Poetischer Realismus von Gottfried Keller. Begegnungen von Märchen und Novelle in "Spiegel, das Kätzchen"


Hausarbeit, 2015

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2 Begriffe
2.1 Märchen
2.2 Novelle des 19. Jahrhunderts
2.3 Poetischer Realismus

3 Gottfried Kellers poetischer Realismus aus Begegnungen von Märchen und Novelle in und durch Spiegel, das Kätzchen
3.1 Novellen: Die Leute von Seldwyla, Last und Muster
3.2 Märchen: Spiegel, das Kätzchen, diminuiertes Wesen hinter Funktion
3.3 Novelle im Märchen: Spiegel, Fiktionskünstler und -kunst
3.4 Märchen im Zyklus: Spiegel, schöpfend und reproduzierend

4 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1.Einleitung

Gegenstand dieser Hausarbeit soll die Frage sein, inwieweit durch Begegnungen der Gattungen Märchen und Novelle in und durch Kellers 1856 publizierter1 Prosa Spiegel, das Kätzchen eine konzise künstlerische Umsetzung des poetischen Realismus zu folgern ist.2 Für dieses Vorhaben ist eine vorangestellte Klärung der Begriffe Märchen, Novelle des 19. Jahrhunderts und poetischer Realismus als Grundlage unabdingbar.

Die Motivation zu diesem Thema ergibt sich aus der augenfälligen Diskrepanz eines besonderen Stellenwerts des Märchens innerhalb des Zyklus Die Leute von Seldwyla3 sowie für Keller4 und eines merkwürdig geringen Niederschlags in der Literaturwissenschaft5. Letzteres mag am befremdlich erscheinenden Widerspruch zwischen der schnell assoziierten Nähe der Gattung Märchen zur Romantik6 und Kellers programmatischen Anspruch eines poetischen Realismus liegen, den jener in der Formulierung „das Gegenwärtige, […] zu verstärken und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können, […] so gehe es zu“7 andeutete und jedenfalls in den vor und nach Spiegel, das Kätzchen platzierten Novellen in Die Leute von Seldwyla8 einlöste. Veranschaulicht sei dies durch die folgende Stelle aus Romeo und Julia auf dem Dorfe, die den Anschein weckt, als seien weder Manz noch Marti, sondern etwas Übergreifendes, Schuld an ihrem Streit:

[…], so gerieten beide in die allerschlimmsten Hände von Tausendkünstlern, welche ihre verdorbene Phantasie auftrieben zu ungeheuren Blasen, die mit den nichtsnutzigsten Dingen angefüllt wurden.9

Abgesehen davon, dass sich diese konkrete Emphase einer völlig autonom werdenden Sturheit zweier Personen des ins Märchenhaft Tendierenden bedient und schon dadurch die Gattungen Märchen und Novelle nicht gerade vermischt, aber in eine gewisse Annäherung bringt, versuchten Müller-Nussmüller und Poser, den vermeintlichen Widerspruch aufzulösen, indem sie das Märchenhafte als Verstärker des Wirklichen fungieren ließen.10 Eine intensivierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Spiegel, das Kätzchen stellte sich aber dennoch nicht ein. Des Weiteren gibt es zwischen dem Märchen und den Seldwyla-Novellen Parallelen im Erzählstil und kompositorischen Aufbau. Ersteres mögen ein märchenhaftes Vokabular oder Assoziationen zu Märchen auch in den Novellen, in die sich die bereits zitierten ‚Tausendkünstler‘ einfügen, und häufig gebrauchte lange Aufzählungen, z. B. von Dingen in einer Schublade der Züs Bünzlin in Die drei gerechten Kammacher11, der Tätigkeiten des Pineiß in Spiegel, das Kätzchen12 sowie der Freier um Spiegels Herrin in der dortigen Binnenerzählung13 belegen. Ähnlichkeiten im kompositorischen Aufbau kann die Aufteilung in Rahmen- und Binnenerzählung exemplifizieren. Diese ist auf verschiedene Art außer im Märchen in Romeo und Julia auf dem Dorfe14 und Pankraz, der Schmoller15 anzutreffen.

Ziel der Arbeit ist es, über die Zwischenstufen des Eruierens eines grundsätzlichen novellistischen Charakters in Die Leute von Seldwyla, der Einordnung von Spiegel, das Kätzchen in seine angekündigte Gattung16, der Beantwortung der Fragen, wie dort die Rahmenhandlung zu seiner Binnenerzählung steht und wie sich das Märchen zu den Novellen des Zyklus verhält, herauszukristallisieren, auf welche Weise Kellers poetischer Realismus in diesem Komplex zu verorten ist.

2 Begriffe

Die Begriffe Märchen, Novelle und poetischer Realismus werden in der Literatur und in der Forschung so vielfältig verwendet17, dass per se keine eindeutigen Definitionen möglich oder sinnvoll sind. Im Folgenden werden daher die Erläuterungen auf konzise, für die Zwecke dieser Arbeit geeignete Darstellungen beschränkt.

2.1 Märchen

Auf der allgemeinsten Ebene ist Märchen, das Diminutiv zu Maere in der Bedeutung Kunde, Erzählung, Gerücht18 ein Prosatext, „in der die Bedingungen der Wirklichkeit aufgehoben scheinen“19, nicht aber deren Silhouette, denn durch fehlende Konkretisierungen, z. B. in Ort und Zeit, ist es möglich, das Unwirkliche nach den Maßstäben der großen Schwester Wirklichkeit zu konstituieren20. Gerade durch diese Gleichgesetzlichkeit des Märchenhaften und des Wirklichen auf allgemeiner Ebene werden die für denkbar gehaltenen Möglichkeiten erweitert, Märchenwesen wie selbstverständlich in die Menschenwelt integriert, so dass z. B. eine Unterhaltung zwischen Tieren und Menschen problemlos funktionieren kann.21 Wirklichkeitsent- und -bezug sorgen typischerweise für ein Schema, nach dem in einem symmetrischen Aufbau ein durch Probleme Hinausstreuendes und durch deren meist schwierige Bewältigung wieder Hereingeholtes in Kürze und Schlichtheit, oft mit phrasenhaft wiederholten Satzteilen, präsentiert werden.22 Man mag nur an das einfache, auf wenige Figuren beschränkte Grimmsche Märchen Vom Fischer und seiner Frau denken, um diese charakteristischen Bestandteile des Märchens bestätigt zu finden.23

2.2 Novelle des 19. Jahrhunderts

Novelle stammt aus dem Lateinischen und ist mit Neuigkeit gleichzusetzen.24 In dieser Hinsicht ist die relativ kurze Form der Prosa auf ein unerwartetes und daher hervorgehobenes Ereignis25 ausgerichtet, durch das die Vor- und Nachgeschichte zu Gegenpolen werden. Im Unterschied zum Drama stehen nicht soziale Missstände grundsätzlicher Art im Vordergrund, sondern alltägliche Konflikte einzelner Menschen und im Gegensatz zum Roman wird statt eines erschöpfenden Gesellschaftsbildes ein Ausschnitt davon künstlerisch gestaltet.26 In der Novelle des 19. Jahrhunderts wird der von diesem betonten Ereignis betroffene Mensch durch einen wahrnehmbaren Erzähler, oft sich selbst in der Rückschau, und durch Reflektiertheit stärker akzentuiert27 und damit auch der Art des Erzählens besondere Aufmerksamkeit gewidmet.28 Die Entdeckung, dass Strapinsky in Kleider machen Leute kein Graf ist, für den er gehalten wird,29 ist etwa ein solches zentrales Ereignis, durch das die Novelle, flankiert von der seelischen Situation des Protagonisten in einen Aufstieg desselben zum vermeintlichen Grafen30 sowie in eine versuchte Selbsttötung, Rettung durch und Neuordnung seines Lebens mit Nettchen nach dem Verlust seiner Ehre31 geteilt wird. Der im Hintergrund bemerkbare Erzähler versteht es, den Leser geschickt, z. B. durch den gezielten Einsatz von Diminutiven, für bestimmte Positionen oder Personen einzunehmen.

2.3 Poetischer Realismus

Mit poetischem Realismus ist ein ästhetisches Programm des 19. Jahrhunderts gemeint, das sich weniger die Nachahmung der gegebenen Wirklichkeit als vielmehr die Konstruktion einer Realität zum Ziel setzt.32 Freilich existieren verschiedenste Vorstellungen darüber, wie sich „die spannungsvolle Beziehung von Poesie und Wirklichkeit“33 in diesem weit gefassten ästhetischen Programm niederschlägt.34 „[D]as reine Aufeinanderwirken menschlicher Leidenschaften und innerlich notwendige Konflikte“35 darzustellen, entspricht einer prosaisch realistischen Herangehensweise, die dadurch poetisiert wird, dass in einer Fülle von Verweisungszusammenhängen auf inhaltlicher und erzähltechnischer Ebene das Allgemeine jenseits jeder anschaulichen Wirklichkeit geschaffen wird.36 Der poetische Realismus in diesem Kellerschen Sinn verbindet Prosa und Poesie anstatt die beiden Darstellungsweisen gegeneinander auszuspielen, Poesie an die Stellen der verschwindenden Prosa zu setzen, was z. B. Fontanes poetisch verklärtem Realismus oder dem pragmatischen Anspruch des Grenzboten-Realismus um Freytag und Schmidt nahe kommt37. Keller nennt dieses künstlerische Zusammenfügen von Figuren und Konflikten mit dem an ihnen zeitlos Haftenden „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“38.

3 Gottfried Kellers poetischer Realismus aus Begegnungen von Märchen und Novelle in und durch Spiegel, das Kätzchen

Die Suche nach Antworten auf die Frage nach Kellers Variante des poetischen Realismus durch die Fokussierung des Prosastücks Spiegel, das Kätzchen aus der Perspektive der Zusammenkunft von Novelle und Märchen erfolgt von außen nach innen und dann vom Kleinen zum Großen. Zuerst rücken die Seldwyla-Novellen, dann das Märchen als nur auf ihre Gattung konzentrierte Erzählungen39 in den Mittelpunkt, um mit dem von außen erfolgten Zusteuern auf ein Zusammentreffen die kunstvolle Verknüpfung der Gattungen zuerst in Spiegel, das Kätzchen und schließlich in Die Leute von Seldwyla ins Visier zu nehmen.

3.1 Novellen: Die Leute von Seldwyla, Last und Muster

Vordringlicher als das Aufspüren des Ausmaßes, inwieweit die Seldwyla-Novellen die Kriterien erfüllen, die von dieser Gattung zu erwarten sind, ist für diese Arbeit von Interesse, was die verschiedenen Erzählungen zusammenhält. In dieser Hinsicht ist zunächst die Vorrede aufschlussreich. Dort ist Folgendes über den Ort Seldwyla und die dort beheimateten Leute zu erfahren:

Seldwyla bedeutet […] einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch […] die kleine Stadt […] gelegen irgendwo in der Schweiz. […]; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum […] Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen, mitten in den grünen Bergen, […]. […]; denn dies ist das Wahrzeichen […], daß die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, […]. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst […].40

Die Protagonisten der Novellen sind aber nicht diese typischen Seldwyler, sondern Außenseiter, deren Geschichten „sonderbare Abfällsel, die so zwischen durch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise“41, darstellen, wie Pankraz, der Schmoller, der in der gleichnamigen Novelle einem phlegmatischen Dasein, einer Art bedrückenden Gemütlichkeit entsagt und sich in seiner Nachdenklichkeit zum Weltenbummler entwickelt,42 wie Sali und Vrenchen in Romeo und Julia auf dem Dorfe, die aufgrund bitterster Feindschaft ihrer Väter Manz und Marti der Wirklichkeit auch keine Lustigkeit abringen können, sondern Schuld aufgedrängt bekommen, und schließlich nur im Tod zueinander finden,43 oder wie die nicht Ortsansässigen Dietrich, der Schwabe, Jobst, der Sachse, und Fridolin, der Bayer, in Die drei gerechten Kammacher, die überzeugt sind, im schweizerischen Seldwyla langfristig Arbeit und materiellen Wohlstand greifen und die Angst vor einem sozialen Abstieg besiegen zu können44. Auf der einen Seite fallen somit bestimmte Ereignisse und Personen als Fabrikanten des Seins aus dem gewöhnlichen Rahmen des Scheins, auf der anderen Seite werden gerade darin Gleichförmigkeiten der Seldwyler demaskiert, zumal die typischen Seiten der in der Vorrede beschriebenen Bürger Seldwylas wie etwa die Befriedigung von oder Freude auf Vergnügungen45 parallel immer wieder nebenbei zur Sprache kommen.

In diese Gegenüberstellung fügt sich der Umstand, dass sich ein Großteil des Geschehens außerhalb Seldwylas abspielt. Pankraz hält sich mitunter in „Hamburg“46, „Indien“47, „Paris“48 und „Algier“49 auf. Sali und Vrenchen gehen zu Fuß von Seldwyla weg und erspähen letztlich am Fluß, der entsprechend der Vorrede ‚eine gute halbe Stunde‘ entfernt sein muss, „eine Stätte, um sich niederzulassen“50. Die Wirklichkeit klebt also weder am Ort Seldwyla, der zudem durch wiederholte z. B. in Breite einnehmenden Aufzählungen aufscheinende Epiphanien von Miniaturen wie die schon in der Einleitung geäußerten Gegenstände in einer Schublade der Züs Bünzlin zerstreut wird, noch an dessem sozialen Milieu, benötigt aber beides, um dies aufzuzeigen.

Als Drittes kommt die Zeit hinzu, die in ihrer Unauffälligkeit bisher erhaltene Erkenntnisse festigt. Schon in der Vorrede heißt es über Seldwyla: „Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren, und ist also immer das gleiche Nest; […]“51. Tatsächlich gibt der jeweilige Inhalt der Novellen wenig Aufschluss über die historische Zeit, in der dieser einzuordnen ist. Auch wenn ihn ein kleiner Hinweis wie der Einschub „war in den Zeitungen zu lesen“52 in Romeo und Julia auf dem Dorfe zeitlich deutlich einschränken kann, erfolgt der Fingerzeig erst im letzten Abschnitt und nimmt erst an dieser exponierten Stelle die eindeutige Zuweisung des zuvor dargestellten Inhalts durch die gleichzeitige Verbindung mit gesellschaftskritischer Ironie („[…], abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften“53 ) an die Zeit der Produktion und Publikation54 vor, aber genauso die Verweisung vom Besonderen ins Allgemeine, so dass nicht wieder enthistorisiert, sondern die Historisierung verbreitert wird.

In diese Richtung gehen außerdem Verknüpfungen sowie Ähnlichkeiten im Aufbau der Novellen, die die Haltlosigkeit der fiktiven Realität an den Grenzen der einzelnen Erzählung sichtbar macht. Als Beispiele für die Novellen vereinende Bezüge sind die schon konkretisierten ständig wiederkehrenden Eigenschaften und Gewohnheiten der Seldwyler zu nennen. Vielmehr als diese schon durch die Vorrede zu erwartenden Querverweise fällt aber die gleichartige Komposition der Novellen ins Auge. Manches dazu fand bereits in der Einleitung Erwähnung. Um den Stellenwert dieses Punktes herauszustellen, sind ergänzend das Motiv der Betrachtung von Personen als Eigentum und die Konstellation der Figuren im Schema 2-2-1 anzuführen. Ersteres bekundet sich darin, dass sich weder Sali und Vrenchen in Romeo und Julia auf dem Dorfe aus dem Zugriff ihrer Väter („‘Komm, küß mich noch ein Mal! Nein, geh, mach Dich fort! Es ist aus, es ist ewig aus, wir können nicht zusammenkommen!‘‘‘55 ) noch Fritz in Frau Regel Amrain und ihr Jüngster aus dem seiner Mutter („‘Wenn es heißt, daß Deine Mutter Dich hingeschickt habe, so bringt Dir dies keine Schande und mir bringt es Ehre, […]?‘“56 ) noch Dietrich in Die drei gerechten Kammacher aus dem Züs Bünzlins („Sogleich wollte er sich losreißen von Züsi´s Arm […]; aber sie hielt ihn so fest, daß es ihm nicht gelang, und klammerte sich an ihn, […].“57 ) befreien können. Darüber hinaus hat Pankraz, der Schmoller Schwierigkeiten, sich von der ihn demütigenden Lydia zu lösen („Kaum hatte ich sie [Lydia, FT58 ] wieder gesehen und einige Worte sprechen gehört, so war ich wieder ganz in sie vernarrt […].“59 ). In allen Fällen haben die Protagonisten wenig Schuld an ihrer Opferrolle, aber sie kaprizieren diese bis zum unaufhaltsamen Äußersten, dessen Intensität allerdings eine enorme Spannbreite aufweist. Ein wiederkehrendes Muster 2-2-1 in der Figurenanordnung ergibt sich aus der näheren Betrachtung derselben in den einzelnen Novellen: In Romeo und Julia auf dem Dorfe belassen die sich selbst in eine vernichtende Ecke der Wirklichkeit manövrierenden prosaischen Bauern Manz und Marti ihren Kindern Sali und Vrenchen nur den poetischen Ausweg, während der schwarze Geiger das verbindende Element darstellt. Ihm gehört der Acker, den kein Seldwyler ihm zugestehen will,60 weswegen er letztlich an Manz verkauft wird und den Streit zwischen den beiden Bauern entbrennt61. Der schwarze Geiger bekommt diese ihm zugefügte Ungerechtigkeit zu spüren, die er nun den Kindern der Bauern widerfahren lässt, indem er ihnen den Tod prophezeit.62 Bei einem Wiedersehen sind sich die drei freundlich gesinnt, sind sie doch in ähnlichen sozialen Zuständen, und Sali und Vrenchen erhalten sogar das Angebot eines Lebens in der Gemeinschaft der Vagabunden.63 Es ist zu erkennen, dass der schwarze Geiger viele Gesichter hat. Er ist Symbol des Hasses und des Todes, retardierendes Moment, insofern Spiegel der aus der Gesellschaft Gefallenen, als er das seitenverkehrte Bild dieser sozialen Gruppe und darin die typischen Seldwyler wiedergibt, und in all dem ein gutes Stück Poesie innerhalb der Prosa. In Pankraz, der Schmoller sind die Mutter und die Schwester des Protagonisten diejenigen, die sich selbst in die Wirklichkeit förmlich einspinnen.64 Ebenso verbunden sind Pankraz und der Vater Lydias in ihrer Kraft, einen eigenen Lebensweg abseits ihrer eigentlichen Heimat umzusetzen.65 Lydia ist die Figur, die in ihren Funktionen starke Ähnlichkeiten zum schwarzen Geiger aufzeigt. Es braucht hier nur daran erinnert zu werden, wie gegengleich Lydia und Pankraz sich aufeinander zu bewegen, eben wie Bild und Spiegelbild: „Je freundlicher und zutulicher Lydia war, desto ungewisser und zweifelhafter wurde ich [Pankraz, FT]“66. Auch das Poetische wird man der zur Shakespeare-Lektüre Verlockenden67 nicht absprechen können, bloß weil sie ein „gradausfahrendes Frauenfahrzeug ist […], die […] wohl weiß, was sie will“68. Weiter ist die Figurenkonstellation in Die drei gerechten Kammacher im Schema der Art 2-2-1 gestrickt. Das erste Gestaltenpaar bilden Jobst und Fridolin, die sich in ihrem Eifer nach einer guten Position in der Gesellschaft regelrecht aufzehren, und als zweites in Seldwyla recht und schlecht angekommenes Paar finden sich Züs Bünzlin und Dietrich zusammen.69 Der Inhaber des Kammachergeschäfts, der Meister, sorgt für die bedeutungsträchtigen Verbindungen, indem er seine drei Gesellen in eine verschärfte Wettbewerbssituation bringt,70 Dietrich und Züs als die Nachfolger seines Geschäftes erhält,71 und seinem prosaischen Dasein Poesie ertrotzt, indem er eine Schüssel Sauerkraut mit den Worten „das sind Fische“72 veredelt.

In der Summe kann festgehalten werden, dass die Einebnungen in „innere Notwendigkeit der Handlung und Einfachheit der Darstellung“73 als Funken schlagende Ausuferungen die singuläre Novelle sprengen und dem Knäuel der Novellen unter dem Titel Die Leute von Seldwyla System geben. Sie lassen ein Fluidum, ein dialektisches Prozessuales zwischen den Einzelnen und dem Kollektiv, zwischen dem Kleinen und dem Großen zirkulieren, das den Blick für eine vielseitige Auffächerung der Wirklichkeit schärft, wahrnehmbar macht, was sonst den Sinnen entgeht. Wunsch- und Ist-Zustand, Versuche, gewisse Vorstellungen von Freiheit umzusetzen, und sich aufdrängende Zwänge, Moderne und Tradition, Reflektiertheit und Getriebensein sowie Selbstverwirklichung und Fremdbeherrschung an den extremen Enden stehen auf zwei Seiten, die ihrem Dazwischen Priorität einräumen. Boeschenstein beschreibt dieses Umherkreisende mit der Formel „[d]ieses im Innern aufgefangene Außen“74 und unterstreicht damit neben dem Ergebnis auch den Vorgang, der letztlich den Dichter über verpflichtend anmutende Erwartungen setzt. Die Leute von Seldwyla wird in dieser ‚Reichsunmittelbarkeit der Poesie‘ zu einer episodenhaften Darstellung einer detaillierten allgemeingültigen Wirklichkeit, die sich in der Konfrontation von Individuum und Gesellschaft, in Konfliktsituationen, unabhängig von Dimensionen, in mannigfaltigen Verweisungszusammenhängen enthüllt. Wie es im Kapitel 2.2 zu sehen war, ist die Novelle des 19. Jahrhunderts dafür die geeignete literarische Form.

3.2 Märchen: Spiegel, das Kätzchen, diminuiertes Wesen hinter Funktion

Schon im Titel der Kurzprosa, noch vor Nennung der Gattung, in die sie einzuordnen sein soll, wird eine Lese- und Interpretationsanleitung gegeben. Mit dem Diminutiv Kätzchen als Wertung steht offenbar nicht ein ausgewachsener Kater im Vordergrund, sondern der Spiegel, der nicht in der Verkleinerungsform und zuerst genannt wird. Somit dürfte Spiegel nicht bloße Figur, sondern vor allem Medium sein, das die Ausgangslage in seine Kehrseite überträgt, weniger konkretisieren als verallgemeinern. Die dadurch zu erwartende Struktur und das Schema des dem Titel Folgenden sind nach Kapitel 2.1 Merkmale des Märchens. Insofern könnte die im Paratext gegebene Gattungsbezeichnung stimmen.

Der kurze einleitende Rahmentext führt wie folgt auf das Märchen hin:

[…], so sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmer abgekauft! Dies Sprichwort ist zwar auch anderwärts gebräuchlich, aber nirgends hört man es so oft wie dort, was vielleicht daher rühren mag, daß es in dieser Stadt eine alte Sage gibt über den Ursprung und die Bedeutung dieses Sprichworts.75

Verwundern lässt die Tatsache, dass das annoncierte Märchen zur ‚alte[n] Sage‘ wird, die „vorgeblich wahre Begebenheiten“76 an einem existenten Ort zu einer bestimmten Zeit wiedergibt.77 Hat Spiegel, das Kätzchen schon an seinem ersten Eckpfeiler, der den Anschluss an eine gegenständliche Wirklichkeit an- und aufgrund der Ankündigung einer zeitlichen Verlagerung des Geschehens weit in die Vergangenheit vorgibt, seine Gattung verlassen? Der Schein eines Überbietens der Wirklichkeitsnähe hegt jedoch vielmehr den Verdacht eines Unterbietens in Bezug auf das eigentliche Märchen, das von diesem Bemühen befreit sein könnte. Der Kern des Märchens, ohne dessen Rahmen und ohne die von Spiegel erzählte Binnengeschichte, dessen Integration ich später eingehender beleuchten will, ließe danach einer fassbaren Wirklichkeit wenig Beachtung zukommen.

Dafür spricht der Abschlusssatz, der zweite Eckpfeiler, in dem die Orts- und Zeitangabe sowie das Sprichwort, dessen Ursprung nun ausgebreitet wurde, die Informationen des ersten Abschnitts in Erinnerung rufen,78 weil sie in jener großen Zwischenspanne dadurch in Vergessenheit geraten sind, dass die Dimensionen des Rahmens dort unverändert blieben, und erst am Ende ihre anfängliche destabilisierende Wirkung ausgleichen.79

[...]


1 Vgl. Thomas Böning (Hg.): Kommentar. In: K 4, S. 616.

2 Im Wesentlichen beschränke ich mich dabei auf den ersten Band von Die Leute von Seldwyla.

3 Vgl. Bernd Neumann (Hg.): Nachwort. In: Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Suttgart: Reclam 1993 (= Reclam Universal-Bibliothek 6179), S. 656, S. 678-679.

4 „[…] indessen ich mir auf die beiden letzten Schnurren am meisten einbildete, was wohl daran liegt, daß sie formell am fertigsten und reifsten sind […]“ (Brief an Hermann Hettner, Zürich, 16. April 1856. In: Gesammelte Briefe. Hg. v. Carl Helbling. 4 Bde. Bern: Benteli 1950-1954, Bd. 1, S. 428).

5 Solitäre Publikationen sind im Wesentlichen die Folgenden: Roy C. Cowen: Spiegel und Widerspiegelung. Zu Kellers Märchen, Spiegel, das Kätzchen. In: Zu Gottfried Keller. Hg. v. Hartmut Steinecke. Stuttgart: Klett 1984, S. 68-78; Therese Müller-Nussmüller: Spiegel das Kätzchen: Interpretation. Dissertation. Basel 1974; Hans Poser: Spiegel, das Kätzchen - Bürgerliche Welt im Spiegel des Märchens. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Hg. v. Gerd Labroise. Bd. 9. Amsterdam: Rodopi 1979, S. 33-44.

6 Vgl. z. B. Böning [Anm. 1], S. 639.

7 Brief an Berthold Auerbach, 25. Juni 1860. In: Helbling [Anm. 4], Bd. 3.2, S. 195.

8 Spiegel, das Kätzchen ist am Schluss des 1856 publizierten ersten Bands und bei Hinzunahme des 1874 erschienenen zweiten Bands in der Mitte positioniert. Vgl. Böning [Anm. 1], S. 653.

9 K 4, S. 82.

10 Vgl. Müller-Nussmüller [Anm. 5], S. 94; vgl. Poser [Anm. 5], S. 43.

11 Vgl. K 4, S. 207.

12 Vgl. K 4, S. 245-246.

13 Vgl. K 4, S. 256.

14 Der Rahmen beschränkt sich auf den ersten und letzten Abschnitt (vgl. K 4, S. 69, S. 144).

15 Pankraz erzählt seine Geschichte als Analepse mit unterbrechenden Rückbindungen an die Gegenwart nach seiner Wiederankunft in Seldwyla (vgl. K 4, S. 28-67).

16 Vgl. K 4, S 240.

17 Zu Märchen bietet Lüthi eine übersichtliche und reichhaltige Zusammenstellung (Max Lüthi: Märchen. Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Bd. 16. Stuttgart: J.B. Metzler 1996). Poetischer Realismus und Novelle betreffend sei beispielhaft verwiesen auf: Wolfgang Preisendanz: Wege des Realismus. Zur Poetik und Erzählkunst im 19. Jahrhundert. München: Fink 1977; Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Düsseldorf: Bagel 1987.

18 Vgl. Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. 3. Aufl.. München: Fink 2002 (= UTB 2367), S. 10.

19 Heinz Rölleke: Art. Märchen. In: RL II, S. 513.

20 Vgl. Lüthi [Anm. 17], S. 115.

21 Vgl. Klotz [Anm. 18]. S. 10-12, S. 20.

22 Vgl. Müller-Nussmüller [Anm. 5], S. 71-73; vgl. Lüthi [Anm. 17], S. 25.

23 Vgl. Walter Scherf: Das Märchenlexikon. 2 Bde. München: Beck 1995, S. 1309.

24 Hier und im Folgenden: Vgl. Horst Thomé, Winfried Wehle: Art. Novelle. In: RL II, S. 725-726.

25 Inwieweit Goethes „unerhörte Begebenheit“ (Goethes Gespräch mit Eckermann, 29. Januar 1827. In: Johann P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. Heinz Schlaffer. München: Hanser 1986, S. 203) für die Novelle Gültigkeit beansprucht, soll nicht im Vordergrund stehen.

26 Vgl. Hans Richter: Gottfried Kellers frühe Novellen. Berlin: Rütten und Loening 1960, S. 41.

27 Vgl. Josef Kunz: Die deutsche Novelle im 19. Jahrhundert. 2. Aufl.. Berlin: E. Schmidt 1978, S. 10-14.

28 Vgl. Wiese [Anm. 17], S. 14.

29 Vgl. K 4, S. 314.

30 Vgl. K 4, S. 286-314.

31 Vgl. K 4, S. 315-332.

32 Vgl. Gerhard Plumpe: Art. Realismus. In: RL III, S. 221-222.

33 Yomb May: Die Leute von Seldwyla als Paradigma des bürgerlichen Realismus. In: Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien. Hg. v. Hans-Joachim Hahn, Uwe Seja. Bern: P. Lang 2007, S. 72-73.

34 Vgl. Preisendanz [Anm. 17], S. 111-113.

35 Brief an Wilhelm Baumgartner, September 1851. In: Helbling [Anm. 4], Bd. 1, S. 296.

36 Vgl. Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 4: Vormärz und Realismus. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014 (= UTB 3874), S. 206-207.

37 Vgl. Dietrich Harth: Zwischen Restauration und Modernisierung. Zur Literaturgeschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Hg. v. FernUniversität in Hagen, Kultur- und Sozialwissenschaften. 2014, S. 103, S. 105-106.

38 Brief an Paul Heyse, 27. Juli 1881. In: Helbling [Anm. 4], Bd. 3.1, S. 57.

39 So bezeichnet Keller selbst die Prosastücke in Die Leute von Seldwyla (vgl. Stefan Neuhaus: Märchen. Tübingen: Narr Francke Attempto (= UTB 2693) 2005, S. 217, S. 219).

40 K 4, S. 11.

41 K 4, S. 14.

42 Vgl. K 4, S. 28-67.

43 Vgl. K 4, S. 97-144.

44 Vgl. K 4, S. 195-239.

45 Vgl. K 4, S. 20, S. 184, S. 236.

46 K 4, S. 30.

47 K 4, S. 32.

48 K 4, S. 62.

49 K 4, S. 63.

50 K 4, S. 143.

51 K 4, S. 11.

52 K 4, S. 144.

53 K 4, S. 144.

54 Die Ereigniswertung ist erst seit dem 19. Jh. Charakteristikum der Zeitung (vgl. Hans-Albrecht Koch: Art. Zeitung. In: RL III, S. 888).

55 K 4, S. 109.

56 K 4, S. 186.

57 K 4, S. 234-235.

58 Meine Anmerkungen werden mit dem Sigle FT angegeben.

59 K 4, S. 61.

60 Vgl. K 4, S. 72-73.

61 Vgl. K 4, S. 78-82.

62 Vgl. K 4, S. 103.

63 Vgl. K 4, S. 137-138.

64 Vgl. K 4, S. 15-17.

65 Vgl. K 4, S. 33-34.

66 K 4, S. 48-49.

67 Vgl. K 4, S. 45.

68 K 4, S. 47.

69 Vgl. K 4, S. 238-239.

70 Vgl. K 4, S. 217.

71 Vgl. K 4, S. 238-239.

72 K 4, S. 196.

73 Müller-Nussmüller [Anm. 5], S. 15.

74 Hermann Boeschenstein: Gottfried Keller. Grundzüge seines Lebens und Werkes. 2. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 1977, S. 67-68.

75 K 4, S. 240.

76 Norbert Voorwinden: Art. Sage. In: RL III, S. 347.

77 Das Sprichwort existiert tatsächlich, die konkrete historische Herkunft war Keller aber nicht bekannt (vgl. Brief an Friedrich Theodor Vischer, 29. Juni 1875. In: Helbling [Anm. 4], Bd. 3.1, S. 139).

78 Vgl. K 4, S. 279.

79 Dass die Zeit des Geschehens erst nach der Eröffnung auf die Angabe „vor mehreren hundert Jahren“ (K 4, S. 240) etwas konkretisiert wird, ist nur ein Hinweis, dass das Eingerahmte losgelöst zu betrachten sein kann und muss, aber freilich nur, um mit den Erkenntnissen auch das Ganze zu sehen und zu verstehen.

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Details

Titel
Poetischer Realismus von Gottfried Keller. Begegnungen von Märchen und Novelle in "Spiegel, das Kätzchen"
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
27
Katalognummer
V302500
ISBN (eBook)
9783668002340
ISBN (Buch)
9783668002357
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
poetischer, realismus, gottfried, keller, begegnungen, märchen, novelle, spiegel, kätzchen
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Frank Tichy (Autor:in), 2015, Poetischer Realismus von Gottfried Keller. Begegnungen von Märchen und Novelle in "Spiegel, das Kätzchen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302500

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