Leseprobe
Die Liebeskonzeption Gottfried von Straßburgs im „Tristan“-Roman
- Unterschiede zum klass. Artusroman
- Konflikt zw. Individuum und Gesellschaft
- Liebe u. Ehebruch -> die 3 minne-excurse
Goller, Detlef (2005): Der immer neue Beitrag Gottfrieds von Straßburg zum höfischen Liebesdiskurs. In: Tanner, Klaus (Hg.): Liebe im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Leipzig: Evang. Verl.-Anst. S. 77-94
Haug, Walter (2004): Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. erw. Neufassung. Berlin u.a.: de Gruyter
Huber, Christoph (2000): Gottfried von Straßburg. Tristan. Berlin: Erich Schmidt
Keck, Anna (1998): Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristanromane: zur Erzähllogik der Werke Bérouls, Eilharts, Thomas' und Gottfrieds. München: Fink
Marighetti, Angelika (1992): Die Tristan-Liebe. Untersuchungen zur individuierten Liebeskonzeption im Tristan en prose und der Tavola Ritonda. Universität Konstanz, Dissertation
Rosenband, Doris (1973): Das Liebesmotiv in Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“. Göppingen: Kümmerle
Schnell, Rüdiger (1992): Suche nach Wahrheit. Gottfrieds „Tristan und Isold“ als erkenntniskritischer Roman. Tübingen: Niemeyer
Sieberg, Heinz (2010): Literatur des Mittelalters. Berlin: Akademie Verlag
Sosna, Anette (2003): Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan. Stuttgart: Hirzel
Die Liebesdarstellung in Straßburgs „Tristan“ im Kontext des höfisch-literarischen Liebesdiskurses im 12. Jh.
- Im 12. Jh. vollzieht sich im literarischen Liebesdiskurs eine radikale Wende (in Liebeslyrik u. im Roman)
- Stellt die Geburtsstunde der modernen Liebesidee dar, d.h. der Idee der Erfüllung des Lebens in einer
personalverstandenen erotischen Beziehung zw. Mann u. Frau
- So stellt der Artusroman die Utopie einer Balance von Liebe, Ehe und Gesellschaft zur Debatte
- Der Tristanroman macht konkret die ehebrecherische Liebe zum Thema u. verherrlicht sie in gewisser Weise
➨ Das widerspricht allem, was Sexualität u. Ehe im 12. Jh. faktisch waren u. wie sie in Kirche u. Gesellschaft verstanden wurden
➨ Diese literarische Diskussion des Erotischen wird von klerikal gebildeten Literaten getragen -> es handelt sich also nicht um eine Literatur, die in einem von der Kirche getrennten, höfischen Raum existiert hätte
➨ Erotische Literatur hat gegen die gesell. Wirklichkeit sowie gegenüber der Kirche bewusst neue Möglichkeiten der Geschlechterbeziehung als Gedankenexperimente durchgespielt
- Tristan-Roman kann als Diskussionsbeitrag zu dem literarisch geführten Diskurs über Voraussetzungen und Ziele wahrer erotischer Liebe angesehen werden
- So lassen sich 8 Kriterien ausmachen, die als Kern dessen angesehen werden können, was um 1200 unter dem Begriff „höfische Liebe“ im literarischen Diskurs verstanden wurde:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Außer der MAZE u. mit Einschränkung Freiwilligkeit erfüllt die Liebe von T + I alle Kriterien der höfischen Liebe
- Im Prolog wird bereits hervorgehoben, dass die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde dem Publikum (edelen herzen) Freude bereiten u. von großem Nutzen sein wird, da sie das höfische Liebesideal verkörpern
- Konstitutives Merkmal der Adressaten ist die von T u. I vorbildlich verwirklichte Leidensbereitschaft
- Die rehte minne ist u. die wahren Liebenden sind dadurch charakterisiert, da sie nicht nur die Freude und das Glück an der Liebe wertschätzen, sondern auch die Konsequenzen der Liebe, d.h. den Kummer u. das Leid, annehmen; rehte minne ist dadurch charakterisiert, dass Freude und Schmerz, Glück und Leid eng miteinander verbunden sind; und eben nur die edelen herzen scheuen sich nicht, das Leid in Kauf zu nehmen und sie sind nicht nur auf die Freuden im Leben u. in der Liebe aus
- Gerade hinsichtlich der Leidensbereitschaft stellen T+I das Idealpaar dar, denn hätten sie das Leid ihrer Liebe nicht ertragen, dann wären ihre Namen u. ihre Geschichte nicht erinnerungswürdig u. könnten dem Publikum nicht die im Prolog genannte Freude u. den Nutzen erbringen
- Es wird auf T+I vorbildhafte Liebe hingewiesen, die bereits im Prolog durch Beständigkeit und Aufrichtigkeit/triuwe charakterisiert wird
- Die Reinheit von T+I triuwe wird am Ende des Prologs zum Brot der Rezipienten gemacht
- Der Vers „ir leben, ir tot sint unser brot“ verdeutlicht die lebensnotwendige Bedeutung des Erzählens dieser Liebesgeschichte für die edelen herzen; zugleich lässt leben, tot, brot an die Heilsgeschichte Christus denken -> sein Leben u. Tod bedeutet Leben für die Gläubigen
➨ Ihre Aufrichtigkeit stellt ein inneres Bewertungskriterium für ihr Handeln dar, das daher memoria-würdig ist
➨ Dieser Gedanke wird auch in der Minnebußpredigt wieder aufgegriffen, wo die gegenwärtig betriebene Liebe in der Erzählergegenwart kritisiert wird, denn die freudebringende triuwe, die von Herzen kommt, nicht gewürdigt wird u. von den falschen Liebenden daher auch nicht gefunden wird
- Der Exkurs über die Auslegung der Minnegrotte stellt die umfassende Minnelehre dar; da wird das ethische Gesamtmodell der Tristanliebe geboten, denn die architektonischen Gegebenheiten der Minnegrotte geben die Tugenden der Minne an (der Rundbau steht für die Ehrlichkeit und Reinheit, die weiße Wand steht für die Lauterkeit u. Durchschaubarkeit der Liebe, marmorne Boden steht für die Beständigkeit
- Das Kriterium der Ausschließlichkeit (+Beständigkeit) wird erfüllt durch die lebenslange Wirkung des Minnetranks; auch wenn Marke der Ehemann Isoldes wird u. mit ihr den ehelichen Koitus vollzieht, spielt das für die Ausschließlichkeit der Liebe zw. T+I keine Rolle -> I sagt explizit, dass sie für M keine Liebe empfand; zudem verdeutlicht der Erzählerexkurs zum Thema Blindheit der Liebe, dass es für die Bewertung einer wahren Liebe keinen Unterschied macht, ob es sich um den Ehepartner o. eine außereheliche Beziehung handelt; in dem Exkurs wird zudem I von dem Vorwurf des Betrugs an ihrem Ehemann freigesprochen, da an ihrem Verhalten gg. M offensichtlich war, dass sie M nicht liebte
- Daneben zeigt auch der Fragmentschluss mit dem Liebesbekenntnis von T zur blonden Itrotz seiner Gefühlsverwirrung aufgrund der bevorstehenden Hochzeit mit IW , dass T+I Liebe durch Ausschließlichkeit charakterisiert ist,
- Auch beim Abschied von T+I versichern sich beide ihre ausschließliche u. immerwährende Liebe zu einander, die sie sich in der Trennung bewahren wollen
- Das Kriterium Selbstlosigkeit: zeigt sich deutlich an der Zerstörung des Glöckchens von dem Hund Petitcreiu -> Isolde bekennt sich zur Liebe, da für sie Freude und Leid zusammengehören u. will den Schmerz mit T teilen
- Auch in I-Abschiedsmonolog zeigt sich ihre Selbstlosigkeit u. zugleich das Kriterium der Gegenseitigkeit: I will trotz Trennung für T weiterleben u. entsagt sich zugleich von allen anderen Dingen; durch den liebenden Verzicht auf den anderen u. auf sich selbst zeigt sich auch ihre Selbstlosigkeit
- Zudem ist Gegenseitigkeit ihrer Liebe Programm, so ist die bestehende Zweieinheit des Paares mit der Einnahme des Minnetranks Ausdruck für die Gegenseitigkeit ihrer Liebe
- Hinsichtlich der Frage, ob die Tristanliebe auch das Kriterium der Freiwilligkeit erfülle, ist schwer zu sagen, schließlich entsteht die Liebe zw. den beiden aufgrund des Minnetranks, von daher kann man nicht behaupten, dass die Liebe zw. beiden aus freien Stücken gewachsen ist, sondern die beiden eher durch äußerliche Umstände u. durch die Kraft des Trankes aneinander gebunden wurden
- Minnetrank hat wichtige Funktion im Roman, denn er legitimiert letztendlich die Liebe und minimiert die Verantwortlichkeit der Liebenden für ihre Liebe u. damit für ihren Ehe- u. Treuebruch gegenüber Marke u. der höfischen Gesellschaft
- ABER: dieses Moment der moralischen Entlastung wird im Roman völlig ausgeblendet -> T+I berufen sich niemals auf den Trank als Entschuldigung für ihre Liebe; im Gegenteil: T bekennt sich zur Liebesbeziehung mit I mit all ihren Konsequenzen, nachdem beide von Brangaene über den Trank u. dessen Wirkung aufgeklärt wurden (er nimmt gerne/ freiwillig den Tod in Kauf, den die Liebe zu I bedeutet) -> dadurch wird die Fortsetzung der Liebe von ihm zu einer freiwilligen Entscheidung gemacht
- Maß, Vernunft: Wichtigkeit der MAZE für den Liebesdiskurs zeigt sich im HUOTE-EXKURS; in den dort entworfenen Frauenbildern wird diejenige als ideal und selig angesehen, die einen Ausgleich zw. lip und ere schafft, d.h. sowohl ihrem körperlichen Begehren als auch den gesell. Normen gerecht wird, da sie ihr Leben der MAZE anvertraut und durch die Balance von lip und ere ist es ihr möglich sich selbst zu achten u. dadurch auch automatisch von der Gesell. geachtet wird -> zudem kann die Frau, die im Einklang mit sich und der Gesell. lebt, speziell dem Mann u. i.Allg. der Gesellschaft paradiesisches Dasein verschaffen
➨ Dieses im Exkurs gepriesene Ideal unterscheidet sich deutlich vom Handlungsverlauf: da Marke seine huote gg. T+I im Verlauf der Handlung immer mehr verstärkt, haben sie keine Gelegenheit mehr, sich ihre Liebe zu zeigen; als Folge darauf handelt I wie Eva, die genau das tut, was man ihr verbietet; die beiden werden von M erwischt u. müssen den Hof verlassen
➨ Durch die Parallelität zum Exkurs wird das Verhalten von I als maß- u. vernunftlos eingestuft; ABER die Schuld dafür wird Marke u. seiner huote zugeschrieben
➨ Die Bewertung der Liebe der beiden kann vor der Zielvorstellung MAZE kaum erfolgen, denn aufgrund der Ehebruchskonstellation geht es den beiden schließlich primär darum, überhaupt Gelegenheiten zu finden, sich ihre Liebe zu zeigen
- T+I verkörpern in ihrer Liebe zueinander das Kriterium der Leidensbereitschaft: so ist T bereit, für seine L zu I ein ewiges Sterben auf sich zu nehmen u. I bringt ihre selbstlose Leidensbereitschaft dadurch zum Ausdruck, dass für immer Leid akzeptiert, damit T Angelegenheiten auch stets gut verlaufen
Widersprüche der Liebe
- So wird einmal die Liebe auf versch. Arten als autonom handelnde Macht personifiziert (Gewaltherrscherin, Metapher der Leimrute)
➨ Das Verhältnis zw. der Macht der Liebe u. der Zielvorstellung der Freiwilligkeit ist widersprüchlich
➨ Und doch hat ihre Liebesgeschichte eine heilbringende Wirkung für die Rezipienten
➨ Wird deutlich in der Minnebußpredigt: es wird in der Zeitklage ein scheinbar zur Handlung konträres Bild von der Liebe entworfen; dort heißt es, von der Liebe (Königin aller Herzen) nur noch ihr Name übriggeblieben; sie wird als bettelnde u. sich zum Kauf anbietende Diebin charakterisiert, weil die Menschen mit ihr unwürdig umgingen
➨ Ackerbaumetaphorik macht deutlich, dass der Ertrag der Liebe stets von der Qualität des Säens abhängig ist
[...]