Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Skepsis bei Sextus Empiricus
2.1 Ziel
2.2 Methode
2.3 Kritik
3. Skepsis bei der GWUP
3.1 Ziel
3.2 Methode
3.3 Kritik
4. Vergleich beider Formen des Skeptizismus
4.1 Ziel
4.2 Methode
4.3 Kritik
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
Der Skeptizismus ist wohl eine der wenigen philosophischen Strömungen, die es in den Alltag der Moderne geschafft hat — zumindest der Begrifflichkeit nach. In dieser Arbeit wird die antike Konzeption des Skeptizismus bei PYRRHON VON ELIS, maßgeblich in der Form, wie er durch SEXTUS EMPIRICUS überliefert wird, einer modernen Skeptikerbewegung gegenübergestellt, die weltweit Anhänger findet. Diese Bewegung organisiert sich in überregionalen Organisationen, bei denen ich mich in erster Linie auf die im deutschsprachigen Raum aktive GWUP konzentrieren werde.
Dieses spezifische Thema macht einige Aspekte, die für eine ganzheitliche Beschreibung des Pyr- rhonismus essentiell sind, unnötig. Ebenfalls sind meinen Ausführungen enge Grenzen gesetzt, was die Textlänge betrifft. Aus diesem Grund werde ich insbesondere in Abschnitt 2, der sich mit Sextus’ Skeptizismus befasst, eigentlich zentrale Bereiche des Pyrrhonismus nur oberflächlich beleuchten.
Trotz erheblicher Bemühungen meinerseits, den Rahmen einer Hausarbeit nicht zu sprengen, ist mein Text länger ausgefallen als vorgesehen. Womöglich ist die Thematik zu breit gefasst, womöglich ist auch einfach die Begeisterung mit mir durchgegangen. Ich bitte dies zu entschuldigen und verwei- se, einige Aspekte vorwegnehmend, auf den wissenschaftlich-gründlichen Anspruch der GWUP und im Sinne Sextus’ auf die Unentscheidbarkeit der Tatsache, ob eine Hausarbeit standardmäßig zehn Sei- ten nicht überschreiten sollte.
2. Skepsis bei Sextus Empiricus
Der Versuch, an dieser Stelle einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Skeptizismus zu formulieren, muss aus Platzgründen scheitern. Ich werde mich daher auf einige schlaglichtartige Be- schreibungen beschränken, die für das weitere Verständnis meiner Ausführungen notwendig erschei- nen.
Der Skeptizismus lässt sich am ehesten als Gegenposition zum Dogmatismus (und gleichsam als dessen Folge) beschreiben. So leugnen Skeptiker jegliche Möglichkeit von sicherer Erkenntnis, selbst die Erkenntnis, dass eine solche nicht zu erreichen sei, wird weder verneint noch bejaht. Diese Haltung wird damit begründet, dass jedem Argument ein gleichwertiges, mit ihm unvereinbares Argument entgegengesetzt werden kann. Daraus resultiert eine globale Zurückhaltung (epoch é) in allen Belangen. Ich werde in Punkt 2.2 näher auf diese antike skeptische Methode eingehen.
Der erste überlieferte Verfechter des Skeptizismus ist PYRRHON VON ELIS (ca. 365-275 v. d. Z.), auch wenn skeptische Positionen wohl so alt sind wie die Philosophie selbst1. Der nach ihm benannte Pyrrhonismus wurde ein halbes Jahrtausend später von SEXTUS EMPIRICUS in dessen Werk „Grundriß der pyrrhonischen Skepsis2 “ ausführlich beschrieben. Pyrrhon selbst lehnte konsequenterweise das
Niederschreiben einer „Lehre“, die ja sofort unter den Verdacht des Dogmatismus gefallen wäre, ab3. So begreift sich der pyrrhonische Skeptizismus auch nicht als philosophische Schule mit einem Ka-talog an dogmatischen Lehrsätzen, wenngleich u. a. mit TIMON VON PHLIUS (ca. 325-235 v. d. Z.) ein Schüler Pyrrhons überliefert ist, der uns heute als wichtige Quelle über das Leben und Schaffen seines Lehrers dient. Ein Skeptiker in dieser frühen Bedeutung ist vielmehr jemand, der eine bestimmte Le-bensweise an den Tag legt und die Skepsis als Methode anwendet, ohne sie in verallgemeinerten Dog-men fassen zu können. David R. HILEY streicht diesen Aspekt in seinem Aufsatz „The Deep Challenge of Pyrrhonian Scepticism“ als unterscheidendes Merkmal zu anderen, früheren skeptischen Strömun-gen besonders heraus4. Offensichtlich schien der Versuch, die Wahrheit durch Anhäufung von Wissen zu ergründen und damit die vielbeschworene Glückseligkeit zu erlangen, gescheitert zu sein5. Waren Wissen und Tugend bis dato aufs Engste miteinander verbunden gewesen, beanspruchten nun auch die pyrrhonischen Skeptiker das ultimative Heil für sich und ihre Methode (vgl. Kapitel 2.1). Diese neue Haltung zum Wert der Erkenntnis lässt sich mit einem Zitat des in der Renaissance lebenden Skepti-kers Michel DE MONTAIGNE (1533-1592) verdeutlichen:
„ What good can we suppose it did Varro and Aristotle to know so many things? Did it exempt them from hu man discomforts? [...] Did they derive from logic some consolation for the gout [Gicht] ? 6 “
Dieses Zitat unterstreicht auch den ausgeprägten Sinn für Realität und Lebenspraxis, der schon in der pyrrhonischen Skepsis manifestiert ist. Mehr dazu findet sich im Kapitel 2.2.
Noch weniger als über Pyrrhon weiß man über Sextus Empiricus. Sein Beiname „Empiricus“ lässt auf einen medizinischen Hintergrund in Tradition der empirischen Ärzteschule schließen. Er war ver- mutlich griechischer Herkunft, lebte und schrieb aber im Römischen Reich. Ihm werden zusammen mit ÄNESIDEM VON KNOSSOS, AGRIPPA und MENODOT die in seinem Werk vorgestellten Tropen (s. Ka- pitel 2.2), also Formeln und Begründungen für die Gegenüberstellung einander widersprechender Aus- sagen, zugeschrieben (PS, S. 44). Obwohl Sextus zwar eine Beschreibung der pyrrhonischen Skepsis liefert, wird die Ablehnung eines philosophischen Selbstbilds durch Vermeidung philosophischer Fachsprache im „Grundriß“dennoch deutlich7. RICKEN spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entintellektualisierung des menschlichen Lebens“8.
2.1 Ziel
Angesichts der strikten Vermeidung jeglicher Dogmata sieht sich sowohl Sextus Empiricus als auch die Autorin dieser Zeilen mit der Notwendigkeit einiger sprachlicher Spitzfindigkeiten konfrontiert. So lässt sich selbstverständlich kein erklärtes Ziel der pyrrhonischen Skepsis nennen. Als Verfahrenswei- se ist sie Selbstzweck — und selbst das ist wohl zu dogmatisch formuliert. Dennoch spricht Sextus selbst davon, „was das Ziel der Skepsis ist“ (PS I25, S. 99), allerdings unter Vorbehalt: Schon im ersten Abschnitt des ersten Buches macht er deutlich, dass er in keinem Fall „[...] behaupte, daß es sich in jedem Fall so verhalte, wie [...] [er] sage“ und dass er nur in Anbetracht der Dinge, wie sie ihm im Moment des Schreibens erschienen, „erzählend berichte“ (PS I4, S. 93). Es erscheint den pyrrho- nischen Skeptikern also, als ob das Ziel der Skepsis „die Seelenruhe in den auf dogmatischem Glauben beruhenden Dingen und das maßvolle Leiden in den aufgezwungenen“ (PS I25, S. 100) sei. Darüber hinaus ist es nicht von vornherein die Absicht des Skeptikers, diese Zufriedenheit (ataraxie) zu errei- chen. Offiziell ist er ja ähnlich wie seine Gegner der Stoa auf der Suche nach Erkenntnis — nur dass diese Suche für den Skeptiker nie beendet sein wird, während die dogmatischen und akademischen Schulen als Ergebnis die Erkenntnisfähigkeit bejahen bzw. verneinen9. Diese „Ungestörtheit und Mee- resstille der Seele“ (PS I10, S. 95) folgt der Zurückhaltung „zufällig [...] wie der Schatten dem Kör- per“ (PS I29, S. 100) und definiert sich wie der gesamte Skeptizismus als Negativ des Dogmatis- mus. Denn im Gegensatz zum Skeptiker habe der Dogmatiker mit ungleich vielen Sorgen zu kämpfen:
„ Wer n ä mlich dogmatisch etwas f ü r gut oder ü bel von Natur h ä lt, wird fortw ä hrend beunruhigt: Besitzt er die vermeintlichen G ü ter nicht, glaubt er sich von den nat ü rlichen Ü beln heimgesucht und jagt nach den G ü - tern, wie er meint. Hat er diese erworben, ger ä t er in noch gr öß ere Sorgen, weil er sich wider alle Vernunft und ü ber alles Ma ß aufregt und aus Furcht vor dem Umschwung alles unternimmt, um die vermeintlichen G ü ter nicht zu verlieren. Wer jedoch hinsichtlich der nat ü rlichen G ü ter oder Ü bel keine bestimmten Ü berzeu- gungen hegt, der meidet oder verfolgt nichts mit Eifer, weshalb er Ruhe hat. “ (PS I [27-28], S. 100)
Da der Skeptiker (im übrigen wie der Stoiker und Epikureer auch) jene innere Ruhe mit Glück gleich- setzt10, ist der Skeptizismus in den Augen der Pyrrhoneer nicht weniger als eine Möglichkeit zum Er- reichen der Glückseligkeit. Wenngleich er dabei anders vorgeht als der Dogmatiker: „Der Skeptiker kann nicht durch Argumente zeigen, wie der Mensch zum Glück kommt; er kann den anderen ledig- lich zu einer Entdeckung führen und ihm zu einer Erfahrung verhelfen11 “. Entdeckung ist hier aber kei-8 ebd., S. 135.
nesfalls als „Erkenntnis“ zu verstehen, denn diese Absicht geht dem Skeptizismus vollkommen ab. Ri- cken spricht von einem psychologischen Effekt, der erzielt wird, indem „der andere den Eindruck gewinnt, mit seinen eigenen Überzeugungen sei etwas nicht in Ordnung.12 “. Der Skeptiker will also nicht von irgendetwas überzeugen, sondern das irritierende Moment auslösen, das zur Hinterfragung der eigenen Ansichten führt und im Idealfall in der Enthaltung endet.
Daran lässt sich auch ein weiteres Merkmal des Skeptizismus festmachen: Ein Skeptiker muss ei- nen aktiven Beitrag leisten, um seinem Namen gerecht zu werden. Es genügt nicht, philosophische Lehren zu verinnerlichen, denn als Form der Lebensführung13 benötigt der Skeptizismus fortwährende Praktizierung, um seine Wirkung zu entfalten. Der Zustand der ataraxie muss immer wieder aufs Neue herbeigeführt werden, indem durch Einsatz der Tropen eine Gleichwertigkeit verschiedener Argumen- te erzeugt wird.
Doch auch an dieser Stelle, wo der Pyrrhoneer in Form der „inneren Ruhe“ der Versuchung der ewigen philosophischen Ziele erliegt, bricht er mit dem Idealismus zugunsten eines realistischen Zuge- ständnisses: Selbst der konsequenteste Skeptiker wird niemals vollkommene Glückseligkeit erreichen können, denn auch er wird von jenen Unannehmlichkeiten geplagt, die das Menschsein mit sich bringt. Empfindungen wie Hunger, Durst oder Schmerz lassen sich auch durch Enthaltung kaum ver- meiden und trüben den inneren Frieden. Dennoch sieht sich der Pyrrhoneer im Vorteil, da er im Gegen- satz zum Dogmatiker in solchen „aufgezwungenen Dingen“ (PS, [III, 235], S. 287) nur „maßvoll lei- det“:
„ Denn als sinnlich empfindender Mensch leidet [...] [der Skeptiker] zwar, da er aber nicht noch obendrein glaubt, da ß das, was er erleidet, von Natur ü bel sei, so leidet er ma ß voll. Etwas Derartiges noch obendrein zu glauben ist n ä mlich noch schlimmer als das Leiden selbst, so da ß zuweilen Leute, die operiert werden [...] , es ertragen, w ä hrend die Umstehenden in Ohnmacht fallen wegen ihres Glaubens, da ß das Geschehnis etwas Schlechtes sei. “ (PS III236, S. 287)
Sextus unterscheidet also streng zwischen „spontanen, nichtvernünftigen, sinnlichen“ Dingen, die unvermeidlich sind, und solchen, die auf einem „Urteil oder einer Meinung“ beruhen14 und durch Zurückhaltung zu verhindern sind. Da jedoch auch in den ersteren Dingen das Leiden im Vergleich zum Dogmatiker geringer ausfällt, weil keinerlei Bewertung desselben stattfindet, und weil in den übrigen Dingen Leidensfreiheit prognostiziert wird, ist das Ziel der pyrrhonischen Skepsis trotz aller Einschränkungen als „Seelenruhe“ oder „Glückseligkeit“ zu definieren.
2.2 Methode
In den vorangegangenen Abschnitten wurde bereits die Betonung der Praxis, die charakteristisch für die pyrrhonische Skepsis ist, dargestellt. Der Skeptizismus wird in erster Linie als Lebensform verstan- den15, gar als Fähigkeit, die erlernbar ist (PS I9, S. 94): „An die Stelle der Theorie tritt das Leben
[...]“16. So wird der Skeptiker auch nicht mit philosophischen, mehr oder weniger abstrakten Lehrsät- zen ausstaffiert, er bekommt vielmehr Werkzeuge an die Hand, die ihm helfen sollen, in verschiedenen Situationen Dogmen zu relativieren. Diese Werkzeuge werden in Form von so genannten Tropen von Sextus zusammengefasst. Er stellt sie in vier Gruppen vor. Die ersten drei Gruppen (bestehend aus zehn, fünf bzw. zwei Tropen) umfassen die „Tropen der Zurückhaltung“ (PS I [36ff., 164ff., 178ff.], S. 102ff., S. 130ff., S. 133ff.), die vierte Gruppe trägt den Titel „Welches die Tropen zur Widerlegung der Ursachenforscher sind“ (PS I [180ff.], S. 133ff.) und enthält acht weitere, laut Sextus von ÄNESIDEM überlieferte Tropen, die sich speziell gegen die „dogmatische Ursachenlehre“ (ebd.) richten. Ich werde mich hier auf die Tropen der Zurückhaltung beschränken, zumal Sextus selbst einräumt, dass diese womöglich ausreichend seien, um dogmatische Argumente zu entkräften (PS I185, S. 134).
Allgemein lassen sich Tropen als Argumentationsfiguren bezeichnen. Tropos bedeutet so viel wie (sprachliche) „Wendung“17, es handelt sich also um Formulierungshilfen, die situativ eingesetzt das Ir- ritationsmoment auslösen und zur Isosthenie führen, also einem Gleichgewicht der Argumente. Aus der Isosthenie ergibt sich die Enthaltung eines Urteils und daraus letztlich die Ataraxie, die Seelenru- he. Die verschiedenen Tropen haben zum Teil repetitiven Charakter und für die weitere Argumentation wird eine detaillierte Betrachtung meines Erachtens auch nicht notwendig sein. Ich werde mich daher auf einige Beispiele beschränken.
Zusammenfassend soll zunächst so viel gesagt sein: Die ersten zehn Tropen berufen sich in verschiedenen Formen auf die Problematik von Außen- und Innenwelt18. Der Pyrrhoneer geht davon aus, dass die menschliche Wahrnehmung durch mannigfaltige Einflüsse verzerrt wird und uns das wahre Wesen der Dinge verschlossen bleibt. So nehmen Mensch und Tier die Umwelt sicherlich verschiedentlich wahr (vgl. PS I [40ff.], S. 103ff.) und nur ein Dogmatiker könnte die menschliche Sicht auf die Dinge als die „Wahre“ einstufen:
„ [...] [Ich habe] hinreichend gezeigt [...] , da ß wir unsere Vorstellungen nicht h ö her einsch ä tzen k ö nnen als die der vernunftlosen Tiere. Wenn aber die vernunftlosen Tiere f ü r die Beurteilung der Vorstellungen nicht unglaubw ü rdiger sind als wir [...] , dann werde ich zwar sagen k ö nnen, wie mir jeder der zugrundeliegenden Gegenst ä nde erscheint, wie er aber seiner Natur nach ist, dar ü ber werde ich mich [...] zur ü ckhalten m ü s- sen. “ (PS I78, S. 111)
Diese Unterschiede in der Wahrnehmung treten aber in begrenztem Maße auch innerhalb der Spezies Mensch auf. Sextus führt dazu zahllose Beispiele an, die von differierendem Wärme- bzw. Kälteemp- finden (vgl. PS I82, S. 112) über die Verträglichkeit giftiger Speisen (vgl. PS I83, ebd.) bis hin zu individuellen Wahnvorstellungen (vgl. PS I84, S. 113) reichen. RICKEN geht dennoch davon aus, dass Sextus eine gemeinsame Erscheinungswelt annimmt, sofern keine wie auch immer geartete Be- hinderung vorliegt19. Dies ist meiner Ansicht nach nur in Teilen korrekt, da in den Tropen beispielsweise auch ethnische Unterschiede berücksichtigt werden, die selbst in einer weniger aufgeklärten Gesellschaft20 wohl kaum mit gesundheitlichen Einschränkungen wie der Gelbsucht (vgl. PS I126, S. 122 u. ö.) gleichgesetzt werden dürften. Trotzdem ist anzunehmen, dass Sextus von einer hohen Deckungsgleichheit der verschiedenen Eindrücke ausgeht.
Der dritte Tropus behandelt die Verschiedenheit der Sinne. Sextus bringt das aus heutiger Sicht et- was naiv wirkende Beispiel des Gemäldes, das unserem Sehsinn dreidimensional erscheint, unserem Tastsinn hingegen zweidimensional (vgl. PS I92, S. 115). Doch genau darin liegt die Macht des skeptischen Gedankens: Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, indem eine von (vermeintlichem) Vorwissen unbelastete Perspektive auf die Welt eingenommen wird. Warum schenken wir dem Tast- sinn unser Vertrauen und nicht dem Sehsinn? Sextus müsste sich im angegebenen Beispiel zurückhal- ten und anerkennen, dass ihm das Gemälde sowohl zwei- als auch dreidimensional erscheint. Denn die Erscheinungen sind vom Zweifel ausgenommen — ich werde an späterer Stelle näher darauf eingehen.
SCHRAMM verdeutlicht den skeptischen Umgang mit scheinbaren Wahrheiten auf sehr anschauliche Weise, indem er einen Dogmatiker und einen Skeptiker einen fiktiven Dialog führen lässt. Der Skepti- ker zerpflückt die ihm präsentierten Dogmen mit großem Genuss, wie der folgend zitierte Absatz be- weist:
„ If we say ‘ There is a zebra ’ , then the claim is that there is an individual a which has the z-property [...] . But this is equivalent to the claim that a has the z-property if a is observed and also the z-property if a is not ob- served [...] . But all you can see is, that it has the z-property as far as you observe it , and it is impossible that you see that it has also the z-property if you don ’ t observe it. Thus, strictly speaking, you cannot really see that there is a zebra. What you can do is, at best, hypothesize that there is a zebra from the basis of your see- ing that there is an individual with the z-property as far as you observe . But such hypothesizing is no more than mere faith: you cannot from observation alone justify the extra content of your claim that a has also the z-property if you don ’ t observe it [...] . “ 21
Die zweite Tropus-Gruppe, bestehend aus fünf Tropen (PS I164, S. 130), ist deutlich abstrakter gehalten und formuliert ein Begründungstrilemma mit Einleitung und Schluss22. GABRIEL bringt sie in eine eigene (logische) Reihenfolge, in der ich sie hier kurz vorstellen werde23.
Zunächst treffen zwei dogmatische Positionen aufeinander (Tropus des Widerstreits). Beim vertei- digen der eigenen Meinung entsteht zwangsläufig eine Diallele24 (Tropus der Diallele) und schließlich ein infiniter Regress (Tropus des unendlichen Regresses), da der Eine die Argumente des Anderen immer wieder bestreiten wird. Um dem ein Ende zu setzen, wird eine Behauptung unbegründet als gesichert festgesetzt (Tropus der Voraussetzung). Daraus resultiert wiederum der Tropus der Relativität, da eine Argumentationskette stets nur auf der Basis einer letztlich unbegründbaren Anfangsthese funktioniert und somit relativ zur gesetzten Wahrheit ist.
Sextus Empiricus legt also ausführlich dar, dass unserer Wahrnehmung nicht zu trauen sei und bie- tet mit den Tropen genügend Rüstzeug, um jede dogmatische Behauptung zu entkräften. Und dennoch schränkt er seine „Außenweltskepsis“25 ein. So heißt es im „Grundriß“: „Wir halten uns also an die Er- scheinungen und leben undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung [...].“ (PS I23, S. 99). Tatsächlich ist dies der entscheidende Punkt: Nicht die Phänomene an sich werden bezweifelt, sondern lediglich ihre Aussagekraft bezüglich der Realität. In diesem Sinne ist der Ausdruck „undogmatisch“ im obigen Zitat ausschlaggebend. Der Pyrrhoneer nimmt die Empfindungen und Erscheinungen, mit denen er unweigerlich konfrontiert ist, hin, ohne jedoch dogmatische Urteile über ihren Wahrheitsge- halt oder ihre Natur zu fällen26. Dies ist ein geschickter Schachzug, der insbesondere für die Umsetz- barkeit des Pyrrhonismus bedeutend ist (siehe Kapitel 2.3). Denn „[...] daß ich mich so oder so fühle, brauche ich nicht zu begründen, und ich kann es nicht begründen; ich brauche und kann es nur äu- ßern.“27 In diesem Licht sind Empfindungen von sich aus ohnehin frei von Dogmen und können prob- lemlos geäußert werden, ohne mit dem Skeptizismus in Konflikt zu geraten.
Diese differenzierende Anwendung der Skepsis wird in der Literatur vielfach diskutiert. Im Kern geht es um die Zuordnung der Pyrrhoneer zum rustikalen oder zum urbanen Skeptizismus. „Rustikal“ lässt sich hierbei mit „radikal“, „urban“ mit „gemäßigt“ übersetzen. Zum einen ist die pyrrhonische Skepsis, wie sie von Sextus dargestellt wird, global, d. h. sie betrifft jede denkbare Aussage, jede scheinbare Tatsache. Alles wird als potenziell richtig und gleichzeitig als potenziell falsch eingestuft, sichere Erkenntnis scheint dem Pyrrhoneer unmöglich. Zum anderen akzeptiert Sextus alle privaten Eindrücke und Empfindungen als subjektiv wahr. Zumindest dieser Bereich ist vom Zweifel befreit. Aufgrund solch auf den ersten Blick widersprüchlicher Aussagen einigt man sich meist darauf, dass die pyrrhonische Skepsis sowohl rustikale als auch urbane Elemente enthält28. GABRIEL formuliert es wie folgt:
[...]
1 so finden sich z. B. auch bei XENOPHANES und natürlich SOKRATES schon skeptische Elemente.
2 SEXTUS EMPIRICUS: Grundri ß der pyrrhonischen Skepsis. Eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder, Frankfurt a. M. 1985 u. ö. Zur Entlastung der Fußnoten wird dieses Werk fortan mit dem Kürzel PS direkt im Text belegt.
3 vgl. Wolfgang RÖD (2009), S. 216.
4 “There had been no doubt about the possibility of sense knowledge long before Pyrrho, but it was Pyrrho and his followers who transformed doubts about the possibility of knowledge into a way of life. “ David R. Hiley (1987), S. 187.
5 vgl. ebd.
6 zitiert nach ebd., S. 198.
7 vgl. Friedo RICKEN (1994), S. 98.
9 Sextus nimmt diese Kategorisierung gleich zu Beginn des „Grundriß“ vor. Dogmatiker nennt er jene, die die Wahrheit glauben gefunden zu haben (dazu zählt er ARISTOTELES, EPIKUR und die Stoiker). Akademiker (KLEITOMACHOS und KARNEADES) verneinten hingegen die Möglichkeit der Erkenntnis, während Skeptiker sich noch auf der Suche befänden (vgl. PS I[2], S. 93).
10 vgl. Friedo RICKEN (1994), S. 101.
11 ebd., S. 102; siehe auch Kapitel 2.2: Pyrrhonische Skepsis als „Therapie“.
12 ebd., S. 109.
13 vgl. ebd.
14 vgl. ebd., S. 140f.
15 Sextus ist an dieser Stelle begrifflich ungenau, er spricht z. T. auch von der skeptischen „Philosophie“ (vgl. PS I [4, 5], S. 93).
16 vgl. Markus GABRIEL (2008), S. 76.
17 vgl. ebd., S. 60.
18 zur Diskussion über die Existenz einer Außenweltsproblematik im Pyrrhonismus vgl. ebd., S. 56ff.
19 vgl. Friedo RICKEN (1994), S. 129.
20 die Rolle von Rassismus in der Antike ist umstritten. Aristoteles rechtfertigt mit der Konstruktion eines unterlegenen Barbaren zumindest die Sklaverei (vgl. Joachim Ritter u. a.(1971-2007), S. 30240).
21 Alfred SCHRAMM (1991), S. 78.
22 vgl. Markus GABRIEL (2008), S. 62f.
23 vgl. ebd.
24 „Diallele [...] heißt die Zirkeldefinition, bei der das zu Definierende zur Definition verwendet wird; sie ist damit in der logischen Form dem «circulus vitiosus», dem Beweis durch das zu Beweisende selbst, gleich.“ (Joachim Ritter u. a.(1971-2007), S. 4230)
25 Markus GABRIEL (2008), S. 64.
26 SCHRAMM verwendet den Begriff „faith“, um den Stellenwert, der einer scheinbaren Wahrheit in den Augen der Pyrrhoneer zukommt, zu beschreiben — in meinen Augen eine interessante Wahl (vgl. Alfred SCHRAMM (1991), S. 73 u. ö.).
27 Friedo RICKEN (1994), S. 112.
28 vgl. Markus GABRIEL (2008), S. 67.