Ingeborg Bachmanns "Malina". Zur Abhängigkeit der Ich-Erzählerin


Hausarbeit, 2015

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

Als Ingeborg Bachmann 1971 den Roman Malina als ersten Teil der mehrteiligen Romanreihe Todesarten-Projekt veröffentlichte, erntete dieser zunächst zahlreiche Kritik. Günter Blöcker beispielsweise kritisierte eine „klischeehafte Grundkonstellation“1 und interpretierte den Ro- man sogar autobiographisch. Seiner Meinung nach sei die Protagonistin „ziemlich unver- schlüsselt die Autorin in Person“2. Bachmann selbst bezeichnete ihren Roman in einem Ge- spräch mit Veit Möller 1971 zwar als eine „geistige, imaginäre Biographie“3, was jedoch nicht bedeutet, dass der Roman tatsächlich als Autobiographie zu verstehen ist. Des Weiteren wurde der Roman nach seiner Veröffentlichung oft auf eine banale Dreiecks-/Liebesgeschichte redu- ziert, oder aber die Ich-Erzählerin als hysterische Frau gesehen, die an einem Rollenbild der Frau des 19. Jahrhunderts festhält.4 Das in Malina vermittelte Frauenbild und das Verhalten der Ich-Erzählerin wurde in der feministischen Forschungsliteratur der 80er Jahre eingehend untersucht und sehr unterschiedlich bewertet. Bis heute wird der Roman Malina im Hinblick auf seine Fortschrittlichkeit kontrovers diskutiert.

Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Frage beschäftigen, auf welche Weise die Ich- Erzählerin, welche die Protagonistin darstellt, sich in Malina abhängig macht. Hierfür sollen zuerst die Figurenkonstellation und im Anschluss hieran die Abhängigkeit der Protagonistin von ihrem wohnlichen Umfeld einerseits und ihre emotionale, beziehungsweise körperliche Abhängigkeit von ihrem festen Freund Ivan andererseits näher betrachtet werden. Da sich die Beziehung zu Ivan als ambivalent erweist, werden sowohl ihre heilende Wirkung als auch ihre verhängnisvolle Seite und die Trennung von Ivan separat behandelt. Die Figur Malina stellt den nächsten Punkt der Arbeit dar, bevor zuletzt auf das Verschwinden der Ich-Erzählerin in der Wand am Ende des Romans eingegangen und ein abschließendes Fazit zur Abhängigkeit der Ich-Erzählerin in Malina gezogen wird.

1. Die Figurenkonstellation des Romans

Malina ist ein Roman, der, bis auf den letzten Satz des Romans, im Präsens geschrieben ist und von einer Ich-Erzählerin erzählt wird. Den Plot5 von Malina wiederzugeben stellt sich als problematisch dar, da es in dem Roman nur dem Anschein nach eine Handlung gibt. Es han- delt sich bei dem Roman vielmehr um ein Psychogramm, in welchem alle geschilderten Er- eignisse und beschriebenen Personen dazu dienen, die Ich-Erzählerin weiter zu charakterisie- ren. Das erzählende und das erzählte Ich fallen in diesem Roman zusammen und sind nicht voneinander zu trennen.6 Versucht man trotz alledem den Plot des Romans wiederzugeben, könnte dieser womöglich folgendermaßen lauten: „In dem 1971 veröffentlichten Roman Ma- lina von Ingeborg Bachmann geht es um eine namenlose junge Schriftstellerin, die sich in ei- ner festen Beziehung mit Ivan befindet und mit ihrem Mitbewohner Malina in der Ungargasse in Wien lebt. Als die Beziehung zu Ivan zerbricht, wendet sich die Ich-Erzählerin ihrem Mit- bewohner zu, der gleichzeitig die Personifikation ihrer zweiten Persönlichkeit ist, und ver- sucht mit ihm gemeinsam traumatische Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten. Der Roman endet damit, dass die namenlose Frau in einer Wand ihrer Wohnung verschwindet und verstummt. Dieser Vorgang wird im letzten Satz des Romans als Mord bezeichnet.“

Malina beginnt, was für die Gattung „Roman“ unüblich ist und eher bei einem Drama zu erwarten wäre, mit einer Auflistung der Dramatis personae. Diese Auflistung bleibt jedoch, wie der Leser während der Lektüre des Romans feststellt, unvollständig. Es scheint sich hier- bei vielmehr um eine Auflistung der wichtigsten Figuren des Romans zu handeln und entspre- chend sind sie auch der Relevanz nach geordnet. Ivan wird an erster Stelle genannt. Seine Rolle wird durch die Weigerung der Ich-Erzählerin, seinen Beruf preiszugeben, um keine „unnötigen Verwicklungen“7 zu verursachen, mystifiziert und ihr somit eine Bedeutungs- schwere hinzugefügt. Die Kinder, welche nach Ivan aufgelistet werden, sind die Seinen. Das erfährt der Leser allerdings erst im Verlaufe des Romans, als die Ich-Erzählerin deren erste Begegnung schildert. Auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu Ivan erhalten sie ebenfalls einen Sta- tus der Wichtigkeit, obwohl sie im Roman nur eine vergleichsweise kleine Rolle spielen, und müssen demnach an zweiter Stelle genannt werden.

Malina wird als Drittes vorgestellt und als eigenständige Figur aufgelistet. Dass es sich bei Malina um das männliche Alter Ego der weiblichen Ich-Erzählerin handelt, wird an dieser Stelle noch nicht deutlich. Zahlreiche Belege im Roman führen schließlich zu der Deutung Malinas als Teil der Persönlichkeit der Ich-Erzählerin. Diverse Stellungnahmen von Bach- mann selbst stützen diese Interpretation.8 Wie von Ellen Summerfield vorgeschlagen, werde auch ich im Folgenden Malina sowohl als eigenständige Figur als auch als Doppelgänger der Ich-Figur behandeln, um dem Roman gerecht werden zu können.9 Sich selbst nennt die Ich- Erzählerin an letzter Stelle, was entweder ein Akt der Höflichkeit sein könnte, oder aber ex post betrachtet bereits hier eine erste Offenbarung darüber, welchen Stellenwert sie sich selbst beimisst. Um distanziert über sich selbst sprechen zu können, bedient sie sich ihres Personal- ausweises und listet Details wie ihre Haarfarbe oder ihren Wohnort auf (S. 276). Ihren Namen verschweigt die Ich-Erzählerin bis zuletzt. Der Leser erfährt lediglich, dass ihr Name und der Ivans durch den „identischen, hellklingenden Anfangsbuchstaben“ (S. 304) gekennzeichnet sind.

Zusätzlich zu der Auflistung der Personen werden die Zeit des Romangeschehens (Heute), sowie ein Ort (Wien) genannt (S. 276). Über die Zeitangabe lässt sich sagen, dass sie sich als problematisch darstellt. Schließlich kann sich „heute“ auf jeden Zeitpunkt beziehen und ist somit als Zeitangabe für einen speziellen Zeitraum nichts sagend.

2. Die Ungargasse als Rückzugsort

Bevor das erste Kapitel beginnt, schildert die Ich-Erzählerin in einem Vor-Kapitel zunächst ihre Wohnsituation in der Ungargasse. Diese stellt sich für sie als „Einheit des Ortes“ (S. 279) dar, die sich per Zufall ergab, als sie Ivan bei ihrer ersten Begegnung folgte und sich heraus- stellte, dass auch er in der Ungargasse wohnt. Dort bewohnt sie gemeinsam mit Malina die Hausnummer sechs, während Ivan in der Ungargasse neun wohnt. Sie nennt dieses kleine Stück Wien auch liebevoll „Ungargassenland“ (S. 299). Bis auf wenige Ausnahmen hält sie sich ausschließlich dort auf und schottet sich vom restlichen Wien beziehungsweise der Welt weitestgehend ab. Ihr Desinteresse an den Vorgängen des Weltgeschehens kommt deutlich zum Vorschein, als sie beispielsweise Moskau, Berlin und Washington als „vorlaute Orte“ (S. 299) bezeichnet, die in ihrem Ungargassenland nicht ernst genommen würden.

Das unbeschwerte Bild, welches zunächst durch ihre Wohnsituation vermittelt wird. trübt sich schnell, wenn deutlich wird, in welch ungesundem Maße die Ich-Erzählerin sich an diese Gasse klammert. Statt sich frei in Wien zu bewegen, kreisen ihre Gedanken ständig um ihr Zuhause und sie muss regelrecht vorgeben, nicht zurückkehren zu wollen. So hält sie sich in Cafés auf und blättert in Zeitungen, die sie eigentlich nicht lesen möchte - es scheint fast, als müsste sie ihre Unabhängigkeit und Freiheit simulieren (vgl. S. 283). Ihre Aufregung dar- über, sich außerhalb des Ungargassenlandes aufzuhalten, äußert sich sogar durch psychoso- matische Reaktionen, wie einen zu niedrigen Blutdruck und einen „Krampf“ (S. 283), der sie befällt, sobald sie sich aus dem geschützten Radius der Ungargasse entfernt.

Der Grund für die beruhigende Wirkung der Ungargasse scheint Ivans Präsenz zu sein, denn unmittelbar hinter Ivans Haus wird die Gasse laut Ich-Erzählerin plötzlich „unruhiger, ungeordneter und planloser“ (S. 279). Dass die beruhigende Wirkung des Ungargassenlandes nach dem Bruch mit Ivan nicht mehr andauert und die Ich-Erzählerin sogar vorschlägt, um- ziehen zu wollen, bestätigt diesen Verdacht. Ohne Ivan kann das Ungargassenland also nicht existieren und entspricht demnach nicht nur dem Wohnort der Ich-Erzählerin, sondern ist auch Sinnbild für die Liebe zwischen ihr und Ivan.10 Die Ich-Erzählerin und Ivan scheinen sich über den Umstand, dass sie sich selbst durch ihre extreme Fixierung auf die Ungargasse in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt, durchaus im Klaren zu sein. Die Beschreibung der Un- gargasse als „Magnetfeld“ (S. 282) durch sie, und Ivans Hinweis beim Schachspiel, dass ihre Dame schon wieder immobil sei (vgl. S. 324), erweisen sich deshalb als besonders treffend, schließlich oszilliert sie fast ausschließlich zwischen ihrer Wohnung und der Ivans hin und her. Die Fixierung der Ich-Erzählerin und die damit einhergehende Isolation führt schließlich zu einem gestörten Verhältnis zur Außenwelt, das dadurch veranschaulicht wird, dass die Ich- Erzählerin allerlei skurrile Bekanntschaften macht, sobald sie sich außerhalb der Ungargasse bewegt. Hier sind vor allem der Leprakranke im Café und der Taxifahrer mit der fehlenden Nase zu nennen.11 Zusätzlich dazu, dass die Ich-Erzählerin sich räumlich auf die Ungargasse begrenzt, schottet sie sich auch von ihrem sozialen Umfeld ab. Durch ihre Sekretärin Fräulein Jellinek lässt sie sich regelmäßig schriftlich und telefonisch verleugnen, um nicht mit anderen Menschen in Kontakt treten zu müssen. Fräulein Jellinek soll beispielsweise dem Anrufer sa- gen, sie sei „krank […], verreist, tot“ (S. 329). Den einzigen Ausflug, den die Ich-Erzählerin unternimmt, bricht sie vorzeitig ab und schon auf dem Weg dorthin hofft sie, dass der Zug entgleist oder der Taxifahrer sich nicht bestechen lässt, damit sie wieder nach Hause umkeh- ren kann (S. 470).

Nach dem Vorkapitel beginnt das erste der drei Kapitel aus Malina, welches den Titel „Glücklich mit Ivan“ trägt und von allen drei Kapiteln mit zweihundertundzwei Seiten das längste ist. Gemessen daran, welcher Stellenwert der Beziehung in Ichs Leben zukommt, er- scheint es nur konsequent, dass auch innerhalb des Romans einem Kapitel über die Beziehung zu Ivan der meiste Platz eingeräumt wird. Doch obwohl der Titel des Kapitels zu suggerieren scheint, dass nun eine ausführliche Darstellung der glücklichen Liebe mit Ivan folgt, sind die tatsächlichen Glücksmomente mit jenem vergleichsweise rar gesät. Britta Hermann differen- ziert daher treffend zwischen einem Haupttext, der aufzeigt, inwiefern die Liebe zu Ivan eine heilende Wirkung auf die Ich-Erzählerin ausübt und einem Subtext der bereits im ersten Kapi- tel sukzessive und mit steigender Intensität veranschaulicht, woran die Liebe zu Ivan schließ- lich scheitern wird. Hervorgehoben werden von Hermann vor allem die selbstgewählte Un- mündigkeit der Ich-Erzählerin und ihre Neigung zur Selbstaufgabe.12 Daher sollen im Fol- genden, analog zu Hermanns Unterscheidung zwischen Haupt- und Subtext, erstens die Funk- tion Ivans als Heilmittel für das Ich und zweitens die verhängnisvolle Neigung der Ich-Erzäh- lerin, sich in der Liebe zu Ivan zu verlieren, am Text belegt werden.

[...]


1 Günther Blöcker: Auf der Suche nach dem Vater. In: Merkur 6 (1971), S. 397.

2 ebd. S. 396.

3 Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München und Zürich: R.Piper & Co. Verlag 1983, S. 73.

4 vgl. Britta Herrmann: Todesarten-Projekt: Malina. In: In: Bachmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Sonderausgabe. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart: J.B Metzler und Carl Ernst Poeschel 2013, S. 133.

5 Jost Schneider: Einführung in die Roman-Analyse. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 20103 (Einführungen Germanistik. Hg. von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal), S. 32.

6 Das löst auch die Problematik, inwiefern der letzte Satz des Romans „Es war Mord“ (KA, S. 695) trotzdem dem Ich zugeschrieben werden kann, obwohl das Ich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Wand verschwunden und verstummt ist. Das erzählte und das erzählende Ich sind solange nicht unterscheidbar, bis das erzählte Ich in der Wand verschwindet und fortan das erzählende Ich weiterspricht. (vgl. Steiger 1978, S. 1; Grimkowski 1992, S. 87).

7 Ingeborg Bachmann: Todesarten-Projekt. In: Dies.: Kritische Ausgabe. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, hier: Bd. 3.1.: Malina. Bearbeitet von Dirk Göttsche unter Mitwirkung von Monika Albrecht. München: R. Piper GmbH 1995, S. 275. (Zitate aus diesem Werk werden im folgenden Text mit der entsprechenden Seitenzahl im Fließtext vermerkt).

8 vgl. Bachmann (1983): S. 87.

9 vgl. Ellen Summerfield: Ingeborg Bachmann. Die Auflösung der Figur in ihrem Roman «Malina». Bonn: Bou- ver Verlag Herbert Grundmann 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik Band 40), S. 46.

10 vgl. Steiger, Robert: MALINA. Versuch einer Interpretation des Romans von Ingeborg Bachmann. Heidelberg: Winter 1978 (Beträge zur neueren Literaturgeschichte: Folge 3; Band 4), S. 67.

11 vgl. Doris Hildesheim: Todesbilder. Todessehnsucht und Sprachverlust in „Malina“ und „Antigone“. Berlin: Weißensee-Verlag 2000, S. 60.

12 vgl. Hermann 2013, S. 133.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Ingeborg Bachmanns "Malina". Zur Abhängigkeit der Ich-Erzählerin
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Literaturwissenschaft und Genderforschung
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
15
Katalognummer
V302126
ISBN (eBook)
9783668012981
ISBN (Buch)
9783668012998
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Abhängigkeit, Malina, Ingeborg Bachmann, Ich-Erzählerin
Arbeit zitieren
Dilara Erginos (Autor:in), 2015, Ingeborg Bachmanns "Malina". Zur Abhängigkeit der Ich-Erzählerin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302126

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