Reizüberflutung in expressionistischen Stadtgedichten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

26 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.2. Industrialisierung und Urbanisierung

2. Die Großstadt und ihre Literatur
2.1. Erste Großstadterfahrungen im Naturalismus
2.2. Großstadt Forschung
2.2. Der Expressionismus

3. Reizüberflutung in expressionistischen Stadtgedichten: Beispielanalyse
3.1. Abend in der Großstadt
3.2. Alltag in der Großstadt
3.3. Charakteristische Elemente der Großstadt
3.3.1. Öffentliche Verkehrsmittel
3.3.2. Neue Medien: Reklame, Presse, Film
3.3.3. Huren
3.4. Auswirkungen der Reizüberflutung
3.4.1. Nervosität
3.4.2. Apokalyptische Visionen

4. Schlusswort

5. Literatur

1. Einleitung

Die expressionistische Bewegung in der Kunst und Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist ein weites, vielbeforschtes Feld von verschiedenen formal- gestalterischen sowie inhaltlich-thematischen und ideologischen Ansätzen. Die expressionistische Literatur verhandelt wegbereitend das neue Lebensgefühl des modernisierten, urbanisierten zwanzigsten Jahrhunderts, dessen charakteristische Merkmale der Individualisierung, Entfremdung, Flüchtigkeit, Orientierungslosigkeit, Medien- und Reizüberflutung auch noch unser gegenwärtiges Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert bestimmen. Diese Literatur ist eine urbane Literatur, die sich aus dem Leben und Erleben in der Großstadt speist. Ihr Zentrum ist die Hauptstadt des Wilhelminischen Kaiserreichs, die Kultur- und Medienmetropole Berlin. Ihre VertreterInnen sind vor allem Mitglieder der jungen Generation, die die neue Lebenswelt auf unterschiedlichste Weise künstlerisch verarbeiten. Ihre Arbeiten sind so mannigfaltig und komplex wie die Großstadt selbst. Sie beinhalten Form-, Stil- und Sprachexperimente auf der gestalterischen Ebene, auf der inhaltlichen Ebene finden sich unter anderem Aufbruchstimmung, Faszination, Skepsis, Identitäts- und Orientierungskrise, Angst und apokalyptische Visionen, Generationskonflikte und neue Themenbereiche aus der Alltagserfahrung, zum Beispiel die Großstadt selbst, Häuserzeilen, Ladenzeilen, Verkehrsmittel, Maschinen, Kino, Freudenhäuser, dazu Hässlichkeit, Krankheit, Verwesung, Ekel, Tod und Sex. Um mit dem Tempo der technisierten Umwelt und der neuen Medien mitzuhalten, bevorzugen die expressionistischen LiteratInnen knappe Formen, darunter besonders das Gedicht. Die expressionistische Lyrik ist reich an literarischen Innovationen auf der gestalterischen wie der inhaltlichen Ebene, Konventionen und Tabus werden systematisch gebrochen. In dieser Arbeit möchte ich mich auf die Umsetzung der großstädtischen Reizüberflutung in der expressionistischen Lyrik konzentrieren. Ich werde zunächst einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der deutschen Großstadt geben, um dann im zweiten Teil über die kulturelle Bedeutung der Großstadt ihrer literarischen Bearbeitung zu gelangen. Im dritten Teil der Arbeit stelle ich einige Beispielanalysen vor.

1.2. Industrialisierung und Urbanisierung

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg, aus dem 1871 die Gründung des Deutschen Kaiserreiches hervorgeht, ermöglichen die französischen Reparationszahlungen die rasche Umstrukturierung des Landes von einer Agrar- zu einer Industrienation. Zwischen 1871 und 1910 wächst die Zahl der Großstädte (Städte, die mindestens hunderttausend Einwohner umfassen) von acht auf achtundvierzig, die Bevölkerung von 39,5 auf 63 Millionen1, die Einwohnerzahl der Hauptstadt Berlin von 826 341 auf zwei Millionen Bewohner2. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lebt 1910 in Großstädten. Die Industrialisierung des Landes und die Mechanisierung der Arbeit schafft zwar soziale Mobilität, also mehr Freiheit bei der Berufswahl und Loslösung von traditionellen familiären Strukturen, dafür aber eine neue Art sozialer Unterdrückung der ArbeiterInnen durch die besitzenden Schichten. Der Wert der einzelnen Person wird an ihrer Leistungsfähigkeit und Effizienz gemessen, die mit Maschinen und Fließbändern konkurrieren müssen. Mit der Festlegung auf einzelne stupide Arbeitsschritte an Maschinen und Fließbändern verlieren die ArbeiterInnen das Gefühl des Eingebundenseins in den Gesamtprozess (Entfremdung), die monotone Fabrikarbeit nagt am Selbstkonzept. Es entsteht eine eigene ArbeiterInnenkultur, die sich in Vereinen und Gewerkschaften (ab 1848) organisiert. Die Gewerkschaften blühen vor allem ab 1890 wieder auf, als das Sozialistengesetz des Reichskanzlers Bismarck zur Vermeidung von Unruhen aufgehoben wird. Neben der Arbeiterkultur, die in den Städten den politischen Boden nährt, entwickelt sich in den bürgerlichen und gebildeten Schichten ein buntes kulturelles Leben, das sich alle technischen Neuerungen zunutze macht. Die Industriezentren entfalten sich zu Kulturmetropolen. Neben der städtischen Populärkultur (Revuen, Varieté, Theater, Film, Printmedien) blüht die vornehmlich intellektuelle Caféhaus- und Bohemekultur. Die Großstadt hat nun

ihren eigenen Charakter, die GroßstädterInnen ihren eigenen Lebensstil: die Urbanität.

2. Die Großstadt und ihre Literatur

2.1. Erste Großstadterfahrungen im Naturalismus

Zu Beginn der Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert sind die Städte vor allem Industrie- und Handelszentren. Sie sind geprägt durch Schmutz, Lärm, schlechte Arbeitsbedingungen und Klassenkonflikt. Es bilden sich Arbeitervereine, aber die Industriezentren haben noch kein eigenständiges kulturelles Leben und definieren sich über die Gegensätze zum ruhigen und vermeintlich idyllischen Landleben. Diese Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie die sozialen Missstände in den Städen finden ihren Niederschlag im sozialkritischen Naturalismus, vor allem in Prosa und Drama. Die Darstellung ist möglichst realistisch und reich an Empathie. Hier wird die Großstadt mit großer Skepsis behandelt, die das Leben und die Identität der ArbeiterInnen sowie die menschliche Gemeinschaft und Ganzheitlichkeit bedroht

2.2. Großstadtforschung

Die Großstadt ist nicht nur Thema der schönen Literatur, sondern auch der Wissenschaften.. Findet sie anfangs eher Niederschlag in wirtschaftlichen, soziologischen und politischen Abhandlungen, so reizt sie mit der Herausbildung urbaner Kultur bzw. urbanen Charakters das Interesse von AkademikerInnen aller Bereiche. Sie findet nun unter anderem Behandlung in theoretischen Texten der Geographie, Geschichte, Statistik, Wirtschaft, Architektur, Soziologie, Psychologie und Kulturtheorie:

„1903 erschien anläßlich einer von der Gehe-Stiftung in Dresden organisierten Städteausstellung das Sammelwerk Die Großstadt. Dieses vereinigt Vorträge und Aufsätze über die neuentstandene moderne Großstadt, wobei [...] zum ersten Mal der Versuch unternommen wird, die Großstadt als Gesamtphänomen durch allseitige Betrachtung zu erfassen.“3

Herausragende Bedeutung kommt hierbei dem Aufsatz des in Berlin lehrenden Sozialphilosophen Georg Simmel mit dem Titel Die Großstadt und das Geistesleben zu, der ausgesprochen häufig in der Sekundärliteratur zitiert wird. Simmel entwickelt darin ein Profil des modernen Großstädters, der durch die städtische Reizüberflutung zu intellektueller Hochleistung stimuliert wird und seine gefährdeten Nerven bzw. sein verletzliches Inneres mit Blasiertheit schützt.

„Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. [...] beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen. Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – [...] wird vor allem der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist.“ 4

Simmel verleiht der Großstadt also eine positive Note und setzt damit einen neuen Trend, obwohl die Schwierigkeiten des Großstadtlebens in seinem Text durchaus mitschwingen. Wenn er zum Beispiel die „Verstandesmäßigkeit als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“ bezeichnet, attestiert er ihr Bedrohlichkeit und ein großes Gefahrenpotential. Zudem bemerkt er zum Vorteil der individuellen Freiheit in der anonymen Großstadt:

„Es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl;“5

Die Großstadt bietet einerseits Vielfalt und Möglichkeiten, birgt aber andererseits eine Dauerreizung der Nerven (Stress) sowie Halt- und Orientierungslosigkeit. Sie fasziniert in ihrer Mannigfaltigkeit und Modernität und bedroht in ihrer Größe und Unübersichtlichkeit. Ihre Anonymität bedeutet individuelle Freiheit und gleichzeitig Einsamkeit. All diese Widersprüche sind Teil des urbanen Lebensstils, der neuen Alltagserfahrung. Sie erfordern und fördern neue Dimensionen der Expressivität in Kunst und Literatur.

2.3. Der Expressionismus

Der Expressionismus ist eine Bewegung der jungen Intellektuellen. Die meisten seiner VertreterInnen stammen aus dem Bildungsbürgertum, achtzig Prozent sind, „wie schon ihre Eltern, Akademiker“6, ein Viertel von ihnen sogar mit Doktortitel. Sie verstehen sich selbst „als eine Art Jugendbewegung und stell[en] sich in die Tradtition des Sturm und Drang wie des Jungen Deutschlands.“6 Der Expressionismus ist eine Subkultur mit eigenen Medien (Zeitschriften, Verlagen) und zählt sich zur Bildungs- und Kulturelite:

„Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer,“7

Seinen Anfang nimmt er in Manifesten und Essays, in denen der Bruch mit Tradition und traditionellen Ausdrucksformen gefordert und neue (Lebens- und Ausdrucks-) Formen postuliert werden. Dafür werden vor allem die Zeitschriften genutzt, zum Beispiel Herwarth Waldens „Der Sturm“ (1910), die in eigenen Verlagen in großer Zahl erscheinen, auch wenn sie oft kurzlebig sind. Desweiteren werden Kabarett-Abende, Lese-Performances und happeningartige

Vorführungen veranstaltet, um der neuen Bewegung Ausdruck zu verschaffen. Der Expressionismus ist provokant und innovativ, und er weiß die neuen Medien (Print, Film, Reklame) sowie die neuen technischen Möglichkeiten (Bühnenbeleuchtung, Kinematograph, Bühnentechnik) zu nutzen. Neben Essays, neuen Dramen- und Prosaformen, ist besonders das Gedicht für die expressionistische Vortragskunst geeignet, die oft aus provokanten und schillernden Selbst-Inszenierungen besteht.

[...]


1 Becker 1993, S. 26

2 Vietta 1976, S. 30

3 zitiert in Vietta 1976, S. 29

4 ebd., s. 12

5 zitiert in Vietta 1976, S. 13

6 Anz 2002, S. 31

7 zitiert ebd., S. 32

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Reizüberflutung in expressionistischen Stadtgedichten
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
HS Expressionistische Lyrik
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
26
Katalognummer
V30184
ISBN (eBook)
9783638315036
ISBN (Buch)
9783638729925
Dateigröße
505 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reizüberflutung, Stadtgedichten, Expressionistische, Lyrik
Arbeit zitieren
Britta Sonnenberg (Autor:in), 2004, Reizüberflutung in expressionistischen Stadtgedichten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30184

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