Iphigenie war die jüngste Tochter von Agamemnon und Klytaimnestras. Als seine Flotte auf
dem Weg nach Troja festsaß, wurde Agamemnon durch einen Wahrsager mitgeteilt, dass nur
die Opferung seiner schönsten Tochter zu Ehren der Göttin Artemis ihn retten könne.
Agamemnon ist dazu bereit, lockt seine Tochter unter dem Vorwand einer Heirat zu seiner
Frau. Doch Iphigenie wird, schon auf dem Opferaltar befindlich, von der Göttin Artemis
selbst gerettet, indem sie sie gegen ein Reh eintauscht. Iphigenie wird zur Priesterin von
Artemis, man sagt ihr Unsterblichkeit nach.
Yakup Kadri Karaosmanoglu sieht Feride der Figur der Iphigenie sehr nahe, „b eide
verkörpern Würde, Tugend, Moral und Charakter. (…) Beide sind in ihrer Makellosigkeit
Opfer blinden Aberglaubens, Unwissenheit und herzlosen Egoismus.“1
Durch diese Bewertung ermöglicht Karaosmanoglu einen Blick auf den Roman Çalikusu2, der
bisher von den Kritikern eher vernachlässigt wurde, denn „in der türkischen Literaturkritik
wurde dieser Roman gerne als dem leichten Genre zugehörig und als sentimental eingestuft.“3
Vornehmlich wurde die Geschichte als Liebesgeschichte, vielleicht als Abenteuerroman
aufgenommen, dessen bemerkenswertestes Merkmal darin besteht, eine Frau als Heldin zu
haben. Eine Kritik an der Frauenrolle wird ihm damit zugestanden, doch vielleicht das
wichtigste Thema des Roman wurde lange an den Rand gedrängt: Der Konflikt zwischen
Individuum und Gesellschaft, denn Feride steht „von Anfang bis Ende im Mittelpunkt der
Handlung und Çalikusu (ist) allein Ferides Roman“4
Überspitzt kann man sagen, dass es scheint, als wäre die Liebesgeschichte nur dekorative
Ausschmückung einer weit ausholenden Gesellschaftskritik. Iphigenie wird für die
Gesellschaft geopfert, Feride von ihr, Iphigenies Opferung bringt Errettung, Ferides
niemandem Nutzen. [...]
1 Beatrix Caner, Türkische Literatur: Klassiker der Moderne, Hildesheim 1998, S. 267
2 da mit dem türkischen Original gearbeitet wurde, wird sich auf das Buch immer mit diesem Titel, nicht mit der
Übersetzung als „Der Zaunkönig“ bezogen, d.h. Resat Nuri Güntekin, Çalikusu, Inkilâp Kitabevi Istanbul, 52.
Baski
3 Klassiker der Moderne, S. 263
4 Stephan Guth, Brückenschläge, Eine integrierte „turkoarabische“ Romangeschichte, Wiesbaden 2003, S. 52
Inhaltsverzeichnis
- 1. Feride- Iphigenie oder verschmähte Geliebte?
- 2. Zu Autor und Werk
- 2.1 Çalikusu
- 3. Zur Sprache und Zeit
- 4. Çalikusu eine Gesellschaftskritik
- 4.1 Die starre Bürokratie
- 4.2 Ein Blick auf die Reichen
- 4.3 Aberglaube und Angst – Schulbildung auf dem Lande
- 4.4 Das große Herz Anatoliens: Armut und Romantisierung
- 5. Frauenleben und Geschlechtermoral
- 5.1 Eigene Weiblichkeitsvorstellungen
- 5.2 Rigide Sexualmoral
- 5.3 Vielehe und Gewalt: Frauenschicksale
- 5.3.1 Geduldete Schläge
- 5.3.2 Der Ausschluss aus der Gesellschaft
- 6. Iphigenie und Doktor Hayrullah
- 7. Feride, eine Neue Frau?
- 8. Versuch eines Fazits
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Resat Nuri Güntekins Roman „Çalikusu“ und dessen Gesellschaftskritik. Im Fokus steht die Analyse der Rolle Ferides und deren Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen des frühen 20. Jahrhunderts in der Türkei. Die Arbeit beleuchtet Güntekins Darstellung von Bürokratie, Ungleichheit und der Stellung der Frau in der anatolischen Gesellschaft.
- Ferides Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen
- Kritik an der türkischen Bürokratie und dem Bildungssystem
- Darstellung von Armut und Aberglaube in Anatolien
- Analyse der Geschlechterrollen und der Frauenmoral
- Güntekins Vision einer besseren Gesellschaft
Zusammenfassung der Kapitel
1. Feride- Iphigenie oder verschmähte Geliebte?: Dieses einleitende Kapitel vergleicht Feride, die Protagonistin von „Çalikusu“, mit der griechischen Mythologiefigur Iphigenie. Es wird die These aufgestellt, dass beide Figuren Opfer gesellschaftlicher Normen sind, wobei Iphigenies Opferung zu ihrer Errettung führt, während Ferides Leid ohne Erlösung bleibt. Dieser Vergleich dient als Ausgangspunkt für die Analyse des Romans und seiner Gesellschaftskritik, indem er aufzeigt, wie Ferides Geschichte die Unbarmherzigkeit einer Gesellschaft offenbart, die individuelle Selbstbestimmung verhindert.
2. Zu Autor und Werk: Dieses Kapitel skizziert Leben und Werk von Resat Nuri Güntekin, einem wichtigen Vertreter der türkischen Nationalliteratur. Es beleuchtet Güntekins Erfahrungen im Bildungssystem und seine Tätigkeit als Inspektor des Nationalen Bildungsrates und UNESCO-Vertreter, die seine schriftstellerische Arbeit maßgeblich beeinflussten. Es wird hervorgehoben, wie Güntekin das anatolische Leben als Hintergrund nutzt, um soziale und politische Missstände zu offenbaren, ein Vorgehen, das im Roman „Çalikusu“ besonders deutlich wird.
2.1 Çalikusu: Dieses Kapitel stellt Güntekins Roman „Çalikusu“ vor und beschreibt ihn als Abenteuer- und Entwicklungsroman, in dessen Zentrum Ferides Reifeprozess und ihre Reise steht. Es wird Ferides privilegierte Stellung durch ihre Ausbildung in einem französischen Internat betont, im Kontrast zur damaligen Situation vieler Frauen. Der Spitzname „Çalikusu“ (Zaunkönig) und seine Bedeutung für Ferides Charakter werden ebenfalls erläutert.
4. Çalikusu eine Gesellschaftskritik: Dieses Kapitel analysiert die Gesellschaftskritik in „Çalikusu“. Es zeigt, wie Güntekin die starre Bürokratie, die mangelhafte Bildung insbesondere im ländlichen Raum, den Aberglauben und die rigide Moral der Gesellschaft darstellt. Die Unterdrückung von Frauen wird als zentrales Thema hervorgehoben und anhand verschiedener Beispiele im Roman erläutert.
5. Frauenleben und Geschlechtermoral: Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Darstellung von Frauenleben und Geschlechtermoral im Roman. Es analysiert Ferides eigene Vorstellungen von Weiblichkeit im Kontext der rigiden Sexualmoral der Zeit und zeigt anhand von Beispielen wie Vielehe und Gewalt die schwierigen Schicksale von Frauen auf. Die Unterabschnitte 5.3.1 und 5.3.2 vertiefen die Aspekte von Gewalt und sozialer Ausgrenzung.
6. Iphigenie und Doktor Hayrullah: Dieses Kapitel setzt den Vergleich zwischen Feride und Iphigenie fort und führt die Figur des Doktor Hayrullah ein, der als Repräsentant einer besseren, durch Bildung geprägten Gesellschaft gesehen werden kann. Die Gegenüberstellung dieser beiden Figuren unterstreicht den Konflikt zwischen traditioneller und moderner Denkweise.
Schlüsselwörter
Çalikusu, Resat Nuri Güntekin, Feride, Gesellschaftskritik, Anatolien, Frauenrolle, Geschlechtermoral, Bildung, Bürokratie, Armut, Aberglaube, Iphigenie, Doktor Hayrullah, Türkische Literatur.
Häufig gestellte Fragen zu „Çalikusu“ von Resat Nuri Güntekin
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert Resat Nuri Güntekins Roman „Çalikusu“ mit Fokus auf seine Gesellschaftskritik und die Rolle der Protagonistin Feride im Kontext der gesellschaftlichen Normen der frühen Türkei des 20. Jahrhunderts. Die Analyse beleuchtet Güntekins Darstellung von Bürokratie, Ungleichheit und der Stellung der Frau in der anatolischen Gesellschaft.
Welche Themenschwerpunkte werden behandelt?
Die Arbeit untersucht Ferides Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen, die Kritik an der türkischen Bürokratie und dem Bildungssystem, die Darstellung von Armut und Aberglauben in Anatolien, die Analyse der Geschlechterrollen und der Frauenmoral sowie Güntekins Vision einer besseren Gesellschaft.
Wie wird Feride charakterisiert?
Feride wird im einleitenden Kapitel mit Iphigenie aus der griechischen Mythologie verglichen, um ihren Konflikt mit gesellschaftlichen Normen zu verdeutlichen. Sie wird als Opfer gesellschaftlicher Zwänge dargestellt, deren Leid im Gegensatz zu Iphigenies Erlösung ohne Erlösung bleibt. Der Roman verfolgt ihren Reifeprozess und ihre Reise.
Welche Rolle spielt die Gesellschaftskritik in „Çalikusu“?
Der Roman übt scharfe Kritik an der starren Bürokratie, dem mangelnden Bildungssystem, insbesondere im ländlichen Raum, dem Aberglauben und der rigiden Moral der Gesellschaft. Die Unterdrückung von Frauen wird als zentrales Thema hervorgehoben.
Wie wird die Stellung der Frau in der anatolischen Gesellschaft dargestellt?
Die Arbeit analysiert Ferides eigene Vorstellungen von Weiblichkeit im Kontext der rigiden Sexualmoral der Zeit. Sie zeigt anhand von Beispielen wie Vielehe und Gewalt die schwierigen Schicksale von Frauen auf und vertieft Aspekte von Gewalt und sozialer Ausgrenzung.
Welche Bedeutung hat die Figur des Doktor Hayrullah?
Doktor Hayrullah repräsentiert eine bessere, durch Bildung geprägte Gesellschaft und wird im Vergleich zu Feride und Iphigenie gesetzt, um den Konflikt zwischen traditioneller und moderner Denkweise zu unterstreichen.
Wer ist Resat Nuri Güntekin und welche Bedeutung hat sein Werk?
Das Kapitel über Autor und Werk skizziert Güntekins Leben und Werk als wichtiger Vertreter der türkischen Nationalliteratur. Seine Erfahrungen im Bildungssystem und seine Tätigkeit als Inspektor des Nationalen Bildungsrates und UNESCO-Vertreter beeinflussten seine schriftstellerische Arbeit maßgeblich. Er nutzt das anatolische Leben als Hintergrund, um soziale und politische Missstände zu offenbaren.
Welche Schlüsselwörter beschreiben den Inhalt des Romans und der Analyse?
Schlüsselwörter sind: Çalikusu, Resat Nuri Güntekin, Feride, Gesellschaftskritik, Anatolien, Frauenrolle, Geschlechtermoral, Bildung, Bürokratie, Armut, Aberglaube, Iphigenie, Doktor Hayrullah, Türkische Literatur.
Gibt es eine Zusammenfassung der einzelnen Kapitel?
Ja, die Arbeit bietet Kapitelzusammenfassungen, die die zentralen Themen und Argumentationslinien jedes Kapitels detailliert beschreiben.
Für wen ist diese Arbeit bestimmt?
Diese Arbeit ist für akademische Zwecke konzipiert und richtet sich an Leser, die sich mit der türkischen Literatur, der Gesellschaftskritik und der Frauenrolle in der frühen Türkei des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen möchten.
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- Gesine Aufdermauer (Author), 2004, Ferides Kampf - Eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaftskritik in Resat Nuri Güntekins Roman "Calikusu", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29899