Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Faktoren der Bevölkerungsentwicklung und ihre Auswirkungen
2.1 Geburten- und Sterberate
2.2 Zu- und Fortzüge
3 Demografischer Diskurswandel
3.1 Die Malthusianische Theorie
3.2 Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik
3.3 Tabuisierung und Tabubruch
4 Der Umgang der Migrationsforschung mit demografischen Argumenten
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Schaubilder
Verzeichnis der Tabellen
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
Die Weltbevölkerung ist einer doppelten demografischen Entwicklung unterworfen: Während die Gesamtzahl der Menschen auf unserem Planeten seit den 50er-Jahren rapide ansteigt, stagniert bzw. sinkt die Bevölkerungszahl in den reichen Ländern der Erde. Die moderne Wohlstandsgesellschaft ist zunehmend von einer demografischen Alterung und Schrumpfung betroffen, die sich auch in Deutschland seit Jahrzehnten angekündigt hat. „Auf den »Baby-Boom« folgt der »Oma-Boom« […]“[1], umreißt Mark Hertsgaard diesen Prozess. Es handelt sich somit um einen Sachverhalt, der nicht nur die Größe der Weltbevölkerung und der Bevölkerungen der jeweiligen Länder betrifft, sondern ebenso deren Bevölkerungsstruktur.
Bezüglich der Wahrnehmung dieses Phänomens bestehen zwei einander entgegengesetzte, extreme Haltungen. So ist zum einen die Rede von einer lautlosen Katastrophe [2], während die andere Seite dazu neigt, die Bedeutung des demografischen Wandels zu verharmlosen. Ein Bezug zum Migrationsgeschehen aus der Sicht der reichen Zielregionen wird in der Debatte wenigstens in zweierlei Hinsicht suggeriert: Einerseits im Sinn eines wachsenden Zuwanderungsbedarfs der hochindustrialisierten Nationen und andererseits als Gefahr der Überfremdung durch Zuwanderung in Folge der Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern. Zahlreiche Forscher warnen demgegenüber vor einer Demografisierung des Gesellschaftlichen [3].
Die vorliegende Arbeit möchte vor diesem Hintergrund einen eigenen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Hierzu erkläre ich in Kapitel 2 zunächst die zentrale Begrifflichkeit der demografischen Forschung. Auf dieser Grundlage zeichne ich in Kapitel 3 den auf bevölkerungswissenschaftliche Erhebungen gestützten Diskurs mit den entsprechenden Auswirkungen nach. Hierbei wird die Gefahr von ausschließlich auf Zahlen basierenden Bevölkerungs- und Migrationsprognosen und der daraus abgeleiteten normativen Bevölkerungspolitik deutlich. Auf dieser Grundlage erklärt sich die in Kapitel 4 beschriebene fortlaufende Distanzierung der sozialwissenschaftlich orientierten Migrationsforschung von der Bevölkerungswissenschaft. Das Fazit besteht in einer klaren Positionierung in Bezug auf die Notwendigkeit, demografische Datenerhebungen mit den in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung gewonnenen Erkenntnissen zu integrieren. Nur so lässt es sich vermeiden, der Scheinplausibilität rechtsextremer Diskurse angesichts des demografischen Strukturwandels leichtgläubig zu erliegen.
2 Faktoren der Bevölkerungsentwicklungund ihre Auswirkungen
Die Bevölkerungsentwicklung eines Landes hängt im wesentlichen von drei Variablen ab: Fertilität, Mortalität und Wanderung[4]. Aus diesen Variablen ergeben sich vier Faktoren: Die Zahl der Lebendgeborenen (G) und der über die Landesgrenze Zugezogenen (Z) als Addition, die Zahl der Sterbefälle (S) und der Fortgezogenen (F) als Subtraktion. Diese Zahlen werden stets auf einen Zeitpunkt „t“ bezogen. Die Veränderung des Bevölkerungsbestandes (B) von einem Jahr (t) auf das nächste (t+1) ergibt sich demnach aus folgender Rechnung, der so genannten demografischen Grundgleichung:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[5]
Die genannten Variablen schlagen sich jedoch nicht nur in der Bevölkerungszahl nieder, sondern auch in deren Alters-, Geschlechts- und Nationalitätenstruktur, welche langfristig auf der Makroebene das Verhalten von Individuen auf der Mikroebene wiederspiegeln.
Entsprechend den drei Faktoren ist die Rede von einer Geburten-, Sterbe-, Zuzugs- und Fortzugsrate[6]. Alle vier Veränderungsraten bezeichnen den jeweiligen Wert bezogen auf 1000 Einwohner. So wird beispielsweise die Geburtenrate eines Jahres wie folgt errechnet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die vier Veränderungsraten dienen zur Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung. Die Bilanz der natürlichen Bevölkerungsentwicklung (Geburtenbilanz) bezeichnet in diesem Zusammenhang die Differenz zwischen der Zahl der Lebendgeborenen und der Sterbefälle, während die Differenz zwischen den Zu- und Fortzügen als Wanderungsbilanz in die demografischen Datenerhebungen eingeht[7].
2.1 Geburten- und Sterberate
Laut Birg genügt die so genannte „rohe Geburtenrate“, wie sie aus der oben angeführten Gleichung hervorgeht, nicht, um eine Verhaltensveränderung bezüglich der Fertilität treffsicher auszumachen. Um eine veränderte Tendenz bei der Fertiltiät nachzuweisen, ist die Feststellung einer Zunahme der Geburtenzahl allein nicht ausreichend, da die Zunahme u.U. auch allein auf eine steigende Zahl an Frauen im gebärfähigen Alter zurückgeführt werden kann. Um genauere Aussagen über das generative Verhalten machen zu können, muss diese Fehlerquelle ausgeschaltet werden. Dies wird dadurch erreicht, dass die Zahl der Geburten auf die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter bezogen wird. Auf diese Weise erhält man die so genannte allgemeine Fruchtbarkeitsziffer (AFZ), d.h. die Zahl der Lebendgeborenen auf 1000 Frauen (F) im gebärfähigen Alter (15–45)[8]:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bemerkenswert bezüglich der Geburtenrate ist die Feststellung, dass die Geburtenzahl pro Frau unter allen demografischen Faktoren am wenigsten auf politische Maßnahmen und Krisen reagiert. Marschalk verdeutlicht dies am Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der nationalsozialistischen, auf Geburtenförderung angelegten Bevölkerungspolitik[9].
Die Geburtenrate für sich genommen erklärt die natürliche Bevölkerungsentwicklung jedoch nur zum Teil. Die in den westlichen Ländern zu beobachtende Alterung der Bevölkerung hängt vor allem mit einer gesteigerten Lebenserwartung zusammen. Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die ihre Ursprünge in der Zeit der Industrialisierung hat und, wenngleich in geringerem Maß, bis heute anhält (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland 1871/80-1978/80
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Peter Marschalck (19852), S. 164.
Wesentliche Ursachen für die höhere Lebenserwartung sind die bessere medizinischen Versorgung, die ausgewogenere und vielseitigere Ernährung sowie die abnehmende körperliche Belastung am Arbeitsplatz[10].
Zu dieser Entwicklung kommt ein starker Rückgang der Säuglingssterblichkeit nach der Jahrhundertwende hinzu. Um den Bevölkerungsbestand zu erhalten, waren Mitte des 19. Jahrhunderts noch fast vier Geburten pro Frau erforderlich, zu Beginn des neuen Jahrhunderts dagegen nur noch drei[11]. Heute liegt die Bestandserhaltungsziffer in unseren Breiten bei 2,1–2,2 Kinder pro Frau.
Höhere Lebenserwartung und sinkende Geburtenrate sind die auslösenden Faktoren der Alterung der Gesellschaft. Der Prozess der Alterung wird jedoch erst durch die Eigendynamik der demografischen Entwicklung entscheidend verschärft. Diese Dynamik besteht in einem sich selbst verstärkenden Prozess, der in den kinderreichen Regionen des Planeten dazu führt, dass die Bevölkerung selbst bei sinkender Geburtenrate schon allein deshalb weiter wächst, weil die potentiellen Eltern von morgen heute bereits geboren und auf Grund der aktuell starken Kohorten[12] zahlreich sind. Eine sinkende Säuglingssterblichkeit trägt ihrerseits zum Bevölkerungswachstum bei. Kinderarme Regionen sind von der demografischen Eigendynamik unter umgekehrten Vorzeichen gleichfalls betroffen. Da die potentiellen Eltern von morgen heute schon nicht geboren werden, wird die Bevölkerung selbst bei einem Anstieg der Geburtenrate weiterhin schrumpfen. Gerade auf Grund des so genannten momentum of population growth [13] ist der Prozess der Alterung der Gesellschaft von außen nur in geringem Maß beeinflussbar und sowohl kurz- als auch mittelfristig unumkehrbar.
Der Bezug auf die generative Phase (15–45) der Frau hat bereits deutlich gemacht, dass Bevölkerungsentwicklung viel mit der Altersstruktur der Bevölkerung zu tun hat. Diese Feststellung hat nicht nur demografische, sondern z.B. auch demo-ökonomische Auswirkungen. Wichtigster Indikator für die Alterung einer Bevölkerung ist in diesem Zusammenhang nach Schröer und Straubhaar der so genannte Altersquotient (AQ)[14]. Dieser erfasst das Verhältnis von Personen im Rentenalter im Vergleich zur erwerbsfähigen Bevölkerung und ist umso höher, je weniger Erwerbsfähige der Zahl der Rentner gegenüberstehen. Das statistische Bundesamt geht bei eigenen Berechnungen entsprechend der geltenden Altersgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung von einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren aus, während es für das Durchschnittsalter des Eintritts in die Erwerbsfähigkeit das Alter von 20 Jahren annimmt[15]. Ähnlich dem Altersquotienten gibt es auch den so genannten Jugendquotienten (JQ), welcher sich aus der Gegenüberstellung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mir der jüngeren Bevölkerung ergibt. Alters- und Jugendquotient addieren sich zum Gesamtquotienten, der das Verhältnis der Bevölkerung mittleren Alters (Erwerbsfähigkeit) zur jeweils älteren und jüngeren Bevölkerung darstellt, welche sie durch ihre Erwerbstätigkeit weitgehend mitversorgt. Insgesamt zeichnet sich ein leichter Rückgang des Jugendquotienten und ein rasanter Anstieg des Altersquotienten nach 2010. Bis zu diesem Zeitpunkt steigt der Altersquotient nur langsam an, da derzeit die schwach besetzten Kohorten um 1945 das Rentenalter erreichen. Schaubild 1 zeigt die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten und prognostizierten Annahmen.
Ähnliche Entwicklungen vollziehen sich nicht nur in Deutschland, sondern in mehr oder weniger starker Ausprägung in allen OECD-Ländern. „Als Faustregel ergibt sich, dass der Anteil der Rentenbezieher an der aktiven Bevölkerung sich in den nächsten 40 Jahren im OECD-Raum etwa verdoppeln dürfte“[16].
Die Erläuterungen zeigen, dass die eigentliche Herausforderung für Politik und Gesellschaft nicht in der Bevölkerungsschrumpfung als solche besteht, sondern in den damit einhergehenden Veränderungen der Alterstruktur.
Schaubild 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt (2006), S. 45.
2.2 Zu- und Fortzüge
Neben der natürlichen Bevölkerungsentwicklung beeinflussen auch Zu- und Abwanderungen den demografischen Wandel. Hinsichtlich der Bevölkerungszahl ist der so genannte Wanderungssaldo, d.h. die Differenz zwischen Zu- und Abwanderung, die maßgebliche Größe. Wenn die Mehrheit der Zuwanderer Ausländer sind, wie dies in aller Regel der Fall ist, führt ein positiver Wanderungssaldo zu Internationalisierung und Heterogenisierung der Bevölkerung[17]. Diese Tendenz ruft angesichts der zu beobachtenden Bevölkerungsschrumpfung Befürchtungen vor Überfremdung und zum Teil sogar die Angst vor dem Aussterben des deutschen Volkes hervor[18].
[...]
[1] Mark Hertsgaard (2007), S. 38.
[2] Es handelt sich hierbei um einen von Horst Stein geprägten Ausdruck, vgl. Christoph Butterwegge (2002), S. 189.
[3] Vgl. z.B. Eva Barlösius (2007).
[4] Die Wanderung ist ihrerseits unterteilbar in Binnenwanderung und Außenwanderung, d.h. grenzüberschreitende Migration. Die Binnenwanderung ändert nichts an der Bevölkerungszahl, wohl aber an der regionalen, durchaus folgenreichen Verteilungsstruktur derselben. In Deutschland hat dieses Phänomen im Zuge der Wiedervereinigung große Bedeutung gewonnen. In der vorliegenden Arbeit steht demgegenüber die internationale Migration im Hinblick auf die Entwicklung der Gesamtbevölkerung im Zentrum der Überlegungen.
[5] Vgl. Herwig Birg (1993), S. 28.
[6] Für einen schnellen Überblick zu diesen und anderen Begriffen aus der Bevölkerungsforschung empfehle ich das Glossar in Rainer Münz; Albert F. Reiterer (20072), S. 306–323.
[7] Vgl. Herwig Birg (1993), S. 28.
[8] Vgl. ebd., S. 33. Die Ergebnisse der allgemeinen Fruchtbarkeitsziffer können im Sinn einer altersspezifischen Geburtenziffer weiter verfeinert werden. Hierdurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Geburt innerhalb der Spanne des geburtsfähigen Alters ungleich verteilt ist. Auf der Grundlage der altersspezifischen Geburtenziffern wird in einem weiteren Schritt die Gesamtfruchtbarkeitsziffer errechnet, die entsprechend ihrer englischen Bezeichnung als total fertility rate mit TFR abgekürzt wird (vgl. ebd., S. 33–34).
[9] Vgl. Peter Marschalck (19852), S. 80–81.
[10] Vgl. Sebastian Schröer; Thomas Straubhaar (2007), S. 166. Besonders in der Anfangsphase des demografischen Übergangs (vgl. Patrick Henßler; Josef Schmid (2007a), S. 15) profitierten nicht alle Teile der Bevölkerung in gleichem Maße von dieser Entwicklung, es bestehen sowohl soziale als auch regionale Unterschiede, vgl. Peter Marschalck (19852), S. 42.
[11] Vgl. Peter Marschalck (19852), S. 42.
[12] Der Begriff der Kohorte bezeichnet die Geburtsjahrgänge, z.T. aber auch Eheschließungsjahrgänge, vgl. ebd., S. 192.
[13] Dieser Begriff bezeichnet die Trägheit der Bevölkerungsentwicklung, vgl. Herwig Birg (1993), S. 57.
[14] Vgl. Sebastian Schröer; Thomas Straubhaar (2007), S. 166. Das Statistische Bundesamt nennt den Altersquotient „Altenquotient“, die Bedeutung ist identisch, vgl. Statistisches Bundesamt (2006), S. 44.
[15] Vgl. Statistisches Bundesamt (2006), S. 44.
[16] Sebastian Schröer; Thomas Straubhaar (2007), S. 166.
[17] Bei den Aussagen über die demografische Bedeutung von Zu- und Abwanderung in diesem Abschnitt stütze ich mich u.a. auf eigene Notizen zum Vortrag von Prof. Dr. Hans-Dieter Laux vom Geographischen Institut der Universität Bonn, am 12.11.2008 im Rahmen der Gastvortragsreihe „Geographische Stadt- und Regionalforschung“ am Institut für Geographie der Universität Osnabrück zum Thema: Deutschland im demographischen Wandel – Konsequenzen für Städte und Regionen.
[18] Vgl. Peter Marschalck (19852), S. 112.
- Arbeit zitieren
- Tobias Keßler (Autor:in), 2008, Die demografische Falle. Sozialwissenschaftliche Migrationsforschung und Bevölkerungswissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300859
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