Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und Mathematikleistung untersucht in einer neunten Realschulklasse


Examensarbeit, 2015

185 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

1 Diskussion des Begriffs der Rechenstörung
1.1 Rechenstörungen laut dem Klassifikationskatalog der WHO 9
1.2 Die Diskrepanzdefinition der WHO in der Kritik 13
1.2.1 Kritische Autoren
1.2.1.1 Michael Gaidoschik
1.2.1.2 Hans-Dieter Gerster
1.2.1.3 Hans Grissemann
1.2.1.4 Karin Landerl und Liane Kaufmann
1.2.1.5 Jens Holger Lorenz und Hendrik Radatz
1.2.1.6 Wilhelm Schipper
1.2.2 Zusammenfassung der Hauptkritikpunkte und Stellungnahme
1.3 Illustration von Rechenschwierigkeiten anhand dreier Fallberichte 37
1.3.1 Der siebenjährige Kai
1.3.1.1 Vorstellung des Kindes
1.3.1.2 Beschreibung der Rechenschwierigkeiten
1.3.1.3 Reaktionen auf die Rechenschwierigkeiten
1.3.1.4 Langfristige Auswirkungen
1.3.1.5 Ursachenvermutungen
1.3.2 Die achtjährige Melanie
1.3.2.1 Vorstellung des Kindes
1.3.2.2 Beschreibung der Rechenschwierigkeiten
1.3.2.3 Reaktionen auf die Rechenschwierigkeiten
1.3.2.4 Langfristige Auswirkungen
1.3.2.5 Ursachenvermutungen
1.3.3 Der zehnjährige Adam
1.3.3.1 Vorstellung des Kindes
1.3.3.2 Beschreibung der Rechenschwierigkeiten
1.3.3.3 Reaktionen auf die Rechenschwierigkeiten
1.3.3.4 Langfristige Auswirkungen
1.3.3.5 Ursachenvermutungen

2 Medien und Bildung
2.1 Fernsehverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland 59
2.1.1 KIM-Studie und JIM-Studie im Vergleich
2.1.1.1 Gerätebesitz
2.1.1.2 Freizeitaktivitäten
2.1.1.3 Medienbindung
2.1.1.4 Konsumverhalten
2.1.1.5 Lieblingssendungen
2.1.1.6 Langfristige Veränderungen im Medienverhalten
2.1.1.7 Zusammenfassung der Studienergebnisse
2.1.2 Weitere Studienprojekte: mini-KIM-Studie und FIM-Studie
2.1.2.1 Forschungsergebnisse der mini-KIM-Studie
2.1.2.2 Forschungsergebnisse der FIM-Studie
2.1.3 Ergebniszusammenfassung der vier Studienprojekte
2.2 Populäre Meinungen zu Fernsehkonsum und Bildung 90
2.2.1 Öffentliche Haltungen zu Fernsehen und Bildung
2.2.2 Fernsehkritiker versus Fernsehbefürworter
2.2.2.1 Kritiker des Fernsehapparates: Manfred Spitzer
2.2.2.2 Kritik an Spitzers Thesen
2.2.2.3 Befürworter des Fernsehens: Steven Johnson
2.2.2.4 Kritik an Johnsons Thesen
2.3 Untersuchungen zu Fernsehkonsum und Bildung 111
2.3.1 KFN-Studie
2.3.1.1 Zum Gerätebesitz der Viertklässler
2.3.1.2 Gerätebesitz und Konsumverhalten
2.3.1.3 Schulleistung
2.3.2 Winterstein-Experiment
2.3.3 Sisimpur-Studie
2.3.4 Fazit

3 Empirische Untersuchung
3.1 Erhebung durch Schülerfragebögen und Lehrerbewertungsbogen 122
3.1.1 Datenerhebungstabelle
3.1.2 Datenaufbereitung
3.1.2.1 Aufbereitung nach der Dauer des Fernsehkonsums
3.1.2.2 Aufbereitung nach der Art des Fernsehkonsums
3.1.2.3 Aufbereitung nach der Art der sonstigen Freizeitgestaltung
3.2 Explorative Datenanalyse 142
3.2.1 Divisive hierarchische Analyse
3.2.1.1 Aufbau der Grafiken
3.2.1.2 Auswertung der hierarchischen Analyse
3.2.1.3 Interpretationen
3.2.2 Tabellarische Analyse
3.2.2.1 Gesamtpopulation
3.2.2.2 Feminine Teilpopulation
3.2.2.3 Maskuline Teilpopulation
3.2.2.4 Auswertung der tabellarischen Analyse

Fazit

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Soziodemografie der befragten Kinder

(Quelle: KIM 2012)

Abbildung 2: Soziodemografie der befragten Jugendlichen

(Quelle: JIM 2013)

Abbildung 3: Gerätebesitz der Kinder (Angabe der Haupterzieher)

(Quelle: KIM 2012)

Abbildung 4: Gerätebesitz Jugendlicher

(Quelle: JIM 2013)

Abbildung 5: Freizeitaktivitäten der Kinder

(Quelle: KIM 2012)

Abbildung 6: Non-mediale Freizeitaktivitäten der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2013)

Abbildung 7: Mediale Freizeitaktivitäten der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2013)

Abbildung 8: Medienbindung der Kinder

(Quelle: KIM 2012)

Abbildung 9: Medienbindung der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2013)

Abbildung 10: Geschätzte Nutzungsdauer pro Tag

(Quelle: KIM 2012)

Abbildung 11: Fernsehkonsum der Jugendlichen in der Woche

(Quelle: 15 Jahre JIM)

Abbildung 12: Internetnutzung der Jugendlichen

(Quelle: 15 Jahre JIM)

Abbildung 13: Gerätebesitz der Kinder (Angabe des Haupterziehers)

(Quelle: KIM 2000)

Abbildung 14: Freizeitaktivitäten der Kinder

(Quelle: KIM 2000)

Abbildung 15: Medienbindung der Kinder

(Quelle: KIM 2000)

Abbildung 16: Gerätebesitz der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2000)

Abbildung 17: Non-mediale Freizeitaktivitäten der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2000)

Abbildung 18: Mediale Freizeitaktivitäten der Jugendlichen

(Quellen: JIM 2000)

Abbildung 19: Medienbindung der Jugendlichen

(Quelle: JIM 2000)

Abbildung 20: Fernsehkonsum in Deutschland nach Van Eimeren & Ridder

(Quelle: Spitzer 2012)

Abbildung 21: Zensur im Fach Deutsch nach Myrtek

(Quelle: Spitzer 2012)

Abbildung 22: Fernsehkonsum und Wortschatz (hoher IQ) nach Ennemoser

(Quelle: Spitzer 2012)

Abbildung 23: Fernsehkonsum und Wortschatz (normaler IQ) nach Ennemoser

(Quelle: Spitzer 2012)

Abbildung 24: Fernsehkonsum und Wortschatz (niedriger IQ) nach Ennemoser

(Quelle: Spitzer 2012)

Abbildung 25: Komplexität jeder Episode der Serie Polizeibericht

(Quelle: Johnson 2006)

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 26: Komplexität der achten Episode der Serie Die Sopranos

(Quelle: Johnson 2006)

Abbildung 27: Soziales Netzwerk zur Serie Dallas aus dem Jahre

(Quelle: Johnson 2006)

Abbildung 28: Soziales Netzwerk zur Serie 24 - Twenty Four aus dem Jahre

(Quelle: Johnson 2006)

Abbildung 29: Besitz eines Fernsehers

(Quelle: Pfeiffer et. al. 2006)

Abbildung 30: Fernsehkonsum von Mädchen und Jungen im Besitz eines Fernsehers

(Quelle: Pfeiffer et. al. 2006)

Abbildung 31: Abweichung der Schulnote vom Durchschnitt bzgl. Gerätebesitz

(Quelle: Pfeiffer et. al. 2006)

Abbildung 32: Abweichung der Schulnote vom Durchschnitt bzgl. Fernsehkonsum

(Quelle: Pfeiffer et. al. 2006)

Abbildung 33: Schulempfehlungen von Mädchen und Jungen

(Quelle: Pfeiffer et. al. 2006)

Abbildung 34: Zeichnungen von Vielsehern (S. 115 unten) und Wenigsehern

(Quelle: Winterstein 2006)

Abbildung 35: Entwicklung der Lese- und Schreibleistung

(Quelle: Lee 2008)

Abbildung 36: Entwicklung der Mathematikleistung

(Quelle: Lee 2008)

Abbildung 37: Erster Teil der Datenerfassungstabelle

(Quelle: ED)

Abbildung 38: Zweiter Teil der Datenerfassungstabelle

(Quelle: ED)

Abbildung 39: Fernsehkonsum (in Min.) der befragten Schülerinnen und Schüler

(Quelle: ED)

Abbildung 40: Fernsehkonsum (in Min.) der befragten Mädchen

(Quelle: ED)

Abbildung 41: Fernsehkonsum (in Min.) der befragten Jungen

(Quelle: ED)

Abbildung 42: Datenaufbereitung nach der Art des TV-Konsums (gesamt)

(Quelle: ED)

Abbildung 43: Datenaufbereitung nach der Art des TV-Konsums (Mädchen)

(Quelle: ED)

Abbildung 44: Datenaufbereitung nach der Art des TV-Konsums (Jungen)

(Quelle: ED)

Abbildung 45: Datenaufbereitung nach Art der sonst. Freizeitgestaltung (gesamt)

(Quelle: ED)

Abbildung 46: Datenaufbereitung nach der Art der sonst. Freizeitgestaltung (Mädchen)

(Quelle ED)

Abbildung 47: Datenaufbereitung nach der Art der sonst. Freizeitgestaltung (Jungen)

(Quelle: ED)

Abbildung 48: Beispiel einer Hierarchieebene

(Quelle: ED)

Abbildung 49: Beispiel einer Hierarchieebene

(Quelle: ED)

Abbildung 50: Beispiel einer Hierarchieebene

(Quelle: ED)

Abbildung 51: Beispiel einer Hierarchieebene

(Quelle: ED)

Abbildung 52: Beispiel einer Hierarchieebene

(Quelle: ED)

Abbildung 56: Pfadbestimmungstabelle

(Quelle: ED)

Abbildung 57: Bestimmung der einzelnen Gruppen aus der Menge der gesamten Schülerpopulation gemäß den Pfaden

(Quelle: ED)

Abbildung 58: Pfadgruppentabelle gemäß der gesamter Schülerpopulation

(Quelle: ED)

Abbildung 59: Bestimmung der einzelnen Gruppen aus der Menge der femininen Teilpopulation gemäß den Pfaden

(Quelle: ED)

Abbildung 60: Pfadgruppentabelle gemäß der femininen Teilpopulation

(Quelle: ED)

Abbildung 61: Bestimmung der einzelnen Gruppen aus der Menge der maskulinen Teilpopulation gemäß den Pfaden

(Quelle: ED)

Abbildung 62: Pfadgruppentabelle gemäß der maskulinen Teilpopulation

(Quelle: ED)

(Hinweis: Die Abkürzung ED steht für eigene Darstellung)

Einleitung

Medien gehören genauso wie die Mathematik zum festen Bestandteil unseres Alltags. Deshalb wird auch immer wieder in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung über den Einfluss der Medien auf Menschen diskutiert. Besonders kontrovers wird die Diskussion aber im Hinblick auf den Schulerfolg bzw. Misserfolg von Kindern ge- führt. Es existiert eine große Anzahl von Menschen, die behaupten, Medienkonsum schädige das Kind und müsse zwangläufig zu schlechten Noten in der Schule führen. Sollte der Medienkonsum wirklich die Fähigkeiten der Kinder negativ beeinflussen, wäre dies für die weitere Entwicklung derjenigen Kinder katastrophal, die gerne und viel konsumieren. Da mathematische Fähigkeiten zu den Kulturtechniken gezählt werden, das heißt es handelt sich hierbei um Fähigkeiten, die zur Bewältigung von Alltagsproblemen zwingend benötigt werden, wäre eine unzureichende Kompetenz in diesem Bereich gleichbedeutend mit einer eingeschränkten Lebensqualität. Es gibt al- lerdings auch jene Personen, welche die Diskussion für emotional aufgeladen halten und der Meinung sind, dass konsumierende Kinder nicht Gefahr laufen, später schlechtere Bildungsabschlüsse vorweisen zu können als diejenigen Kinder, die nicht konsumieren.

Es ist aber bekannt, dass die Kulturtechnik einer hohen Anzahl von Kindern große Schwierigkeiten bereitet, welche sich im Falle eines negativen Einflusses von Medien noch verstärken könnten. Da der Fernseher, dies zeigen später vorgestellte Studien, in fast jedem Elternhaus zu finden ist, kann die Frage zugelassen werden, ob das Konsumieren von Fernsehsendungen und -filmen Auswirkungen auf die Schulleistung hat. Diese Fragestellung soll in der Arbeit diskutiert werden. Aufgrund dessen lautet der Titel dieser Staatsarbeit Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und der Ma thematikleistung untersucht in einer neunten Realschulklasse.

Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel unterteilt, die wie folgt lauten:

1 Diskussion des Begriffs der Rechenstörung

In diesem Kapitel wird über eine Definition von Mathematikschwierigkeiten diskutiert, die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird. Bei der Diskussion werden kritische Autoren hinzugezogen, welche den vorge- schlagenen Definitionsversuch für problematisch halten. Zudem wird unter Berücksichtigung der Kritik an der erwähnten Definition eine eigene Stel- lungnahme versucht. Anschließend folgt die Vorstellung dreier Fallbeispiele, um einen konkreten Eindruck davon gewinnen zu können, wie sich größere Rechenprobleme im Leben von betroffenen Kindern äußern. Hier wird unter anderem auch beobachtet, ob sich bei den vorgestellten Kindern ein verstärk- ter Medienkonsum zeigt, der eventuell die Schulleistungen beeinträchtigen könnte.

2 Medien und Bildung

In diesem Kapitel wird auf die möglichen Auswirkungen des Fernsehkonsums auf die Bildung eingegangen. Dabei werden zuallererst Studien vorgestellt, die das Fernsehverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland er- gründet haben. Anschließend werden Meinungen, die innerhalb unserer Ge- sellschaft weit verbreitet sind, zum Themenkomplex Fernsehkonsum vorgestellt und überprüft, inwieweit sie wissenschaftlichen Studien standhal- ten, die sich vor allem mit der Frage beschäftigt haben, inwieweit Fernseh- konsum die Schulleistung beeinflusst.

3 Empirische Untersuchung

Im dritten und letzten Kapitel werden dann die Ergebnisse der selbst durchge- führten Erhebung vorgestellt, die an einer neunten Realschulklasse vollführt wurde. Dabei werden Forschungsergebnisse der zuvor vorgestellten Studien dahingehend überprüft, inwieweit sie mit den eigenen Forschungsergebnissen übereinstimmen.

Schlussendlich wird in einem Schlusswort nochmals auf die Arbeit und die ihr zu entnehmenden Erkenntnisse zurückgeblickt, wobei die drei vorgestellten Kapitel zusammengefasst wiedergegeben werden sollen.

1 Diskussion des Begriffs der Rechenstörung

Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Definitionsversuch der Weltge- sundheitsorganisation (WHO) für besondere Rechenschwierigkeiten1. Zuallererst wird die offizielle Definition der WHO samt den klinisch-diagnostischen Leitlinien sowie den Forschungskriterien bekannt gemacht. Anschließend werden ausgewählte führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Dyskalkulie, Rechenschwäche bzw. Rechenstörung vorgestellt, die sich kritisch mit der WHO-Definition auseinanderge- setzt haben. Es wird der Frage nachgegangen, welche Schwierigkeiten mit der For- mulierung einer solchen Definition einhergehen. Zudem soll verdeutlicht werden, was diese Schwierigkeiten schlussendlich für die Kinder mit besonderen Rechenschwie- rigkeiten zu bedeuten haben. Während der Zusammenfassung der zentralen Diskussi- onspunkte wird eine eigene Stellungnahme versucht.

1.1 Rechenstörungen laut dem Klassifikationskatalog der WHO

Seit 1993 dient die medizinische Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme als Richtschnur (vgl. Wittmann 2003, S. 45). Im Original heißt das weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems und kürzt sich mit ICD ab. Momentan liegt die zehnte Revision vor, weshalb in der Literatur im Zusammenhang mit dem Klassifikationssystem der WHO knapp das Kürzel ICD-10 genutzt wird. Hierzulande sind alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet,

„ Diagnosen nach Satz 1 Nr. 1 und 2 [...] nach der Internationalen Klas- sifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesmi- nisteriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung zu ver schlüsseln. “

(Sozialgesetzbuch V § 295: Abrechnung ärztlicher Leistungen)

In dem Katalog findet man in der Ausgabe von 2015 im fünften Kapitel unter dem Titel Psychische und Verhaltensstörungen eine Hauptkategorie namens Entwicklungs störungen. Diese teilt sich nochmals in mehrere diagnostische Unterkategorien mit den Kürzeln F80 bis F89 auf. Die Rechenstörung mit dem Kürzel F81.2 wird der Unterkategorie Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten (F81) untergeordnet und wird wie folgt beschrieben:

„ Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenz- minderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defi- zit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die hö- heren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Ge- ometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden. “

(WHO 2015 nach DIMDI, S. 221)

Es existiert darüber hinaus eine Ergänzungsausgabe der ICD-10, welche den Titel ICD-10: Classification of Mental and Behavioural Disorders - Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines besitzt. Diese spezielle Ausgabe basiert auf dem fünften Kapitel der ICD-10 und enthält einige Ausführungen, die in der kurzen Definition im Standardwerk der WHO unter dem Kürzel F81.2 entweder sehr knapp beschrieben sind oder ganz fehlen. In diesen klinisch-diagnostischen Leitlinien wird ausführlicher darauf eingegangen, was unter einer Rechenstörung verstanden wird. Es wird aber auch auf den jetzigen Forschungsstand eingegangen als auch auf typische Defizitbe- reiche, die bei Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten besonders häufig auf- treten. Zusätzlich werden Hilfestellungen gegeben, wie diagnostisch verfahren wer- den sollte:

„ Die Rechenleistung des Kindes muss eindeutig unterhalb des Niveaus liegen, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Schulklasse zu erwarten ist. Dies wird am besten auf der Grundlage ei- nes standardisierten Einzeltests für Rechenfähigkeit beurteilt. Die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten des Kindes müssen im Normbereich liegen, nach Möglichkeit beurteilt auf der Grundlage einzeln angewendeter, an- gemessener standardisierter Testverfahren. Die Rechenschwierigkeiten dürfen nicht wesentlich auf unangemessene Unterrichtung oder direkt auf Defizite im Sehen, Hören oder auf neurologische Störungen zurück- zuführen sein. Ebenso dürfen sie nicht als Folge irgendeiner neurologi- schen, psychiatrischen oder anderen Krankheit erworben worden sein. Rechenstörungen wurden weniger untersucht als Lesestörungen, und die Kenntnisüber Vorläufer, Verlauf, Korrelate und Prognose ist relativ be- grenzt. Dennoch scheinen bei Kindern mit diesen Störungen die akusti- sche Wahrnehmung und die verbalen Fähigkeiten eher im Normbereich zu liegen, während visuellräumliche und Fähigkeiten der optischen Wahrnehmung eher beeinträchtigt sind, anders als bei vielen Kindern mit Lesestörungen. Einige Kinder haben zusätzlich soziale und emotionale Verhaltensprobleme, jedoch istüber deren Charakteristika oder Häufig- keit wenig bekannt. Man glaubt, dass Schwierigkeiten in den sozialen In- teraktion besonders häufig auftreten.

Die Rechenschwierigkeiten, die auftreten, sind verschiedenartig. Es kommen vor: Ein Unvermögen, die bestimmten Rechenoperationen zu- grunde liegenden Konzepte zu verstehen; ein Mangel im Verständnis ma- thematischer Ausdrücke oder Zeichen; ein Nichtwiedererkennen numerischer Symbole; eine Schwierigkeit im Verständnis, welche Zahlen für das in Betracht kommende arithmetische Problem relevant sind; Schwierigkeiten, Zahlen in die richtige Reihenfolge zu bringen oder De- zimalstellen oder Symbole während des Rechenvorgangs einzusetzen; mangelnder räumlicher Aufbau von Berechnungen; und eine Unfähig- keit, das Einmaleins befriedigend zu lernen. “

(Dilling et. al. 2011, S. 338f.)

Zusätzlich gibt es noch eine weitere Ergänzungsausgabe, in welcher Forschungskriterien beschrieben werden, die Auskunft darüber geben, wann eine Rechenstörung attestiert werden kann:

„ A. Es liegt ein Wert in einem standardisierten Rechentest vor, der mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus liegt, das aufgrund des chronologischen Alters und der allge meinen Intelligenz des Kindes zu erwarten wäre.
B. Die Lesegenauigkeit, das Leseverständnis sowie das Recht- schreiben liegen im Normbereich (zwei Standardabweichungen vom Mittelwert).
C. In der Vorgeschichte keine ausgeprägten Lese- und Recht- schreibschwierigkeiten.
D. Beschulung in einem zu erwartenden Rahmen (es liegen keine au ß ergewöhnlichen Unzulänglichkeiten in der Erziehung vor).
E. Die Rechenschwierigkeiten bestehen seit den frühesten Anfän- gen des Rechenlernens.
F. Die unter A. beschriebene Störung behindert eine Schulausbil- dung oder alltägliche Tätigkeiten, die Rechenfertigkeiten erfor- dern. “

(Dilling et al. 1994, S. 177)

1.2 Die Diskrepanzdefinition der WHO in der Kritik

1.2.1 Kritische Autoren

1.2.1.1 Michael Gaidoschik

Der österreichische Mathematikdidaktiker und Gründer sowie wissenschaftlicher Lei- ter des Rechenschwäche-Instituts in Wien kritisiert in seinem Buch Rechenschwäche- Dyskalkulie. Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern, dass die sogenannte Diskrepanzdefinition der WHO zu kurz greift, denn Schülerinnen und Schüler würden nur dann als rechenschwach charakterisiert, wenn eine deutliche Dis- krepanz zwischen Rechenfertigkeiten und Fertigkeiten im Lesen und Schreiben be- obachtbar ist. Solch eine Definition müsse aber als überholt betrachtet werden, denn sie werde „ dem Zusammenhang zwischen ‚ Rechenschwäche ’ und kindlicher Psyche nicht gerecht “ (Gaidoschik 2003, S. 11). Gaidoschik hinterfragt, ob die Definition auch alle Kinder mit Rechenschwierigkeiten erfasse und kommt zum Schluss, dass dies nicht der Fall sei. Es gebe eine große Anzahl von Kindern, deren Mathematik- probleme zwangsläufig zu einer Schwächung des Selbstbewusstseins führen würden, was enorme Auswirkungen auf die weitere Schulkarriere haben könne. Ab dem Zeit- punkt nämlich, ab welchem sich das Kind selbst aufgibt, würden sich grundsätzliche Lernschwierigkeiten und Schulängste einstellen, das heißt es kommt zu Leistungsaus- fällen in weiteren Fächern als auch zu seelischen Gebrechen. Diese Misserfolgsspira- le und die daraus resultierende Selbstaufgabe führe dann zu einem „ Teufelskreis- Rechenstörung “ (ebd., S.11). Die Kinder würden dann „ vom Mathematikversager zum generellen Schulversager werden “ (ebd., S.12). Dahingehend kritisiert er den Definitionsversuch der WHO, denn für die Diagnose Rechenstörung müsse ein Intel- ligenztest veranstaltet werden, der allerdings bei Kindern, die sich in der oben ge- nannten Misserfolgsspirale befinden, aus zweierlei Gründen schlecht ausfallen muss: Erstens würden grundsätzlich in allen Intelligenztests auch mathematische Fähigkei- ten abgeprüft, weshalb Kinder mit Rechenschwierigkeiten grundsätzlich schlecht ab- schneiden dürften. Und zweitens würden Kinder, die sich schon in dieser Misserfolgsspirale befinden, noch einmal schlechter abschneiden, denn bei ihnen könnten sich schon allgemeine Lernstörungen und Schulängste einstellst haben, die zu einem äußerst geringen Intelligenzquotienten (IQ) führen könnten. Es ist wahr- scheinlich, dass eine gewisse Anzahl von Kindern die Diagnose Rechenstörung nicht erhält, da aufgrund des niedrigen IQ die Diskrepanz zur Mathematikleistung nicht groß genug ausfällt. Und dies, obwohl diese Kinder sehr wohl große Rechenschwie- rigkeiten besitzen, die auch verantwortlich für das schlechte Abschneiden beim Intel- ligenztest waren. Auch diese Kinder, die keine Diagnose gestellt bekommen, sind einzelförderungsbedürftig, würden aber von solchen Fördermaßnahmen ausgeschlos- sen werden. Diesen Kindern werde dann oft eine allgemeine Minderbegabung nach- gesagt. Dies wären dann „ die bösen Folgen eines ursprünglich auf Mathematik beschränkten Problems “ (ebd., S. 12), das letzte Glied einer langen Kette, die mit Schwierigkeiten im Fach Mathematik anfing. Der Autor fragt deshalb nach dem Sinn einer solchen Definition, die nur eine bestimmte Anzahl von Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten erfassen kann und kommt zum Ergebnis, dass diese im päda- gogischen Bereich unsinnig sei (vgl. ebd., S. 11). Nach Gaidoschik wäre hingegen ei- ne Definition angebracht, die erstens alle Kinder mit Rechenschwierigkeiten erfassen kann und die zweitens das kindliche Denken von Kindern mit Rechenschwierigkeiten berücksichtigt, denn eine „ inhaltliche Beschäftigung mit dem Rechnen und Denken rechenschwacher Kinder “ (ebd., S.13) bleibe bei einer solchen Diskrepanzdefinition aus. Eine brauchbare Definition müsste alle Wechselwirkungen berücksichtigen, „ in welchen das mathematische Lernen des Kindes stattfindet “ (ebd., S. 13) und die zu Rechenschwierigkeiten führen könnten. Nicht nur Fehlvorstellungen wie fehlerhafte Denkweisen und Operationen müssten berücksichtigt werden, sondern auch begünsti- gende äußere Faktoren wie etwa das soziale Umfeld. Denn all diese Faktoren könnten laut Gaidoschik dazu betragen, dass sich während der Schullaufbahn besondere Re- chenschwierigkeiten einstellen.

1.2.1.2 Hans-Dieter Gerster

Der pensionierte Professor für Mathematik und deren Didaktik an der pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau kritisiert die Diskrepanzdefinition ebenfalls scharf. Auch er erkennt, dass die Definition der WHO Kinder

„ mit schwachem IQ-Wert, mit eindeutig unangemessener Unterrichtung oder mit neurologischen oder sonstigen Erkrankungen ausschlie ß t. Ausgeschlossen sind nach dieser Definition auch Kinder, die zugleich Lese und Rechtschreibschwierigkeiten haben. “

(Gerster 2004, o. S.)

Für ihn scheint es vollkommen unbrauchbar, Definitionen zu verfassen, die eine be- stimmte Anzahl von Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten von vornherein ausschließt. Problematischerweise, so hält Gerster fest, würde die WHO-Definition „ als Ma ß stab für die Notwendigkeit von Förderma ß nahmen verwendet. “ (ebd. o. S.). Wie Gaidoschik ist für ihn eine solche Verwendung der Definition in Frage zu stel- len, wenn „ dadurch Kinder von angemessenen Förderma ß nahmen ausgeschlossen werden “ (Gerster 2007, S. 3), was auch passieren würde, wenn bei Kindern der Intel- ligenztest schlecht ausfällt, sie unangemessen unterrichtet oder wenn sie unter kom- binierten Störungen leiden. Gerster schlägt deshalb vor, die Definition zu überarbeiten und die öffentliche Vergabe von Fördermitteln nicht abhängig von zwei Charakteristika zu machen: Zum einen würden bislang die Fördermittel (nach §35 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes) erst gewährt, wenn die Krankheit Rechenstörung bei einem Kind diagnostiziert werde. Andererseits sei eine Vergabe auch möglich, wenn eine seelische Behinderung drohe. Gerster allerdings würde die Vergabe ab- hängig machen von den „ Erkenntnissenüber den Schweregrad der Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens “ (Gerster 2004 o. S.) und der Einschätzung darüber, ob die Probleme das weitere Rechnenlernen stark beeinträchtigen. Wie Gaidoschik hält auch er heutige Intelligenztests für problematisch, da bei ihnen Rechenleistungen ab- geprüft werden, die den IQ-Wert des Kindes mit besonderen Rechenschwierigkeiten unangemessen verringern würde, weshalb das Kind „ eventuell aus der Definition herausfällt “ (ebd. o. S.). Die Definition der WHO kann außerdem zu Missverständ- nissen führen. Einerseits impliziert eine solche medizinische Diskrepanzdefinition ei- ne Rechenstörung als Persönlichkeitskonstrukt (Gerster 2007, S. 3). Andererseits führe dies dazu, dass weitere Risikofaktoren, die nicht im Kind selbst liegen, vernach- lässigt würden. Zudem könne die Definition als Erklärung (ebd. S. 3) missverstanden werden, was dann zu einem „ logischen Zirkelschluss [...] [führen könne]: Ein Kind ist rechenschwach, weil es ‚ rechenschwach ’ ist “ (Gerster 2004 o. S.). Dies könne wiederum zur Folge haben, dass sich Kinder mit einer solchen Diagnose aufgeben oder zurücklehnen mit der Argumentation Ich habe eben eine Krankheit und kann nichts dafür. Darüber hinaus kritisiert Gerster einige schwammige Begriffe innerhalb der Definition, die weitgehend unklar bleiben. So hinterfragt er den Terminus eindeu- tig unangemessene Beschulung, denn „ wäre die Beschulung dem individuellen Lern- stand des Kindes voll angemessen, gäbe es nur sehr wenige ‚ rechenschwache ’ Kinder “ (ebd. o. S.). Man müsse hier die Frage stellen, was die WHO für eindeutig hält und wie sich diese Eindeutigkeit äußert. Praktisch relevant seien die Kriterien der ICD-10 nicht, denn jedes Kind brauche Hilfe, wenn es „ in einen Rückstand gegen-über den Klassenkameraden geraten ist “ (Gerster 1998, S. 207). Gerster schlägt vor,

„ dass schwache Leistungen im Rechnen gegen Ende der ersten Klasse differenziert untersucht werden und zwar durch eine Untersuchung der mathematischen Konzepte und Fertigkeiten des Kindes. Grundlage der Untersuchung sollte Wissenüber Entwicklungswege von mathemati- schem Denken bei schwach begabten Kindern undüber das Lernen die- ser Kinder sein. “

(ebd., S. 207)

1.2.1.3 Hans Grissemann

Die Beiträge des Schweizers Schulpsychologe Hans Grissemann sollten ebenfalls Be- rücksichtigung finden. Ihm erscheint eine Definition am sinnvollsten, die der Pflicht nachkommt,

„ aus der Gesamtheit der förderbedingten Schüler diejenigen herauszu- heben, für welche pädagogisch-therapeutische und eventuell psychothe- rapeutische Ma ß nahmen indiziert sind, welche einen Förderunterrichtübersteigen. “

(Grissemann 1984, S. 159)

Zudem ist er ein Gegner einer streng medizinischen Definition:

„ Mit diesen relativierenden Bemerkungen zur Diskrepanzdefinition der Dyskalkulie soll verhindert werden, dass ein Dyskalkuliebegriff sich in unangemessener Anlehnung an das medizinische Paradigma etabliert. Es ist ein Anliegen [...], dass Dyskalkulie nicht als ‚ Krankheit ’ verstanden werden darf, der eine eindeutige Aetiologie [...] zugeordnet wird [...]. “

(ebd., S. 162)

Nach Grissemann wird solch eine medizinische Definition dazu führen, lediglich nach Ursachen beim Patienten selbst zu suchen, äußere Einflussfaktoren wie das ge- samte soziale Umfeld der Kinder aber nicht in Betracht zu ziehen, was zu verhindern sei. Er erkennt wie auch schon Gaidoschik und Gerster an, dass der Grund für Re- chenschwierigkeiten meist nicht nur im Kind selbst zu finden ist, indem er sich wie folgt äußert:

„ Ich habe versucht, im Rahmen der didaktischen Operationspsychologie von Aebli aufzuzeigen, welche verschiedenartigen didaktischen und le bensweltlichen Zwischenfälle - auch im Zusammenhang mit organischen Erschwerungen - an verschiedenen Stellen des Operationsaufbaus und des Verinnerlichungsprozesses Lernversagen und Leistungsschwäche im mathematischen Unterricht bedingen können. “

(ebd., S. 157f.)

Weiterhin hält er Definitionen für unbrauchbar, die Kinder mit Rechenschwierigkei- ten, die aus welchen Gründen auch immer nicht unter eine gewisse Definition fallen, Fördermaßnahmen vorzuenthalten (ebd., S.159). Er begrüßt Definitionen, die ein multikausales Ursachengeflecht berücksichtigen und bei denen es ein Diskrepanzkri- terium gibt. Dyskalkulie bzw. Rechenschwierigkeiten seien eine multikausale Lern- störung, welche sich durch eine deutliche Diskrepanz zum „ übrigem Schulleistungsniveau “ (ebd., S. 159) zeige. Auch er schließt wie die WHO-Definition besonders schlechte Schulverhältnisse und ungünstige Beschulung (vgl. ebd., S. 159) als Kriterium aus. Er zählt in seiner Schrift Zur Verhinderung eines Dyskalkulie- booms: Was man aus der Anti-Legastheniebewegung gelernt haben sollte vier Vari- anten von Diskrepanzdefinitionen auf, die seiner Meinung nach unterschieden werden können. Bei diesen Definitionen werden, der WHO-Definition entsprechend, die Re- chenschwierigkeiten in Bezug zur allgemeinen Intelligenz und den Leistungen in den übrigen Fächern gesetzt:

1 Dyskalkulie könne „ als Teilleistungsschwäche bei mindestens durchschnittli- cher Intelligenz “ (ebd., S. 160) verstanden werden. Hier werden Kinder als rechengestört definiert, die Mathematikprobleme besitzen, allerdings in ande- ren Fächern unauffällig sind bzw. eine normale Begabung aufzeigen.
2 Dyskalkulie wird als Teilleistungsschwäche „ auf jeder Intelligenzstufe “ (ebd., S. 160) verstanden. Nach dieser Definition sind alle Kinder als dyskalkulisch zu betrachten, die beim Rechnen erwartungswidrige Leistungen zeigen. Die Leistungen in Mathematik sind eindeutig schlechter als das, was aufgrund der Intelligenz erwartbar wäre. Hier wird aber nicht von einer Normalintelligenz ausgegangen, sondern es wird jede Intelligenzstufe berücksichtigt, das heißt auch Kinder mit deutlich eingeschränkter Intelligenz.
3 Dyskalkulie wird als allgemeine erwartungswidrige Minderleistung bei Regel- schülern verstanden, das heißt die Rechenprobleme treten gemeinsam mit an- deren Lernproblemen auf.

Da Grissemann bekannt ist, dass besondere Rechenschwierigkeiten selbst auch Ursa- che für weitere Leistungsausfälle und für „ emotionale Störungen “ (ebd., S. 160) sein können, erscheint es ihm sinnvoll, durch einen eigenen Definitionsversuch den Be- griff der Dyskalkulie weiter zu fassen, indem er die Rechenschwierigkeiten im Rah- men einer allgemeinen Schulleistungsschwäche sieht. Er schlägt folgende Definition vor:

4 a. Dyskalkulie als allgemeine erwartungswidrige Minderleistung bei Normal- intelligenz. Kinder mit durchschnittlicher Intelligenz, allerdings mit Rechen- schwierigkeiten und Problemen in weiteren Schulfächern, können dann als rechengestört bezeichnet werden.

b. Dyskalkulie als allgemein erwartungswidrige Minderleistung auf allen Intelligenzstufen. Damit beinhaltet die Definition auch Kinder mit Rechenschwierigkeiten, die zudem Probleme in anderen Fächern auf jeder Intelligenzstufe besitzen.

Grissemann warnt dabei aber vor dem Intelligenzkriterium, denn er hält die Intelligenz für „ stark determiniert durch die sprachliche Entwicklung, durch sprachgebun dene Denkleistungen, durch Schichtzugehörigkeit “ (ebd., S. 161). Die breitgefächerte Dyskalkuliedefinition 4 würde insgesamt einzig und allein Kinder ausschließen, die einen allgemeinen intellektuellen Begabungsmangel (ebd. S. 161f.) besitzen. Er kommt zum Schluss, dass ein Großteil der Dyskalkuliedefinitionen, die es bisher gibt, eher für wissenschaftliche Zwecke nützlich seien als für die Praxis, hält aber seinen Definitionsversuch mit der Berücksichtigung der Intelligenzstufen für sinnvoll, da dort wenig Kinder ausgeschlossen würden.

1.2.1.4 Karin Landerl und Liane Kaufmann

Karin Landerl lehrt als Entwicklungspsychologin an der Universität Tübingen, ihre Kollegin Liane Kaufmann ist an der Innsbrucker Universität für Medizin als Neu- ropsychologin tätig. In ihrem Buch Dyskalkulie beziehen sie Stellung zur WHO- Definition. Sie stellen fest, dass sich die Definition vordergründig auf Schülerinnen und Schüler bezieht, die noch zur Grundschule gehen. Für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Rechenschwierigkeiten in der Sekundarstufe I beispielsweise treffe die WHO-Definition eher nicht zu (vgl. Landerl/Kaufmann 2008, S. 94). Sie kritisie- ren außerdem, dass für „ die Beherrschung der Grundrechenarten das komplexe Zu- sammenwirken einer ganzen Reihe von mathematischen Teilfertigkeiten “ (ebd., S. 94f.) erforderlich sei und die Diskrepanzdefinition der WHO dahingehen viel zu schwammig und ungenau lediglich von Problemen in den Grundrechenarten spricht.

Es wäre also genauer zu beleuchten, welche typischen Teilfähigkeiten bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten gestört sind, damit den Kindern geholfen werden kann. Ein weiteres Problem würden die diagnostischen Tests darstellen, wie die vorher er- wähnten Autoren schon deutlich gemacht haben. Bei einem Intelligenztest würden immer auch mathematische Fähigkeiten abgeprüft, was dazu führe, dass Kinder mit Rechenschwierigkeiten grundsätzlich schlecht abschneiden (vgl. ebd., S. 97). Es stel- le sich auch die Frage, ab wann eigentlich eine Rechenstörung diagnostiziert werden sollte:

„ Die Forschungskriterien der ICD-10 legen hier fest, dass die Rechen- störungen zwei Standardabweichungen unter dem altersm äß igen Wert liegen sollten. Das bedeutet, dass maximal 3% der Gesamtpopulation (ohne Berücksichtigung des Entwicklungsalters) die Diagnose einer Re- chenstörung erhalten. “

(ebd., S. 95)

Die Festlegung der zwei Standardabweichungen scheine aber willkürlich zu sein, da nicht genau begründet wird, warum nun genau diese Standardabweichung zur Diag- nose Rechenstörung führt und weshalb andere Standardabweichungen weniger geeig- net sind. Problematisch ist laut Landerl und Kaufmann auch das Intelligenzkriterium. Die WHO legt fest, dass bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten für eine Diagnose eine Normalintelligenz vorausgesetzt wird. Man entschied sich ursprünglich für solch ein Kriterium, um rechenschwache Kinder von denjenigen unterscheiden zu können, die eine allgemeine schwache Intelligenz besitzen. Allerdings sei fraglich, inwieweit dieses Kriterium für die Praxis geeignet ist. Es gebe keine Hinweise dafür, dass „ sich die Manifestation der Störung bei Kindern mit guter versus schwacher allgemeinen Intelligenz wesentlich unterscheidet “ (ebd., S. 96).

1.2.1.5 Jens Holger Lorenz und Hendrik Radatz

Anders als Grissemann verzichten die beiden Mathematikdidaktiker Jens Holger Lorenz und Hendrik Radatz auf eine eigene Definition. Sie stellen fest, dass es verschiedene Diskrepanzmodelle gibt: Zum einen eine mathematische Minderleistung bei mindestens einer Normalintelligenz, zum anderen auf jeder Intelligenzstufe (vgl. Lorenz/Radatz 1993, S. 16).

Das zuerst aufgeführte Diskrepanzmodell ist mit der WHO-Definition identisch. Die Autoren üben an diesem Modell Kritik, da der Definitionsversuch einen Teil der hilfsbedürftigen Schülerinnen und Schüler ausschließt, nämlich genau diejenigen, de- ren „ Intelligenz unterhalb des Mittelwerts liegen “ (ebd., S. 16). Das zweite Diskre- panzmodell wurde von Grissemann vorgeschlagen. Lorenz und Radatz sehen eine Diskrepanzdefinition zunächst als sinnvoll an, wenn es darum geht, Regelschüler mit Rechenschwierigkeiten von Kindern mit einer grundsätzlichen Lernbehinderung ab- zugrenzen. Allerdings sehen sie auch Probleme, die sich aufgrund dieser Diskrepanz- definition ergeben:

„ Hier ergibt sich aber das Problem des Unterschiedsma ß es: Wie weit müssen die Leistungen zwischen beiden Bereichen auseinanderklaffen, damit ein Schüler als rechenschwach klassifiziert werden darf/soll? Reicht eine Note, müssen es drei sein? [...] Der Schnitt, welcher auch immer, erscheint willkürlich [...]. “

(ebd., S. 16)

Aufgrund des Problems der willkürlichen Grenzziehung stellen die beiden Autoren das Definitionsproblem zurück und erklären, dass alle Schülerinnen und Schüler mit besonderen Rechenschwierigkeiten einbezogen werden sollten, „ die einer Förderung jenseits des Standardunterrichts bedürfen. “ (ebd., S. 16).

In seinem Buch Lernschwache Rechner fördern kritisiert Lorenz zudem, dass die Diskussion über eine formal korrekte Definition des Begriffs Dyskalkulie einem „ Streit um des Kaisers Bart “ (ebd., S. 16) gleichkomme und damit aberwitzig sei. Es sei gegebenenfalls für Bürokraten wichtig, die über öffentliche Fördermittel schluss- endlich entscheiden müssen, auf eine eindeutige Definition von Dyskalkulie bzw. Re- chenstörung zurückgreifen zu können, um etwa einen Antrag bewilligen zu können. Im Schulalltag ginge es aber nicht um formal korrekte Bewilligungen, sondern einzig und allein darum, allen hilfsbedürftigen Schülerinnen und Schülern, fallen sie nun unter die eine oder andere Definition, zu helfen (vgl. ebd., S. 15). Ihm scheine es auch fragwürdig, warum es Ausschlusskriterien wie eine unangemessene Beschulung oder aber das Intelligenzkriterium gibt und bringt dies wie folgt auf den Punkt:

„ Warum soll ein Kind von Förderma ß nahmen ausgeschlossen werden, wenn seine Probleme im Mathematikunterricht von nicht oder schlecht erteiltem Unterricht ausgehen? Auch ist nicht einzusehen, dass die Intel- ligenz als Kriterium verwendet wird. Hierbei besteht Gefahr, dass eine willkürliche Grenzziehung Kinder von einer Förderung ausschlie ß t. Normale Intelligenz wird teststatistisch in dem Bereich zwischen 85 und 115 angenommen, so dass ein Kind mit einem IQ von 86 als rechen- schwach gelten kann, der Klassenkamerad mit einem IQ von 84 und glei- cher Mathematikleistung hingegen nicht. Förderung werden beide Kinder bedürfen. “

(ebd., S. 14f.)

1.2.1.6 Wilhelm Schipper

Ein weiterer führender Wissenschaftler ist der emeritierte Mathematikdidaktiker Wil- helm Schipper. In seiner Schrift Thesen und Empfehlungen zum schulischen und au- ß erschulischen Umgang mit Rechenstörungen stellt er Thesen auf und spricht Empfehlungen auch im Zusammenhang mit der WHO-Definition aus. Er verfolgt die Grundidee, dass Probleme, die durch den Unterricht in Schulen auftreten, auch dort behandelt werden sollten:

„ Es sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die geeignet sind, Lehrerinnen und Lehrer in die Lage zu versetzen, die Probleme dort an zugehen, wo sie auftauchen, nämlich im schulischen Mathematikunter richt. Statt einer weiteren Expansion des grauen Markts von ‚ Dyskalkulie-Zentren ’ brauchen wir eine Stärkung der schulischen Kom petenzen im Umgang mit Rechenstörungen. “

(Schipper 2003, S. 103)

Er bemängelt, dass es im Studium, im Referendariat und in Lehrerfortbildungen we- nige bis keine Weiterbildungsmöglichkeiten gibt, um Kindern mit Rechenschwierig- keiten kompetent beraten und helfen zu können (vgl. ebd., S. 104). Schipper fordert von der Schulaufsichtsbehörde die Verfassung von Grundsätzen zur Förderung (vgl. ebd., S. 105) von Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten. Die Bezeichnung Besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens schlägt Schipper vor, da zurzeit genutzte Begriffe wie Dyskalkulie, Arithmasthenie, Rechen- schwäche und Rechenstörung wissenschaftlich nicht geklärt seien. Er sieht vor allem Probleme bei der Nutzung von Begriffen wie Dyskalkulie und Arithmasthenie, weil diese Bezeichnungen meist von Medizinern genutzt werden und deshalb „ das Vor- handensein einer Krankheit suggerieren “ (ebd., S. 105). Der Autor macht deutlich, dass ein Definitionsversuch sinnlos zu sein scheint, da jede Definition Grenzen zie- hen müsse, die schlussendlich aufgrund des Fehlens von wissenschaftlichen Studien- ergebnissen immer willkürlich gesetzt würden:

„ Aus mathematikdidaktischer Perspektive liegen die Schwierigkeiten im Erlernen des Rechnens in einem Kontinuum zwischen mathematischen Spitzenleistungen einerseits und absoluten Versagern beim Rechnen an- dererseits. Jeder Versuch einer Klasseneinteilung innerhalb dieses Kon- tinuums setzt das Setzen von Grenzen voraus, die letztlich willkürlich sein müssen, weil sie wissenschaftlich nicht begründbar und abzusichern sind. “

(ebd., S. 105)

Problematisch sind die Grenzziehungen, da durch diese willkürliche Ziehung Kinder mit besonderen Rechenschwierigkeiten aus der Definition herausfallen würden. Kritik geübt werden müsse an Definitionen, die Kinder mit besonderen Rechenschwierig- keiten von Förderhilfen ausschließen. Er empfiehlt deswegen grundsätzlich den Ver- zicht auf Begriffe wie Dyskalkulie, da sie medizinisch determiniert sind. Eine weitere These Schippers lautet, dass der Definitionsversuch der WHO für die Förderung der Kinder mit Rechenschwierigkeiten „ eher kontraproduktiv “ (ebd., S. 106) sei. Er kritisiert wie Landerl und Kaufmann, dass die Definition im Standard- werk der WHO einen viel zu großen Interpretationsspielraum gebe. So wird in der Definition von Defiziten grundlegender Rechenfertigkeiten gesprochen und die Grundrechenarten angegeben, allerdings sei damit nicht geklärt, wo genau die Probleme der Kinder mit Rechenschwierigkeiten lägen:

„ Die Defizite werden nicht genau beschrieben; statt dessen nur Defizitbereiche benannt. Eine klare Grenzziehung ist mit dieser Beschreibung nicht möglich: Wann ist z.B. die ‚ Beherrschung grundlegender Rechen fertigkeiten ’ als gegeben, wann als nicht gegeben anzusehen? “

(ebd., S. 107)

Dies mache die Definition für kommerzielle Therapiezentren sehr nützlich, da sie sehr ungenau sei und schwammige Begriffe nutze. Kommerzielle Zentren könnten so oft von kostenintensiven Fördermitteln Gebrauch machen. Schlussendlich müsse gesagt werden, dass durch die Definition der WHO „ Tür und Tor “ (ebd., S. 106) geöffnet werde für alle möglichen Instituten, die Kasse machen wollen. Schipper erwarte eine viel genauere und differenziertere Definition.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Ausschlusskriterien, die in der Definiti- on genannt werden. Interessant sei hier unter anderem das Ausschlusskriterium der unangemessenen Beschulung. Es mache für Schipper keinen Sinn, weshalb ein Kind mit besonderen Rechenschwierigkeiten von Fördermaßnahmen ausgeschlossen wer- den sollte, welches durch schlechten Unterricht zu den Problemen gelangt ist. Es sei in diesem Zusammenhang völlig gleichgültig, warum ein Kind schlussendlich an be- sonderen Rechenschwierigkeiten leide. Wichtig sei allerdings, dass allen Kindern mit solchen Problemen geholfen werde. Zudem sei die Frage zu stellen, was genau unan- gemessene Beschulung bedeute. Auch dieser Begriff ist nicht klar definiert, auch hier gibt es einen unüberschaubaren großen Interpretationsspielraum. Ist damit ein häufi- ger Lehrerwechsel gemeint oder aber eine schlecht vorbereitete Lehrkraft?

Das zweite Ausschlusskriterium ist die allgemeine Intelligenzminderung. Auch hier kritisiert der Autor die Grenzziehung, wann genau einem Kind nun eine durchschnittliche Intelligenz zugesprochen wird und wann dies nicht der Fall ist:

„ Bei einem Intelligenztest, der so standardisiert ist, dass IQ-Werte von

85 bis 115 als ‚ normal ’ gelten, bedeutet ein IQ von 86 ‚ normale Intelli genz ’ , ein IQ von 84 eine Intelligenzminderung. “

(ebd., S. 107)

Die Grenzziehung bewirke ebenfalls einen Ausschluss von öffentlich finanzierten Fördermaßnahmen nach §35a des Kinder- und Jugendgesetzes (KJHG), denn laut Definition würde in dem obigen Beispielsfall ein Kind mit einem IQ von 84 ausgeschlossen, obwohl es dieselben Probleme in Mathematik besitzt wie ein Kind, welches vielleicht einen IQ von 85, 86 oder 87 besitzt.

Schlussendlich sieht Schipper auch Probleme bei der Vergabe der vorher genannten öffentlich finanzierten Fördermittel nach §35a KJHG. Der Paragraph §35a hat die Überschrift Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, dessen Inhalt lautet auszugsweise wie folgt:

„ (1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz

1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger deröffentlichen Jugendhilfe die Stel lungnahme

1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie,
2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder
3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der

über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störun gen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,

einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizi- nische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fas- sung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung

Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden. “

(Sozialgesetzbuch VIII § 35a: Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche)

Schipper kritisiert auch hier die genannten Ausschlusskriterien. Nur Kinder, die min- destens sechs Monate seelisch beeinträchtigt sind oder bei denen eine seelische Be- einträchtigung zu erwarten ist, kommen in den Genuss solcher Fördermittel: „ Das bedeutet, dass die Tatsache schwer wiegender Probleme beim Erlernen des Rechnens die Vergabeöffentlicher Mittel nicht rechtfertigt. “ (Schipper 2003, S. 107). So wür- den diese Ausschlusskriterien wiederum Kinder mit besonderen Rechenschwierigkei- ten ausschließen, die sehr wohl Einzelförderung benötigen und denen nicht der schulische Förderunterricht reicht. Dabei sei die Grundidee des §35 des KJHG aber begrüßenswert, da es immer Kinder mit enormen Schwierigkeiten in bestimmten Schulfächern geben wird, denen eben nicht mit Hilfestellungen seitens der Schule ge- holfen werden kann. Schipper empfiehlt das Überdenken einer Vergabe der öffentlich finanzierten Fördermittel:

„ Eine Vergabe deröffentlich finanzierten Förderung sollte dahingehend erfolgen, dass die Entscheidung auf Erkenntnissenüber die Symptomatik und den Schweregrad der Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens basiert, nicht auf der Zuschreibung einer (drohenden) seelischen Behin- derung oder der Feststellung einer Krankheit im Sinne der ICD-10- Beschreibung. “

(ebd., S. 108)

Der Autor wünscht sich demnach eine Vergabe der genannten Fördermittel nach dem Schweregrad der Probleme in Mathematik. Dies setze aber eine inhaltliche Beschäftigung mit den kindlichen Mathematikproblemen voraus, die in Zukunft stärker geleistet werden müsse (vgl. ebd., S. 108f.).

1.2.2 Zusammenfassung der Hauptkritikpunkte und Stellungnahme

Eine Möglichkeit, besondere Rechenschwierigkeiten bei Schülerinnen und Schülern zu definieren, ergibt sich über die feststellbare Diskrepanz zwischen den Mathema- tikleistungen und den Leistungen in außermathematischen Bereichen. Meist werden dafür die Mathematikleistungen mit den Lese- und Rechtschreibleistungen eines Kin- des mithilfe der vorliegenden Testergebnisse verglichen. Solch eine Definition findet man bei der WHO wieder, die dort Rechenstörungen als Teilleistungsstörung bei vo- rausgesetzter Normalintelligenz definiert. Es handelt sich also um eine Diskrepanzde- finition. Solch ein Definitionsmodell ist auch der Grund für die anhaltenden negativen Kritiken eines großen Teils führender Wissenschaftler im Bereich der Dys- kalkulie, Rechenschwäche bzw. Rechenstörung. Nachdem ausgewählte Wissenschaft- ler vorgestellt wurden, werden nachfolgend die Hauptdiskussions- bzw. Kritikpunkte kurz zusammengefasst und gleichzeitig eine eigene Stellungnahme versucht.

Zur Kritik am ersten Diskrepanzkriterium: Die klassische Diskrepanzdefinition wird von allen vorgestellten Autoren kritisiert. Es sei nicht sinnvoll, Definitionen aufzu- stellen, die eine beachtliche Schülerpopulation außer Acht lasse. Durch die WHO- Definition würden Schülerinnen und Schüler mit besonderen Rechenschwierigkeiten ausgeschlossen, die durch das Raster fallen und deshalb keine Rechenstörung attes- tiert bekommen, allerdings ebenso eine spezielle Förderung bedürfen wie Schülerin- nen und Schüler, bei denen eine Rechenstörung aufgrund entsprechender Diagnosetestergebnissen diagnostiziert werden konnte. Grissemann schlägt eine Dis- krepanzdefinition vor, die mehr Schülerinnen und Schüler berücksichtigt als die Dis- krepanzdefinition der WHO (vgl. Grissemann 1984, S. 156ff.) Allerdings verweisen Lorenz & Radatz darauf, dass bei Diskrepanzmodellen grundsätzlich immer eine Grenzziehung nötig werde, die willkürlich bleiben muss, da es keine gesicherten Er- kenntnisse darüber gibt, welche Grenzziehung nun am sinnvollsten ist (vgl. Lo- renz/Radatz 1993, S. 16). Kritisch betrachtet wird der Ausschluss von Schülerinnen und Schülern durch die WHO-Definition. Exemplarisch sei auf neuere empirische Arbeiten von Ehlert, Schroeders und Fritz-Stratmann hingewiesen, die unter anderem in einer Studie mit einer Beteiligung von 450 Kindern mit Rechenproblemen heraus- fanden, dass etwa 10 % dieser Kinder nicht das Diskrepanzkriterium erfüllen konn- ten, obwohl alle getesteten Kinder vergleichbare Schwierigkeiten mit der Mathematik besaßen. Die Wissenschaftler legen in ihrer Arbeit auch nahe, von Diskrepanzkrite- rien Abstand zu nehmen (vgl. Ehlert/Schroeders/Fritz-Stratmann 2012, S.169ff.). Die Diskrepanz, die zwischen Mathematikleistungen und Lese-Rechtschreibleistungen bestehen muss, ist in einigen Fällen nicht zu erbringen, da eine bestimmte Anzahl von Kindern mit Rechenschwierigkeiten zusätzlich Lese- und Rechtschreibprobleme be- sitzen. Diese Population hat demnach eine kombinierte Störung, die von der WHO als Restkategorie abgetan wird. Schülerinnen und Schüler, die dieser Gruppe zugeordnet werden, können also nicht die Diagnose Rechenstörung erhalten. Die Wissenschaftler Schwenk und Schneider beispielsweise haben solch eine Population untersucht und stellten fest, dass die Kinder mit kombinierten Störungen, das heißt eine tiefe Mathe- matikleistung gepaart mit Problemen im Lesen und Schreiben, keine Restgruppe ausmachen, sondern eine relativ große Gruppe (vgl. Schwenk/Schneider 2003, S. 212ff.).

Einige Autoren, darunter Gaidoschik, Gerster und Schipper, fordern eine Definition, in welcher auf Diskrepanzkriterien verzichtet wird. Sie sprechen sich für eine Defini- tion aus, die unter anderem keinerlei Kinder mit Rechenproblemen ausschließt, die einer besonderen Förderung bedürfen. Außerdem dürfe die Definition keine Krank- heit suggerieren, innere und äußere Faktoren sollten gleichbedeutend berücksichtigt werden. Es sollte sich mit den Problemen der Schülerinnen und Schüler inhaltlich be- schäftigt werden, um die hinter den Fehlertypen steckenden Denkprozesse aufdecken zu können. Dazu wären diagnostische Verfahren nötig, die in der Definition vorge- schlagen werden müssten, die a. keine Rechenleistungen testen, die das Gesamter- gebnis negativ beeinflussen und die b. Hinweise auf Fördermaßnahmen geben sollten. Solch ein Definitionsversuch wurde bislang nicht unternommen. Wahrscheinlich ist, dass jeder Definitionsversuch seine Vor- und Nachteile besitzt. Eine Definition ohne jegliches Entscheidungskriterium ist meiner Ansicht nach problematisch, denn es fehlt in diesem Fall eine Grenzziehung, wann genau von enormen Problemen beim Rechnen gesprochen werden kann. Bislang ist es keinem Wissenschaftler gelungen, eine Definition zu formulieren, die das Abgrenzungsproblem gelöst hätte, bei wel- chem also eine wissenschaftlich fundierte und trennscharfe Grenzziehung zu finden ist. Für die Bewilligung von öffentlich finanzierten Fördermitteln ist allerdings eine Definition nötig, weshalb diejenigen Wissenschaftler zu kritisieren sind, die das De- finitionsproblem zurückgestellt haben. So schlimm dies klingen mag: Es scheint im- mer noch besser zu sein, einige Schülerinnen und Schüler von Fördermaßnahmen aufgrund einer unzureichenden Definition auszuschließen, als allen Schülerinnen und Schülern eine spezielle Förderhilfe vorzuenthalten, da keine Definition existiert. Die Bürokraten, die über die Bewilligung von Fördermitteln entscheiden müssen, benöti- gen eine Grundlage und finden diese in der WHO-Definition. Die Kritik an dem Dis- krepanzkriterium ist angebracht, gelöst werden kann das Problem aber von den Kritikern der WHO-Diskrepanzdefinition nicht. Moser Opitz beschreibt das Problem pointiert folgendermaßen:

„ Wie soll Rechenschwäche diagnostiziert werden, wenn es keine klare und eindeutige Beschreibung des Phänomens gibt? Wie soll etwas diag- nostiziert werden, wenn man nicht genau sagen kann, was es ist? “

(Moser Opitz 2009, S. 289)

Zur Kritik am zweiten Diskrepanzkriterium: In der Fachliteratur wird ebenfalls grundsätzlich hinterfragt, inwieweit die Intelligenz als „ schwer fassbare Gr öß e “ (Werner 2009, S. 94) überhaupt als Ausschlusskriterium geeignet erscheint. Bis heute streiten sich Wissenschaftler darüber, wie der Begriff Intelligenz zu definieren ist. Die vorgestellten Autoren üben Kritik am Intelligenzkriterium. Nach diesen ist die Nor- malintelligenz als Voraussetzung für die Diagnose einer Rechenstörung problema- tisch. Das Kriterium hat eigentlich den Sinn, rechenschwache Kinder von denjenigen zu unterscheiden, die eine allgemeine schwache Intelligenz besitzen. Die Schwierig- keit einer solchen Voraussetzung lässt sich aber wie folgt erklären:

„ Erstens ist eine durchschnittliche oder normale Intelligenz unterstellt [...]. Dies deshalb, weil [...] bei einer geminderten Intelligenz wie selbst- verständlich schlechte Leistungen auf allen Gebieten, also auch beim Rechnen [...] [vermutet wird]. Damit wäre gerade die Besonderheit ver- fehlt, auf die es ankommt: Nicht eine allgemeine Leistungsminderung, sondern eine spezielle Rechenschwäche soll ermittelt werden. “

(Röhrig 1996, S. 133)

Röhrig stellt hier meiner Ansicht nach richtig dar, welches falsche Verständnis einige Wissenschaftler besitzen, die sich der medizinischen Definition verpflichtet haben. Sie berücksichtigen nicht, dass auch Kinder mit niedrig definierter Intelligenz ebenfalls rechengestört sein können.

Darüber hinaus sei fraglich, inwieweit dieses Kriterium überhaupt für die Praxis ge- eignet ist. Es gebe keine Hinweise dafür, dass sich die Probleme von Kindern mit Re- chenschwierigkeiten mit hoher Intelligenz von denen mit schwacher Intelligenz sonderlich unterscheiden. Dies kann bejaht werden, denn tatsächlich gibt es Studien, die keine signifikanten Unterschiede haben feststellen können. Verwiesen sei hier auf die Untersuchungen von Jiménez Gonzáles und Garcia Espínel aus dem Jahre 1999 und 2002, die keine signifikanten Unterschiede zwischen Kindern mit Rechenschwie- rigkeiten bei hoher Intelligenz und Kindern mit Rechenschwierigkeiten bei niedriger Intelligenz feststellen konnten (vgl. Jiménes Gonzáles/García Espínel 1999/2002).

Weiterhin wird kontrovers diskutiert, welchen Einfluss die Intelligenz auf Schulleis- tungen überhaupt besitzt. Eine Studie von Stern aus dem Jahr 2005 macht deutlich, dass die Wichtigkeit der Intelligenz für die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern relativiert werden muss. Zwar fand Stern heraus, dass sich Kinder mit höhe- rer Intelligenz schneller und mehr Mathematikwissen aneignen können und aufgrund dessen auch bessere Zensuren in mathematischen Fächern erhalten (vgl. Stern 2005, S. 45ff.). Allerdings könne eine niedrige Intelligenz durch Vorwissen kompensiert werden, eine hohe Intelligenz könne aber nicht Defizite im Vorwissen wettmachen. Zwar kann eine hohe Intelligenz zu besseren Leistungen führen, allerdings nur dann, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen worden: „ Hohe Intelligenz ist nur von Vorteil, wenn sie zuvor in bereichsspezifischen Wissen umgesetzt wurde “ (Werner 2009, S. 97). Betrachtet man Ergebnisse der Schulleistungsuntersuchungen wie die Untersuchungen Programme for International Student Assessment (PISA) oder Pro- gress in International Reading Literacy Study (PIRLS), besser bekannt unter dem deutschen Titel Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), so kann fest- gestellt werden, das speziell in Deutschland die Faktoren wie die soziale und sozio- ökonomische Herkunft viel mehr Einfluss auf die Schullaufbahn haben als der Faktor Intelligenz. Es gibt also viel wirkungsmächtigere Faktoren, die den Schulerfolg be- stimmen als die Intelligenz eines Kindes, was in dieser Angelegenheit zum Nachden- ken anregen sollte. Ist nun das Intelligenzkriterium, welches unter anderem von der WHO als ausschlaggebend für die Diagnose einer Rechenstörung bezeichnet wird, wirklich haltbar? Nach den nachvollziehbaren Bedenken vieler Autoren und den Er- kenntnissen aus der Wissenschaft muss hier das Fazit gezogen werden, dass auf Nut- zung solch eines Kriteriums verzichtet werden sollte.

Zur Kritik an den Diagnoseinstrumenten: Wie oben schon beschrieben, fordern einige Autoren modernere Diagnoseverfahren. Zentrale Kritikpunkte lassen sich wie folgt formulieren:

1. Betrifft alle Intelligenztests: Bei der Messung der allgemeinen geistigen Fä- higkeit von Schülerinnen und Schülern würden bislang auch immer mathema- tische Teilfähigkeiten abgeprüft (vgl. von Schwerin 2000, S. 18), was vor allem dann problematisch zu betrachten ist, wenn Schülerinnen und Schüler mit besonderen Rechenschwierigkeiten schlecht abschneiden und aufgrund einer zu geringen Diskrepanz zwischen Mathematikleistungen und der gemes- senen Intelligenz eine Rechenstörung gemäß der WHO-Definition nicht attes- tiert werden kann. Bei der Betrachtung des Hamburg-Wechsler- Intelligenztests für Kinder (HAWIK) wird dies deutlich (vgl. Gerster 2007, S. 1ff.) Dort werden immer mathematisches Verständnis sowie Rechenfertigkei- ten geprüft.

2. Betrifft alle Tests: Erstens sollten die individuellen Voraussetzungen der Kin- der mit besonderen Rechenschwierigkeiten berücksichtigt werden. Eine große Anzahl solcher Kinder reagieren aufgrund jahrelanger Misserfolge auf Tests mit Ängsten, die das Ergebnis des Tests verzerren können. Dies müssten Tests zukünftig berücksichtigen. Zweitens ließen sich bislang bei der Durchführung von standardisierten Verfahren keine Förderhinweise ableiten, da die Tests ergebnisorientiert sind und sich deshalb nicht dafür eignen.

Die Testverfahren sind deshalb in ihrer Qualität zu hinterfragen, da sie einer Ergeb- nisorientierung verpflichtet sind. Sie vernachlässigen den Prozess der Konstruktion der vorliegenden Schülerergebnisse. Dies legt nahe, neue Diagnoseverfahren zu ent- wickeln, die erstens speziell für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Rechen- schwierigkeiten geeignet sind, um einen Intelligenzquotienten zu ermitteln, der nicht durch die vorhandenen Schwierigkeiten oder Ängste determiniert wird. Zudem soll- ten die Verfahren zweitens kompetenzorientiert sind, also Förderhinweise geben kön- nen, welche wiederum durch eine konkrete Beschäftigung mit den Lösungsprozessen des Kindes angestrebt werden können. Um dies zu gewährleisten, reicht ein einziger Test nicht aus. Es muss ein Diagnoseverfahren in Erwägung gezogen werden, wel- ches individuell auf jedes Kind eingehen kann, damit Fehlerursachen benannt und behandelt werden können. Darüber hinaus sollten die Testergebnisse nicht dazu ge- nutzt werden, zu entscheiden, ob nun Fördermaßnahmen bewilligt werden oder nicht. Die Ergebnisse sollten von Lehrkräften und Therapeuten als Basiswissen genutzt werden, um den Kindern mit Rechenschwierigkeiten besser helfen zu können. Dementsprechend stimme ich Moser Opitz zu, welche die Diagnostik in erster Linie als „ Mittel der Optimierung pädagogischer Angebote “ (ebd., S. 304) sieht und „ nicht als Mittel zur Auslese “ (ebd. S. 304).

Zur Kritik am medizinischen Verständnis: Gerster, Grissemann und Schipper kritisieren, dass beim Attestieren einer Rechenstörung eine Krankheit suggeriert werde, das heißt das Problem wird als ein Persönlichkeitsmerkmal des Kindes gesehen, es läge also im Kind verborgen und müsse repariert werden. Problematisch ist hierbei, dass einerseits solch ein Verständnis zu einer defizitären Sichtweise bei Eltern führen kann, andererseits aber auch weitere wichtige Ursachenfaktoren nicht berücksichtigt werden. Moser Opitz nennt dieses medizinische Verständnis auch „ Defektverständ nis “ (Moser Opitz 2013, S. 183) und gibt zu bedenken:

„ Diese Sichtweise führt zu Aussagen darüber, was ein Kind nicht kann; es wird einseitig von statischen Fähigkeiten ausgegangen, und die The rapie wird an Spezialisten delegiert. “

(Moser Opitz 2004, S. 179ff.)

Grissemann spricht in diesem Zusammenhang von einem Verständnis, welches an „ defektologische Einseitigkeit “ (Grissemann 1993, S.34) leide. Schäfer beschreibt eine solche Einseitigkeit, wie sie von Grissemann beschrieben wird, wie folgt:

„ Zentrales Definitionsmerkmal des medizinisch-psychiatrischen Erklärungsansatzes ist die Annahme von Ursachen, die ausschlie ß lich im be troffenen Kind gesucht (und gefunden) werden. “

(Schäfer 2005, S. 19)

Aus persönlicher Erfahrung teile ich die Kritik an solch einem Verständnis. Es wird so das Vorhandensein einer Krankheit suggeriert, was dazu führt, dass sich bei be- troffenen Kinder und deren Eltern eine Sichtweise einstellt, die schwere Folgen haben kann. Dies möchte ich durch erlebte Situation im Laufe meines Studiums verdeutli- chen: Als Lehramtspraktikant besuchte ich vor einiger Zeit eine Realschule in Nord- rhein-Westfalen und eine fünfte Klasse. In dieser Klasse befand sich ein Kind mit Rechenschwierigkeiten, welches eine Rechenstörung attestiert bekam. Die Lehrkraft berichtete, dass die Leistungen in Mathematik trotz besonderer Fördermaßnahmen eher ab- als zunahmen, in anderen Fächern verschlechterte sich das Kind ebenfalls. Was war geschehen? Anscheinend wurde den Eltern in einem Therapiezentrum er- klärt, das Kind habe eine Rechenstörung und die Schwierigkeiten würden aufgrund organischer Ursachen auftreten. Die Eltern sahen darin den Beweis erbracht, dass das Kind grundsätzlich für schlechte schulische Leistungen nichts könne. Die Lehrkräfte wurden angewiesen, das Kind dementsprechend zu zensieren mit Hinblick auf die neurologischen Defekte, welche das Kind anscheinend habe. Das besagte Kind ruhe sich seitdem auf der Argumentation Aber ich kann doch nichts dafür aus, so die Ma- thematiklehrkraft. Weil interessanterweise das Kind in der Zeit kurz vor den Zeug- niskonferenzen deutlich bessere Leistungen zeigte, die aufgrund der Erkrankung eigentlich nicht möglich wären, kommt die Lehrperson zu diesem Schluss, dass das Kind nicht so krank sein kann, als behauptet wird. Bei schlechten Noten würden die Eltern zu einem Gespräch beten, in welchem gegen die elterliche Argumentation Bei meinem Kind wurde eine Krankheit diagnostiziert, berücksichtigen Sie dies doch nur sehr schwer gegenargumentiert werden kann. Im Endeffekt kann man solch eine Di- agnose auch dazu nutzen, sich im Hinblick auf die Notengebung Vorteile zu verschaf- fen, auch wenn dies nur in Einzelfällen geschieht. Dies soll ein mahnendes Beispiel dafür sein, was geschehen kann, wenn sich ein Experte dem medizinischen Verständ- nis von Dyskalkulie, Rechenschwäche bzw. Rechenstörung verpflichtet fühlt und dem betroffenen Kind als auch den Eltern einredet, es leide an einer Krankheit. Auch Simon ist der Ansicht, denn die

„ Aussage ‚ hat Dyskalkulie ’ kann beim Kind bewirken, dass es sich jetzt nicht mehr um das Verständnis des Faches bemühen will, weil es ja so wieso nichts verstehen kann und das nicht seine Schuld ist. “

(Simon 2008, S. 224)

Zur Kritik am Ausschlusskriterium der schlechten Beschulung: Für Gerster, Lorenz & Radatz sowie Schipper erscheint das Ausschlusskriterium unangemessene Beschu- lung nicht nachvollziehbar. Sie kritisieren, dass eine Definition keinesfalls zwischen angemessener und unangemessener Unterricht im Hinblick auf Rechenprobleme bei Schülerinnen und Schüler unterscheiden darf, denn beide Schülerpopulationen bedür- fen einer speziellen Förderung. Wieso sollten Kinder mit besonderen Rechenproble- men von Fördermaßnahmen ausgeschlossen werden, wenn diese aufgrund schlecht vorbereiteten Lehrkräften entstanden sind? Die Autoren haben Recht, denn nicht nur der Umstand ist zu kritisieren. Zusätzlich ist eine unangemessene Beschulung als Be- zeichnung sehr schwammig und nicht trennscharf genug. Was meint dieser Begriff? Meint er mehrfachen Lehrerwechsel? Wie viele Lehrerwechsel müssen erlebt worden sein, damit von unangemessener Beschulung gesprochen werden kann? Oder meint der Begriff schlecht vorbereitete Lehrerkräfte, die lediglich das Schulbuch nutzen und selbst nur wenig zum Unterrichtsgeschehen dazutun? Ebenso wenig informativ sind hier die klinisch-diagnostischen Leitlinien. Dort heißt es, dass die Rechenschwierig- keiten „ nicht wesentlich auf unangemessene Unterrichtung zurückzuführen sein “ (vgl. Dilling et. al. 2011, S. 338f.) dürfen. Auch hier wird durch die Formulierung nicht wesentlich überhaupt nicht deutlich, was darunter zu verstehen ist. Bei der Klä- rung der Begrifflichkeiten besteht sicherlich Nachholbedarf, weshalb Begriffe wie wesentlich und unangemessene Unterrichtung bzw . unangemessene Beschulung ge- nauer definiert werden müssten, damit eine bislang vorhandene Mehrdeutigkeit ver- hindert werden kann.

Schlussbemerkungen: Es lässt sich festhalten, dass das Definitionsmodell der WHO einige Schwachstellen besitzt, weshalb es verbesserungswürdig erscheint. Unter den Schwachstellen fällt das Problem des Diskrepanz- und Intelligenzkriteriums, die Schwierigkeiten in der Diagnostik sowie grundsätzlich die mehrfach in der Definition auffällige Mehrdeutigkeit und damit Uneindeutigkeit verschiedenster Begrifflichkei- ten. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass eine große Anzahl von führenden Wissenschaftlern die WHO-Definition für unbrauchbar halten, allerdings selber bis- lang wenige konkrete Definitionen vorgelegt haben, welche die jetzige WHO- Definition hätten ablösen können. Gerster gesteht offen ein, dass „ eine trennscharfe Grenzziehung zwischen ‚ Rechenstörung ’ und ‚ keine Rechenstörung ’ [...] auch in un- serem Ansatz nicht möglich “ (Gerster 2004, S. 22) ist. Mit konkreten Definitionen meine ich ein durchdachtes und umfangreiches Definitionsmodell, das erstens die Probleme der jetzigen WHO-Definition löst und von allen Wissenschaftlern aus dem Gebiet der Dyskalkulie, Rechenstörung bzw. Rechenschwäche anerkannt wird. Des- halb wäre zu begrüßen, dass die Kritiker der Diskrepanzdefinition der WHO mit den Befürwortern der WHO-Definition gemeinsam eine Definition erarbeiten, die die ar- tikulierten Schwachstellen beseitigen, vorausgesetzt Befürworter erkennen die Schwachstellen ihres medizinischen Erklärungsansatzes an.2 Folgende Forderungen des pädagogischen Erklärungsansatzes sollten meiner Ansicht nach zumindest disku- tiert werden:

a. Verzicht auf Diskrepanzkriterien wie dem Vergleich zwischen Mathema- tikleistung und den Leistungen im Lesen und Schreiben
b. Verzicht auf Ausschlusskriterien wie der Intelligenz oder der unangemessenen Beschulung
c. Empfehlung von Diagnose- und Testverfahren, die speziell auf Kinder mit Rechenschwierigkeiten zugeschnitten sind und Hinweise auf empfehlenswerte Fördermaßnahmen geben können.

Durch a., b. und c. kann eine Überwindung der bislang sehr eng formulierten Defini- tion, die eine große Anzahl von Kindern mit besonderen Rechenschwierigkeiten au- ßer Acht lässt, angestrebt werden. Es wäre ohne solche Entscheidungskriterien dann allerdings wichtig, eine inhaltliche Beschäftigung mit dem kindlichen Denken voran- zubringen, bei welcher die genauen Konstruktionsprozesse und Gedankengänge des Kindes Beachtung finden müssten, die schlussendlich zum falschen Ergebnis führen. Als Entscheidungskriterium wäre eventuell erstens das gehäufte Auftreten von be- stimmten Fehlern und zweitens die Hartnäckigkeit genau solcher Fehler hilfreich. Bei Testverfahren müsste dann ein Ursachenprofil erstellt werden, weshalb diese indivi- duell auf das Kind zugeschnitten sein müssten, damit Ursachen für die gemachten Fehler erkannt werden können.

d. Verzicht auf das Suggerieren einer Krankheit, denn dies kann einerseits dazu führen, dass die Schwierigkeiten als Schwäche bzw. Eigenschaft des Kindes verstanden, andererseits aber auch als Erklärung für schlechte Noten in der Schule missbraucht wird nach dem Motto Ich habe eine Krankheit, ich kann doch nichts dafür. Aufgrund dessen sollten auch medizinisch stark determi- nierte Begriffe wie Dyskalkulie oder Arithmasthenie verzichtet werden. Den Begriff Besondere Rechenschwierigkeiten sehe ich als neutralen Begriff an, der einerseits darauf aufmerksam macht, dass es sich um ein schulisches Prob- lem handelt, welches in der Schule entsteht und auch dort durch besondere schulische Förderung beseitigt werden sollte. Allerdings sei darauf hingewie- sen, dass bislang solch eine Förderung an Schulen noch nicht angeboten wer- den kann, da es an Fortbildungsmöglichkeiten und an entsprechendem Personal fehlt. Der Begriff Rechenschwierigkeit allein erscheint zu ungenau. Mit dem Begriff würde man zusätzlich noch Schülerinnen und Schüler in Verbindung bringen, die zwischenzeitlich in Mathematik wegen leichten Ver- ständnisproblemen auf ausreichende oder mangelhafte Noten abrutschen. Da es sich bei den hier artikulieren Rechenschwierigkeiten um Probleme auf ei- nem völlig anderen Niveau handelt, empfiehlt sich deshalb der Begriff Beson- dere Rechenschwierigkeit.

e. Äußere Faktoren sollten mitberücksichtigt werden, das heißt alle Vorausset- zungen, welches das Kind mitbringt, sind zu berücksichtigen. Gerade bei den Fallbeispielen im Kapitel 1.4 als auch in der pädagogischen Praxis (vgl. Brühl et. al. 2003) wird deutlich, dass monokausale Erklärungsansätze unzureichend sind. Immer sind Bedingungen aus dem sozialen Milieu (die soziale, kulturelle und sozio-ökonomische Herkunft) mitbeteiligt. Diese Faktoren können den Erfolg und den Misserfolg stark beeinflussen, demnach auch mitverantwortlich sein für besondere Rechenschwierigkeiten.

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass in absehbarer Zeit ein Definitionsversuch unter- nommen wird, welcher von den Befürwortern als auch von den Kritikern der momen- tanen WHO-Definition gleichermaßen anerkannt wird. Da sich die konkurrierenden Gruppierungen an jeweils entgegengesetzten Forschungsergebnissen orientieren, die sich teilweise stark von einander unterscheiden, scheint kein Ende dieses Zwists in Sicht.

1.3 Illustration von Rechenschwierigkeiten anhand dreier Fallberichte

1.3.1 Der siebenjährige Kai

1.3.1.1 Vorstellung des Kindes

Kai ist sieben Jahre alt und besucht eine Grundschule in einem Dorf mit etwa 5.000 Einwohnern, welches zur Stadt Grevenbroich gehört. Die Schule liegt in einer Ge- gend mit Einzelhausbebauung. Die Ortschaft, in der die Gemeinschaftsgrundschule befindet, gehört zu den wohlhabenden Gegenden in der Region. Die Grundschule ist eine Gemeinschaftsgrundschule, das heißt Kinder zweier umliegender Ortschaften besuchen mit den einheimischen Kindern des Ortes gemeinsam die Schule.

Kai gilt als fröhlicher und freundlicher Junge, der allerdings sehr schüchtern ist. Diese Schüchternheit äußert sich zunächst einmal dadurch, dass er sehr verkrampft wirkt, wenn er neue Menschen kennenlernt. Er wagt es nicht, als Erster das Wort zu ergreifen, sondern lässt anderen Kindern den Vortritt und ist glücklich damit, sich zunächst im Hintergrund aufzuhalten. In vertrauten Situationen, beispielsweise im Kreise der Familie, ist er aber sehr aufgeschlossen und verliert ein Stück weit seine zurückhaltenden Verhaltensweisen. Man kann ihn deshalb insgesamt als introvertierten Schüler charakterisieren. Da er vor einiger Zeit in einen Fußballverein eingetreten ist, fällt es ihm nun einfacher, schneller Kontakte zu knüpfen.

Zu chronischen Krankheiten: Hier ist bei ihm Neurodermitis zu nennen, wobei diese anscheinend durch etliche nicht behandelte Allergien ausgelöst wurde. Seine Nase läuft aufgrund der Allergie, was zu chronischen Nasennebenhöhlenentzündungen führt. Neurodermitis beeinträchtigt den Jungen in seiner Lebensqualität erheblich. Er hat immer wieder Schübe, wodurch auf der Haut in unterschiedlichen Regionen rote Ekzeme beobachtbar werden, die sich allerdings mehrheitlich nach kurzer Zeit wieder zurückentwickeln und schlussendlich verschwinden. Sogenannte Schübe werden durch starke Reaktionen des Immunsystems auf verschiedene Allergene wie bei- spielsweise Pollen ausgelöst und verstärken Hautprobleme. Stress kann diese Immun- reaktion allerdings ebenfalls auslösen. Die Schübe treten bei Kai in unregelmäßigen Abständen auf. Da ihm kein Humanmediziner und Allergologe Hilfe leisten konnten, besucht er nunmehr eine Heilpraktikerin, die sich auf die Bioresonanztherapie spezia- lisiert hat. Zweimal die Woche muss Kai deshalb die Praktikerin besuchen. Da er al- lerdings von der Heilpraktikerin auf über 50 Allergien positiv getestet wurde, wird seine Therapie, die erste Erfolge zu zeigen scheint, noch einige Jahre andauern. Zwar sind er und seine Eltern über den Erfolg erfreut, aber es verlangt auch einige Diszip- lin, da Kai wegen der therapeutischen Behandlung weniger Zeit zur Verfügung hat, um für die Schule zu lernen oder sich mit Freunden zu treffen. Deswegen pflegt er bevorzugt am Wochenende seine Freundschaften, wobei er sicherlich einige Freunde während des Fußballtrainings innerhalb der Woche sieht. Fußball ist zwar seine Lei- denschaft, allerdings schämt er sich für seine immer wieder auftretenden Hautekze- me, die besonders dann auffallen, wenn sich diese auf den Armen und Beinen befinden. Selten muss er auch dem Fußballtrainer absagen, da er wegen Juckreiz nicht am Training teilnehmen kann, was ihn zusätzlich belastet. Dies ist in letzter Zeit häufiger geschehen. Da die Heilpraktikern Stresssituationen als Hautursache der von Allergien ausgelösten Neurodermitis vermutet, solle vom Jungen so viel Druck wie möglich genommen werden. Sie rät zu einer Abmeldung vom Fußball, da Kai trotz seiner Freude am Fußballspielen mit einigen Mitspieler Auseinandersetzungen hat, da sie ihn als unhygienisch beschimpfen. Sie glauben anscheinend, dass er sich nicht ge- nug pflegt und deshalb die roten Hautstellen auf dem Körper zu sehen sind. Zudem hätten sich einige Eltern beim Trainer beschwert, weil sie vermuten, dass die angebli- chen Hautunreinheiten ansteckend seien. Die Diskussion hätte Kai teilweise miterlebt und wäre nach Aussage der Eltern eine Woche nicht in der Schule und beim Training erschienen, weil er sich hilflos und anders fühle als die übrigen Kinder. Allerdings wolle er sein Hobby nicht so schnell aufgeben.

Seine Familie lebt in dem gleichen Dorf, in welchem sich der Standort der Gemein- schaftsgrundschule befindet. Kai ist Einzelkind, die Eltern miteinander verheiratet. Die Familie lebt in einem Einfamilienhaus in ruhiger Lage. Sie kann sich als typische Familie der Mittelschicht charakterisieren lassen. Beide Eltern sind arbeitstätig, die Mutter allerdings nur halbtags bis zum Mittag hin beschäftigt. So kann sie sich um ih- ren Sohn kümmern, wenn dieser aus der Schule kommt. Sie hilft und kontrolliert die Hausaufgaben, auch wenn sie weiß, dass ihr Sohn diese immer gewissenhaft zu erle- digen versucht. Da der Vater beruflich unter der Woche nur wenig Zeit für seinen Sohn hat, begleitet er ihn zu den Fußballspielen am Wochenende.

[...]

Ende der Leseprobe aus 185 Seiten

Details

Titel
Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und Mathematikleistung untersucht in einer neunten Realschulklasse
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Fakultät für Mathematik)
Note
1.0
Autor
Jahr
2015
Seiten
185
Katalognummer
V302868
ISBN (eBook)
9783668014541
ISBN (Buch)
9783668014558
Dateigröße
2113 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Schülerfragebögen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht in der Arbeit enthalten. Das Kapitel "Empirische Untersuchung" beschreibt allerdings die Vorgehensweise und den Aufbau der Fragebögen. Die Ergebnisse der Befragungen sind in diesem Kapitel selbstverständlich vermerkt.
Schlagworte
Dyskalkulie, Manfred Spitzer, Steven Johnson, Sisimpur, KIM, JIM, KFN, Fernsehkonsum, Medien und Bildung, Diskrepanzdefinition, WHO, Klassifikationskatalog WHO, Gaidoschik, Gerster, Grissemann, Landerl und Kaufmann, Lorenz und Radatz, Schipper, Rechenschwierigkeiten, Rechenprobleme, Arithmasthenie, Besondere Schwierigkeiten beim Rechnen, mini-KIM
Arbeit zitieren
Alexander Gaida (Autor:in), 2015, Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und Mathematikleistung untersucht in einer neunten Realschulklasse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302868

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