ihrem letzten Treffen ist madame de Rênal untröstlich über die bevorstehende „ séparation éternelle “ und wünscht sich ihren baldigen Tod. Nach Juliens Abreise nimmt madame Derville ihre Freundin unter ihre Fittiche und lässt Louise ihre Tat tief bereuen. Dennoch kann sie letztere nicht daran hindern, an Julien zu denken. Als Julien madame de Rênal einen nächtlichen Besuch abstattet, zeigt sie Reue: „ Je me repens de mon crime“, „Dieu […] voit l’affreuse scène que vous me faites et […] m’en punira “(S. 307). Während ihrer Unterhaltung, die von ihrer Seite aus so kaltherzig begonnen hatte, nähern sie sich langsam einander an („ ils étaient revenus à celui d’une tendre amitié “ S.310), entfernen sich aber in einem Moment wieder von einander. Doch im Augenblick, in welchem Julien das Zimmer verlassen will, wirft sich madame de Rênal in seine Arme und kann dem Gefühl der Liebe nicht länger standhalten. „ Quelle honte! se disait madame de Rênal “ (S.313) und gibt sogar Juliens Bitte nach, noch einen Tag bei ihr verbringen zu dürfen. Juliens ist überrascht über die plötzliche Beschwingtheit seiner Partnerin und seine Gefühl verstärkt sich noch durch ihre offenen Liebesbezeugungen: „ Oui mon ange, dit madame de Rênal en lui donnant un baiser “ (S.314); „ Femme vraiment supérieure! […] Julien était ravi “ (S. 314). Die Hausherrin lebt nur noch für diesen Tag mit Julien und möchte ihn so intensiv wie möglich genießen; es ist ihr gleichgültig, was nach seiner Abreise mit ihr geschieht, schließlich wird für sie dann alles nur noch aus entsetzlichen Schuldgefühlen bestehen wird: „ Je ne crains qu’une chose, c’est le moment où je serai seule après ton départ“ (S.316). Abends möchte sich ihr Mann gewaltsam Eintritt in das Zimmer der Liebenden verschaffen, Julien muss fliehen und M. de Rênal kann erneut nichts weiter tun als Vermutungen über die Treue beziehungsweise Untreue seiner Frau anstellen.
Es folgt für Julien die Zeit im Priesterseminar von Besançon und darauf in Paris, die Liebschaft mit Mademoiselle de la Mole, Julien soll daraufhin in den Adelsstand erhoben werden und Mademoiselle de la Mole heiraten. madame de Rênal erfährt davon und schickt dem Vater der zukünftigen Braut einen Brief, in welchem sie Julien anklagt, er würde sich seine Stellung in der Gesellschaft durch die Verführung schwacher Frauen verschaffen („ ses moyens pour réussir dans une maison, est de chercher à séduire la femme qui a le principal crédit “, S.590). Der zunächst aufgebrachte, doch kurz darauf sehr ruhige Julien fährt nach Verrières, kauft sich eine Pistole und schießt in der Kirche zwei Mal auf die betende madame de Rênal. Als diese von ihrem Arzt erfährt, dass sie nicht lebensgefährlich verletzt ist, ist sie verzweifelt, „ elle désirait sincèrement la mort […] et mourir de la main de Julien, c’est le comble des félicités “ (S.593). Nach ihrer Genesung und seiner Verurteilung zum Tode geht madame de Rênal Julien im Gefängnis besuchen. Er ist voller Reue und Liebe, sie voller Angst um ihn und verlangt von ihm, er solle Berufung gegen sein Todesurteil einlegen. Sie erzählt ihm, dass sie gezwungen wurde den folgenschweren Brief zu schreiben und die beiden Liebenden verzeihen sich sofort ihre Vergehen am Anderen. Mit einer entsprechenden Summe Geld erwirkt madame de Rênal sich das Recht, Julien bis zur Vollstreckung zwei Mal täglich sehen zu dürfen.
Drei Tage nach Juliens Hinrichtung stirbt madame de Rênal in den Armen ihrer Kinder.
Stendhals Lehre der cristallisation in der Liebe
Stendhal veröffentlichte 1822 das Werk „ De l’amour “, eine Abhandlung über die Liebe, die aus mehreren Fragmenten, Geschichten und Erklärungen zum Thema Liebe besteht. Im zweiten Kapitel nennt und erläutert er die sieben Schritte der „ naissance de l’amour “, die ich im Text zu finden versuchte:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auch wenn man im Verlauf der Liebe madame de Rênals nicht exakt jeden Schritt und die Etappen nicht in dieser Reihenfolge erkennen kann, so findet man dennoch Parallelen und Übereinstimmungen mit seinen in „ De l’amour “ vorgetragenen Theorien. Vor allem der Vorgang der Kristallisation ist ein wichtiges Merkmal, um den Beginn von Louises Liebe zu beschreiben und zu verstehen.
„Ce que j’appelle cristallisation, c’est l’opération de l’esprit, qui tire de tout ce qui se présente la découverte que l’objet aimé a de nouvelles perfections. […] Ce phénomène, que je me permets d’appeler la cristallisation vient de la nature qui nous commande d’avoir du plaisir et qui nous envoie le sang au cerveau, du sentiment que les plaisirs augmentent avec les perfections de l’objet aimée…“[2].
Unter Kristallisation versteht Stendhal also den Prozess, in welchem der Liebende sich seiner Liebe nach und nach bewusst wird, bis er sich ihrer sicher ist. Genau diesen Vorgang kann man in der Entwicklung der madame de Rênal beobachten und auch die Einteilung Stendhals in eine erste und eine zweite, heftigere, Kristallisation stimmt mit dem Ablauf madame de Rênals Gefühlen überein. Doch ich möchte chronologisch bei der Beschreibung der Liebe in madame de Rênals Leben vorgehen.
[...]
[1] Aus „Projet d’article de Stendhal“
[2] Stendhal: De l’amour, S. 31