Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Heldenkonzeption der Romantik
2.1.2. Byrons Manfred
2.1.3. Goethes Faust
2.1.4. Zusammenfassung
3. Figurenkonstellation in Notre-Dame de Paris
4. Claude Frollo
4.1 Die Einführung von Frollos Charakter in den Roman und seine Lebensgeschichte
4.2. Frollos Liebe zu Esmeralda
4.3 Frollos Forschungen
5. Konklusion
Bibliographie:
1. Einleitung
Notre-Dame de Paris - eines der vielen literarischen Meisterwerke Victor Hugos, verfasst von 1830 bis 1831, fasziniert Leser über Generationen hinweg noch bis zum heutigen Tag. Das Werk ist zwar immer noch hochaktuell und ein gegenwartsbezogener Klassiker, hat sich aber mit der Zeit gewandelt: Aus den Lesern sind heutzutage teilweise Zuschauer geworden, die sich mit Notre-Dame de Paris beschäftigen, beispielsweise in Form eines 1998 erschienenen Musicals oder sehr aktuellen Verfilmungen, wie dieDisney Produktion von 1996[1] oder der Hollywoodfernsehfilm von 1997[2]. Diese Aktualität und das ständige Aufgreifen der Geschichte und Anpassen des Stoffes an die Gegenwart, zeigt, dass die Geschichte um Quasimodo, den hässlichen Glöckner, die schöne Zigeunerin Esmeralda undden Erzdiakon Claude Frollo, zeitlos ist und der Leser oder Zuschauer immer wieder erneut Freude daran finden kann und einen Nutzen daraus ziehen kann.
Die Geschichte des Werks ist sehr vielschichtig und verteilt sich auf mehrere Handlungsstränge. Der bekannteste ist sicherlich der Handlungsstrang um Quasimodo und seine Gefühle La Esmeralda gegenüber. Unglücklicherweise verliebt sich nämlich der unbeholfene, abstoßend aussehende und groteske Glöckner von Notre-Dame in das schöne, sublime Zigeunermädchen. Diese Liebe bleibt allerdings unerfüllt, da Esmeralda wiederum in den Hauptmann Phœbus verliebt ist, der sie rettet, als Quasimodo sie entführen will. Eine Konstante in der Handlung des Romans ist der Mysterienschreiber Gringnoire, der schließlich von Esmeralda zum Ehemann gewählt wird. Eine weitere wichtige Figur des Romans ist Dom Claude Frollo. Er hat eine traurige Vorgeschichte, umgibt sich mit vielen Geheimnissen, treibt Forschung in der dunklen Lehre der Alchimie und philosophiert über Architektur und Buchdruck. Er verliebt sich in die schöne Esmeralda, als diese tanzt und tötet schließlich vermeintlich den Hauptmann Phœbus. Dieses Verbrechen wird Esmeralda angehängt, weshalb sie schließlich hingerichtet wird. Nach Esmeraldas Tod ist Quasimodo außer sich vor Trauer, stößt Dom Frollo von den Zinnen der Kathedrale und stirbt schließlich selbst. Sein Skelett wird etwas später in einer Gruft gefunden, Esmeraldas Skelett umarmend. Die Handlung ist jedoch nicht das einzige, was diesen Roman ausmacht. Er ist zudem durchzogen von philosophischen Denkanstößen über Geschichte und Vergangenheit im Wandel der Zeit. Ein wahrlich vielschichtiger Roman, was ein Erklärungsansatz für die dauerhafte Popularität des Romans sein könnte, da er ein breites Publikum anspricht. Die einen interessieren sich vielleicht für die tragische Geschichte des grotesken Glöckners Quasimodo, die anderen möchten vielleicht etwas über die Architektur des Mittelalters lernen und wieder andere interessieren sich vielleicht für das Zusammenspiel aller Aspekte.
In dieser Hausarbeit möchte ich allerdings keine Erklärungen für die Popularität des Werks suchen, sondern mich hauptsächlich auf die komplexe Figur des Erzdiakons Claude Frollo konzentrieren. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, dass es sich bei Frollo nicht um den Bösewicht des Romans handelt, so wie er in vielen Referenzen der Popkultur dargestellt wird. Das beste Beispiel für die negative Darstellung des Charakters Frollo ist der 1997 erschienene Disney Film, der lose den Romaninhalt aufgreift und in dem Dom Frollo als Bösewicht und Gegenspieler des Helden Quasimodos dargestellt wird. Ich möchte hingegen zeigen, dass Frollo der eigentliche Held des Romans darstellt, genauer gesagt, den Helden nach der romantischen Heldenkonzeption. Als Grundlage für die Argumentation soll eine allgemein Definition des romantischen Heldens dienen, mit der ich nun beginnen möchte.
2. Heldenkonzeption der Romantik
Die Epoche der Romantik ist das Resultat eines Epistemenbruchs. So schreibt auch Franz Penzenstadler: „Daß zwischen 1775 und 1825 in der europäischen Literatur ein epochaler Umbruch stattgefunden hat, ist in der Literaturgeschichtsschreibung unumstritten[3].“ Dieser Umbruch betraf alle Bereiche: die Wissenschaft, die Form des wissenschaftlichen Diskurses und natürlich auch die Literatur. Auch in der Literatur waren alle Bereiche betroffen, das Drama, die Lyrik und nicht zuletzt auch der Roman. Das Drama wurde fortan innovativ gestaltet, zum Beispiel durch Mischformen, bei denen Gattungen kombiniert wurden und auch der langsamen Ablösung von der doctrine classique, einen Prozess, den Hugo in seinem Vorwort zu Cromwell beschreibt. Die Lyrik befasste sich ebenfalls mit Gattungsmischungen und neuen Gattungsbezeichnungen. Besonders durchdacht waren die Titel der romantischen Lyrik, die dem Leser Innovation suggerierten. Die Gedichte an sich waren jedoch immer wieder durchzogen von klassischen Konventionen, das Innovative und das Traditionelle wurden vermischt.. Im Bereich der Narrativik wurde vor allem der historische Roman populär. Auch dieser vermischte Traditionelles mit Innovativem. In Notre-Dame de Paris haben wir ein Beispiel dafür vorliegen. Hugo schildert das schillernde Leben des Mittelalters, die Volksbelustigung, die Dynamik des gemeinen Volkes, das Leben der Zigeuner oder das fleißige Streben nach Wissen der Kirchenmänner. Dabei konzentriert er sich jedoch nicht auf historische Persönlichkeiten und erzählt auch keine historischen Ereignisse nach. Er schildert das alltägliche Leben der Bürger. Er hat keine detailgenaue Recherche betrieben, keine bekannte Geschichte bis zur Perfektion nacherzählt, sondern eine eigene Geschichte erfunden, die sich im Rahmen des Jahres 1482 abspielt.
Nun wird ein Roman gekennzeichnet von den Charakteren, die ihn bevölkern, von den fiktiven Gestalten, die mit ihrem Denken, Fühlen und Handeln die histoire eines Romans ausmachen und voran treiben. Viele Romane handeln von tugendhaften Heldinnen, die sich verlieben, grotesken Erscheinungen, die den Leser mit Dummheit und Einfältigkeit amüsieren, finstere Bösewichte, die schaurige Schandtaten planen. In den meisten gelungenen Geschichten wird auch ein strahlender Held beschrieben.
Auch in der Romantik spielt der Held eine tragende Rolle, allerdings hat der Epistemenbruch sich auch hier bemerkbar gemacht. Die Heldenrolle ist innovativ und grenzt sich deutlich zum Helden der vorhergehenden Epoche, der Klassik, ab. Der romantische Held wird weniger strahlend dargestellt, als in der Klassik, er wird gezeichnet als ein Mensch mit sämtlichen Aspekten, die die Seele eines Menschenscheu ausmachen, auch ihren Abgründen. Die Helden der Romantik dürfen auch Fehler haben, beziehungsweise, was ehemals als Fehler galt, wird in der Romantik als Tugend aufgefasst: „[T]here is always something of rebellious individualism, of pride, of hubris, about heroes. In the full bloom of the Romantic age, however, these were no longer cardinal sins: they had become instead the cardinal [4] virtues.“ so schreibt Thorslev. Er beschreibt weiterhin, dass die romantischen Helden egoistisch und[5] individualistisch sind, Außenseiter, Eigenbrötler und Rebellen. Der Held wird also nicht mehr definiert durch heroische Taten und moralisch korrektes Verhalten, wie zuvor in der Klassik, sondern vielmehr durch innere Prozesse, durch Gedanken und Gefühle, die interessant genug sind, um den Charakter in den Vordergrund zu stellen und ihn zum romanischen Helden zu machen. Um uns diese Theorien vor Auge zu führen, werden in diesem Kapitel nachfolgend einige Werke exemplarisch herausgegriffen, die eine durch einen starken, romantischen Helden gekennzeichnet sind.
2.1. Heldenkonzeption anhand von problematischen Heldenfiguren der Romantik
Außer Notre-Dame de Paris waren auch noch etliche andere Werke richtungsweisend für die Heldenkonzeption der Romantik, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Besonders typisch für die Romantik sind die Heldenfiguren Byrons, mit denen begonnen werden soll. Aber auch Goethes Faust dient als ein gutes Beispiel für die neue Heldenkonzeption der Romantik. Alle drei Werke wurden zu dieser Zeit stark rezipiert und faszinierten die zeitgenössischen Leser, Kritiker und andere Autoren.
2.1.1. Byrons Childe Harold's Pilgrimage
In diesem epischen Gedicht, erschienen 1812 (Canto I und II), 1816 (Canto III) und schließlich 1818 (Canto IV) geht es um die Reise und Pilgerfahrt des jungen Childe Harolds [6], wie der Titel schon suggeriert. Childe Harold erlebt Abenteuer in ganz Europa und schildert seine Eindrücke mit besonderem Augenmerk auf zeitgenössische Problemen, der imposanten Natur oder der Vergangenheit der Orte, die er bereist.
Sehr eindrücklich wird in Byrons Werk der Hauptcharakter und Held, Childe Harold geschildert. Er ist ein jugendlich-romantischer Held. Childe Harolds lebt an einem Ort, den der hasst, bis er beschließt auf Wanderschaft zu gehen: „Then loathed he in his native land to dwell, /Which seemed to him more lone than Eremite's sad cell.“[7] Er hat keine Freunde und auch keinen Kontakt zu seiner Familie und lebt in abgeschiedener Einsamkeit: „Childe Harold had a mother - not forgot, / Though parting from that mother he did shun; / A sister whom he loved, but saw her not/ Before his weary pilgrimage begun: / If friends he had, he bade adieu to none.“[8] Er nimmt keinen Abschied, beginnt seine Reise vollkommen isoliert, getrieben von innerer Unruhe und Unzufriedenheit. Doch diese innere Unruhe, lässt ihn nicht lange an einem Ort verweilen. Nachdem er Lissabon bereist hat, wird schildert Byron, wie es Childe Harold weiterzieht: „So deemed the Childe, as o'er the mountains he / Did take his way in solitary guise: / Sweet was the scene, yet soon he thought to flee, / More restless than the swallow in the skies“[9]
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