Zwischen Pflicht und Lust. Die erste erotische Szene Wolframs „Willehalm“ in Text und Bild


Seminararbeit, 2013

14 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Hauptteil: Die erste Liebeszene
2.1 Französische Quellen: Vergleich mit „Aliscans“
2.2 Balancierte Funktion
2.3 Die wechselseitige Gabe von Funktionen der Herrschaft in Orange und die katalysatorische Funktion der Vereinigung
2.4 Stilistische Funktion
2.5 Erotisches Grundmotiv

3. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Untersuchungsobjekt unserer Arbeit bildet die erste Liebeszene in Orange in Wolframs „Willehalm“. Der konkrete Untersuchungsgegenstand sind Probleme bei der Interpretation, die sich beim Leser, im Bezug auf die körperliche Vereinigung des Herrscherpaares, ergeben können.

Die vorliegende Studie leistet auf empirischer Basis einen Beitrag zur Analyse der äußerlichen Darstellungen der Themen des vorliegenden Werkes. Ausgangspunkt der Beobachtung war die heutzutage relativ ungewöhnliche Beziehung (Erkennungsszene) der Geliebten und der davon ausgehende Vergleich zur tragischen Handlung, was in diesem Zusammenhang sehr kontrastiv wirkt. Die Untersuchung soll ein klares Bild der tatsächlichen Präsenz der genau so gestalteten Episode im „Willehalm“ liefern.

Im Rahmen unserer Proseminararbeit haben wiruns zum Ziel gesetzt, einekurze objektive Darlegung der Szene zu geben, Wolframs Werk„Willehalm“ mit der Guillaumes Vorlage zu vergleichen und eine tiefere Analyse mittels Aufgliederungder Episode in kleine, aber relevante Themenblöcke durchzuführen, um am Ende der Arbeit die wichtigsten, Funktionen der ersten Beischlafszene nennen zu können. Dieser Zielsetzung entsprechend wurde diese Proseminararbeit konzipiert und gegliedert. Bei der Anordnung des Stoffes versuchtenwir die Komplexität des Themas und die vielseitigen Wechselbeziehungen zwischen seinen Komponenten zu veranschaulichen.

Die vorliegende Proseminararbeit gliedert sich insgesamt in drei Kapitel: eine Einleitung, einen Hauptteil und ein Fazit. Zum besseren Verständnis der Arbeit wurde der Hauptteil in weiterefünfUnterkapitelaufgeteilt.Diese Teilesind als eine theoretische Einführung in die Problematik zu verstehen. Das erste Kapitel befasst sich teilweise mit dem Vergleich mit der Vorlage von Wolframs „Willehalm“, das zweite Kapitel – mit der kontrastiv-balancierten Funktion der zu untersuchenden Episode, das dritteKapitel wird der wechselseitigen Gabe von Funktionen (bezüglich der Kemenatenszene) gewidmet, das vierte Kapitel enthält eine Untersuchung der stilistischen Besonderheiten und im fünften Kapitel wird schließlich das erotische Grundmotiv behandelt. In der hier vorliegenden Arbeit werden die theoretischen Kenntnisse im Bereich der literarischen Analyse des zu untersuchenden Werkes zusammengefasst. Das Schlusskapitel, bzw. unsere „Schlussfolgerung“, stellt in skizzierter Form die Ergebnisse unserer Untersuchungen dar.

Als kurze Anmerkung zur weiterfolgenden Analyse: Bilder von Handschriften wurden nicht berücksichtigt, weil es keine einzige Illustration (genauer Illuminationen) zur untersuchenden Episode gibt und eine Heranziehung von ähnlichen Szenen (mit anderen Helden) nicht als taugliches Mittel gesehenwurde.

2. Hauptteil: Die erste Liebeszene

Schon im Prolog erklärt uns der Erzähler, dass hier (im „Willehalm“) von minne und ander klage (Wh. 4, 26) gesprochen wird: Liebe und Leid sind allerdings klassische höfische Themen.1 Das Wort minne gehört zu den meist genannten Begriffen im Text, deshalb wurde als Motto für meine Proseminararbeit der gutgewählte Titel des Buches von Jutta Raab „Erotik und Sexualität in der mittelalterlichen Literatur: Zwischen Pflicht und Lust“ ausgewählt, um im weiterem diesen Zwischenbereich zu begründen (ergründen) und zu analysieren.

Um etwaige Verwirrungendiesen Abschnittbetreffend zu vermeiden, wurde die Handlung auf folgende Textpassagen (99, 15 – 103, 21) im II. Buch nach „Deutscher Klassiker Verlag“ eingeschränkt.

2.1 Französische Quellen: Vergleich mit „Aliscans“

Es ist schon bekannt, dass Wolframs „Willehalm“die Bearbeitung einer altfranzösischen chanson de geste, La Bataille dʼAliscans ist. Aber in den anschließenden chansons des Zyklusʼ hat die Geschichte um die Entführung von Orable durch Guillaume allerdings keine Bedeutung als Motivierung für die Kämpfe zwischen Christen und Heiden. In Wolframs Version dieser Geschichte ist das hingegen anders: Im „Willehalm“ wird die Liebe des Heldenpaares, die in der Vorlage eher nebensächlich war, zu einem Zentralthema der Dichtung gemacht.2 Jedoch kann der Vergleich der Vorlage mit der Dichtung Wolframs nicht immer zu einem sicheren Ergebnissen führen, da er unterschiedliche Elemente von verschiedenen Aliscans-Redaktionen, oder sogar von anderen chansons des Zyklus beinhaltet. Interessanterweise ist die erste Kemenatenszene, als auch die zweite, Wolframs ausschließliches Eigentum3, was diese Episode für uns noch interessanter macht, weil z.B. Giburg neben Willehalm in dieser neu geschaffenen Szene eigenes Gewicht gewinnt. Die bedeutendsten Veränderungen schließlich, betreffen nicht nur die Handlung, sondern ergeben sich auch aus der Neugestaltung der Erzählerrolle in Wolframs Dichtung.4

2.2 Balancierte Funktion

Kurz und objektiv kann man es folgenderweise beschreiben: Nach der ersten Erkennungsszene, in der die Sicherheit der Festung Orange offenkundig geworden ist, führt Giburg ihren Ehemann in eine Kemenate. Zuerst versorgt sie als heilkundige Frau seine Wunden, im Anschluss daran kommt es zur eigentlichen Liebesvereinigung der beiden Eheleute. Im Anschluß an diese Vereinigung schläft ihr Mann ein; Giburg hingegen betet und bittet Gott, ihr das Leben zu nehmen, da sie so viele Tote verursacht hat (100, 28ff.), und darüber hinaus beklagt sie auch die christlichen Gefallenen. Giburg sagt Willehalm, dass er seine Verwandten um Hilfe bitten soll (103,12ff).5 Die Heeresmacht der Heiden vor den Mauern der Festung ist gewaltig. Der Markgraf und die Königin befinden sich im herrschaftlichen Schlafgemach, gewissermaßen im Zentrum der Landesherrschaft über die Provence: „Die ganze architektonische Anlage [der Burg] war auf den Hausherrn und seine Familie zugeschnitten. Den Mittelpunkt bildete […] das herrschaftliche Schlafzimmer.“ Dieses Zentrum der Herrschaft ist unmittelbar von feindlicher Gewalt umgeben: „Die Vereinigung der Liebenden geschieht gleichsam über die tobenden Feinde hinweg […]“ Der feindlichen Gewalt wird von Wolfram die Friedlichkeit des markgräflichen Paares gegenübergestellt.6 Es ist klar, dass die zu untersuchende Kemenatenszene im Sinne der Einheitlichkeit mit dem übergeordneten kriegerischen Geschehen verbunden ist. Wolfram gestaltet bildhaft künstlerisch die ethische Forderung der Bereitschaft zu Freud und Leid, die einen wesentlichen Teil ihres Gehaltes ausmacht. Das Leid, das das Heldenpaar empfindet, ist groß, aber dafür ist die vreude (die erotische Belohnung, die Willehalm von Giburg bekommt) einzigartig in der Dichtung. Wolfram, der vom uneingeschränkten bonum der Geschlechterliebe überzeugt ist, hat die beiden großen Liebesszenen ohne Anregung durch die Vorlage geschaffen.7 Der Vollzug dieser minne kann den Schmerz vergelten, der durch den Tod der Verwandten Giburgs und Willehalms verursacht wurde, deshalb wirkt diese erotische Belohnung sehr stark.8 Ausgehend von der Kemenatenszene kann man sagen, dassWolfram mittels Kontrasts (einem Nebeneinander von minne und klage) eine ausgewogene Balance der Handlung schafft. J. Bumke schreibt hierzu: „Der Erzähler betont in dieser Liebesszene, dass die eheliche Liebe Willehalms und Gyburgs ein Gegengewicht zu den Leiden des Heidenkriegs bildet (und dass der Schmerz über den Tod zahlreicher Verwandten in der Umarmung der Ehefrau „aufgewogen“ wird)“ (Wh.100,20-23).

dar nâch diu küneginne dô pflac,

si dâhte an sîne arbeit

und an sîn siuftebaerez leit

und an sîn *unvuoge vlust.9

Für Thomas Grenzler bietet die Schilderung der Liebesszene eine Alternative zur ringsum herrschenden Feindseligkeit, allerdings müsste diese Alternative dann äußerst brüchig sein. Denn die Lage ist danach um nichts besser, lediglich die Verbindung zwischen Giburg und Willehalm ist gestärkt und die Geschlechterordnung (wieder) bestätigt.10

2.3 Die wechselseitige Gabe von Funktionen der Herrschaft in Orange und die katalysatorische Funktion der Vereinigung

Die vollkommene Vereinigung ihrer beiden Herzen, was einen Paradigmenwechsel darstellt, vollzieht sich während ihres Gesprächs in Zusammenhang mit Willehalms Rückkehr und der symbolisch aufgeladenen Liebesszene, was für das weitere Werk entscheidend sein wird. Nach Mergell wird folgerichtig festgestellt, dass unsere Haupthelden einen zweideutigen Charakter haben. Genau unsere Minne-Szene (und die ihrer vergleichbaren Szene im 5. Buch) wirken als Katalysator für die Darstellung des Charakterwechsels. Bei Giburg sind das zwei Rollen: die einer Königin, die kämpferisch und fast alleine Orange verteidigen muss, und die einer Ehefrau, die ihrem Mann die Liebe gewähren will. Ausgehend von der Charakterisierung Willehalms, muss Schröder aber eingestehen, dass bei ihm dieser Entwicklungsprozess „weniger klar erkennbar [wird]“.11 Weiter stellt Schröder fest, dass abwechselnd Sündhaftigkeit und wahres Erbarmen, Entschlossenheit und Unsicherheit gegenübergestellt werden.Die Minne, der wechselseitige Dienst Giburgs und Willehalms, vermag den „kumber“ auszugleichen, in dieser Kompensation besteht der „minne solt“. Das markgräfliche Paar hat sich mit seiner Minne die erlittenen Schäden wechselseitig ersetzt; diese Minne ist es wert, Schäden zu erleiden, die aus der um ihretwillen erfolgten Kollision mit anderen Herrschaften resultieren.12 Eine andere Sichtweise dafür ist, dass der wechselseitige „trôst“, die Hilfe des Ehepaares den „untrôst“, das Defizit der herrschaftlichen Gewalt kompensieren soll. Der Tausch der Herzen verschafft dem Tauschpartner die „tugent“, die er selbst aufgrund seiner sozialen Rolle nicht besitzt, die er aber benötigt, um sein Herrendasein trotz „untrôst“ aufrechthalten zu können. Die „tugent“ des Tauschpartners ist auch politisch funktional, die Minne / Erotik, die sich in dem Herzen Tausch manifestiert, ist auch ein politisch funktionales Austauschverhältnis herrschaftsdienlicher Leistungen – Herr und Herrin entäußern ihre normadäquaten Leistungen als Gabe an den Ehepartner. Ein bisschen früher, in der vorhergehenden (einführenden) Szene wurden diese wechselgebenden Fähigkeiten sehr deutlich dargestellt. Dass Giburg in einem primär männlichen Bereich aktiv wird, nimmt Willehalm durchaus wahr, und er versucht, das übliche Gleichgewicht der Kräfte zwischen Mann und Frau wiederherzustellen. Willehalms Kuss (als Element des Erotischen: 95, 3-8) bestätigt die heterosexuelle Ökonomie der Beziehung und bringt die geschlechtsspezifische Rollenverteilung wieder ins Lot.13 Als noch ein Beispiel dafür kann man nachfolgende Sätze von Miklautsch anführen, dass Willehalm durch Giburgs Tränen (die wiederum vom Beischlaf nicht trennbar sind, und die genau in dieser Szene erfolgt sind) wieder aufwacht…scheinbar ist er jetzt innerlich gestärkt und ist bereit, weiter zu agieren, was ihm bei der Ankunft in Orange fehlte.14 Das Erwachen des Markgrafen und der Versuch Giburg zu trösten wirkt nicht nur auf sie, sondern auch auf die Entwicklung der Handlung stabilisierend, was uns folgenderweise wieder zur Balancierung, als einer der Funktionen der zu untersuchenden Episode führt.15

[...]


1 Miklautsch, 1998, S. 237.

2 Vgl. Schröder, 1970, S. 199.

3 Vgl. Mergell, Bodo, 1936, S. 101.

4 Bumke, Joachim, 2004, S. 375-390.

5 Miklautsch, Lydia, 1998, S. 88.

6 Bumke, Joachim, 2002, S. 151.

7 Vgl. Ruh, 1980, S. 170.

8 Miklautsch, Lydia, 1998, S. 246.

9 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2009, 1287 S., V. 100, 20 – 23.

10 Slavik, Tamara, 2008, S. 267.

11 Schröder, Werner, 1962, S. 273.

12 Grenzler, Thomas, 1992, S. 89.

13 Vgl. Joung, Christopher, 2000, S. 42.

14 Vgl. Miklautsch, Lydia, 1998, S. 90.

15 Vgl. Joung, Christopher, 2000, S. 45.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Zwischen Pflicht und Lust. Die erste erotische Szene Wolframs „Willehalm“ in Text und Bild
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar: Ältere deutsche Literatur: Wolframs Willehalm in Text und Bild
Note
1
Autor
Jahr
2013
Seiten
14
Katalognummer
V299111
ISBN (eBook)
9783656956570
ISBN (Buch)
9783656956587
Dateigröße
544 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Ältere deutsche Literatur, "Willehalm", Giburg
Arbeit zitieren
Daniil Danilets (Autor:in), 2013, Zwischen Pflicht und Lust. Die erste erotische Szene Wolframs „Willehalm“ in Text und Bild, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299111

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