Das Erschaudern vor dem Ich in den „Nachtwachen von Bonaventura“


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2001

13 Seiten


Leseprobe


Vorwort

Die hier vorliegende Untersuchung zu den „Nachtwachen von Bonaventura“ stellt einen Auszug aus der Dissertation „Motive krisenhafter Subjektivität“ dar,[1] die im Jahre 2001 im Verlag Peter Lang veröffentlicht wurde. Die Dissertation untersucht vergleichend die englische und deutsche Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der Entwicklung einer krisenhaften Subjektivität, wie sie sich im poetischen Nihilismus manifestiert.

Für die Genehmigung, diesen Textauszug aus „Motive krisenhafter Subjektivität“ erneut veröffentlichen zu dürfen, bedanke ich mich ausdrücklich beim Verlag Peter Lang.

Das Erschaudern vor dem Ich in den „Nachtwachen von Bonaventura“

von Jens Saathoff

1804 erfolgte die Veröffentlichung der Nachtwachen[2] unter dem Pseudonym Bonaventura in der Serie Journal von neuen deutschen Original Romanen. Die durch das anonyme Erscheinen aufgeworfene Frage nach der Verfasserschaft – nachdem Schelling, E.T.A. Hoffmann sowie eine ganze Reihe von anderen Namen als mögliche Autoren genannt worden sind, scheint letztlich Ernst August Klingemann als Verfasser festzustehen[3] – sollte lange Zeit die Beschäftigung mit den Nachtwachen bestimmen und die eigentliche Auseinandersetzung mit der literarischen Wesensart des Textes in den Hintergrund drängen.[4]

Erst im Verlaufe der letzten Jahrzehnte sind verstärkt Bemühungen um eine Strukturanalyse und Deutung des Werks zu verzeichnen. Dabei rückt eine Frage nach der Funktion bzw. Aussageabsicht des Textes immer wieder in den Mittelpunkt der Interpretationsbemühungen: Handelt es sich bei den Nachtwachen um eine Satire, die sich nihilistischer Motive zum Zwecke der Gesellschaftskritik bedient, oder um ein Werk, das zwar mit satirischen Elementen versehen ist, jedoch einen `wahrhaften´ poetischen Nihilismus zum Ausdruck bringt? So versucht Kathy Brzovic in einer Studie den Nachweis zu erbringen, daß die Nachtwachen einen satirischen Angriff auf die staatliche Zensur und den allgemeinen gesellschaftlichen Umgang mit Satirikern darstellen und meint hierzu abschließend: „… I do believe that it is time to put to rest the notion that it [the Nachtwachen ] is an expression of misanthropy and nihilism”[5]. Die Annahme, daß die Nachtwachen als Satire zu verstehen sind, basiert maßgeblich auf der Tatsache, daß der Nachtwächter Kreuzgang sich bei seinen Weltbetrachtungen durchweg der Negation als Grundform des Satirischen bedient.[6] Während er nachts „wie ein einzig Übriggebliebener nach einer allgemeinen Pest oder Sündfluth“ (S. 9) durch die Stadt wandelt, wirft er gleichsam von der Kehrseite des Lebens aus einen Blick auf die in ihren Häusern befindlichen Menschen und wird durch seinen stetigen Wechsel der Rollen und Perspektiven zu einem Außenseiter der Gesellschaft: „Ein paarmal jagte man mich aus Kirchen, weil ich dort lachte, und eben so oft aus Freudenhäusern, weil ich drin beten wollte“ (S. 86). Kreuzgang ist ein Satiriker der Verneinung, der die menschlichen Wert- und Glaubensvorstellungen als Illusionen entlarvt. „Er will der Welt im Spiegel ihr wahres – häßliches – Antlitz zeigen“[7]. Und schon bevor Kreuzgang als Nachtwächter arbeitet, übt er als dichtender Satiriker, der „von leichteren Morden, als z. B. […] der Gerechtigkeit, durch Gerichtshöfe, der gesunden Vernunft, durch Zensuredikte“ (S. 91) erzählt, eine so harsche Gesellschaftskritik, daß er ins Irrenhaus verbracht wird.

Jedoch muß bedacht werden, daß die Rolle Kreuzgangs als Satiriker die Nachtwachen nicht notwendigerweise als Satire ausweist, die Intentionen einer Textfigur nicht mit der Funktion des Textes selbst gleichzusetzen sind. Eine Satire richtet ihre Angriffe gegen konkrete, zu behebende Mißstände, um Verbesserungen herbeizuführen. In den Nachtwachen aber besitzt die Kritik eine derartige Universalität, daß eine Veränderung der Gesellschaft zum Positiven schwerlich vorstellbar erscheint. Im Gegensatz zu Brzovic stellt Greiner daher fest: „Eine Satire verlangt, das Angegriffene präzis zu benennen, hier aber bleiben die Aussagen über die vorgefundenen Zustände ganz allgemein. […] Die Allgemeinheit der Aussagen läßt die satirisch `entlarvten´ Zustände zugleich als unabänderliche erscheinen“[8]. Die Ausführungen des Nachtwächters führen zur Desillusionierung aller Weltbilder; und letztlich entwerten sie damit ebenso die Position des Satirikers selbst: „Der Nachtwächter negiert Gott und die Welt, die Kunst und sich selbst“[9]. So ist das Satirische auch für Kreuzgang nicht der Ausdruck von absoluter Wahrheit, sondern nur die `vorletzte Maskerade´ des Menschen, nach deren Enthüllung man der letztlich wahren Maske begegnet, der „verfestigten, die nicht mehr lacht und weint – dem Schädel ohne Schopf und Zopf“ (S. 108). Eine Maske nach der anderen wird abgeworfen, eine Scheinwelt nach der anderen aufgelöst, bis schließlich nur noch das Nichts übrigbleibt.

Mit der schöpferischen, doch immer wieder zur Vernichtung führenden Reflexionstätigkeit Kreuzgangs korrespondiert die fragmentarische Erzählform der Nachtwachen.[10] Ganz im Sinne romantischer Universalpoesie präsentieren sich die Nachtwachen als eine Mischung gänzlich verschiedener Dichtungsarten, die jedoch – analog zu den übereinander gestülpten Masken – ineinander verschachtelt sind. Neben der in zeitlicher Diskontinuität erfolgenden Ich-Erzählung, die als Rekonstruktion von Kreuzgangs Lebensgeschichte das Gerüst der Erzählung bildet, finden sich eine Reihe weiterer Textformen in den Nachtwachen, wie z. B. die Novelle und das Marionettenspiel von Don Juan und Don Ponce, der Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers, der Prolog des Hanswurstes zur Tragödie der Mensch usw. Im Anspruch des Ganzheitlichen werden Ordnungsprinzipien aufgegeben, treffen die Erzählformen stets auf ihre Begrenzung und bleiben somit dem Unvollkommenen verhaftet. Dadurch, daß die Erzählung ständig gebrochen, die Handlung in Digressionen zurückgeworfen wird, verweist die Romanform auf ihr eigentliches Thema: das sich in Selbstreflexion fragwürdig werdende Ich.[11]

Der mit Reflexionen ausgestattete Mensch wird sich in den Nachtwachen selbst zur Bedrohung. Im Unterschied zu den Tieren, die ihr Leben ausschöpfen, ohne ihre Existenz problematisieren zu müssen, erschaudert der Mensch angesichts des Todes über das Sein des Ichs: „Kannst du es nimmer lösen, warum alle deine Geschöpfe träumend glücklich sind, und nur der Mensch wachend dasteht und fragend – ohne Antwort zu erhalten? – […] bin ich denn allein?“ (S. 150). Nur das Faktum, daß das Ich selbst als Größe der Bedrohung verstanden werden muss, ermöglicht die hier vorgenommene Einordnung der Nachtwachen als Schauerliteratur. Mit ihrer zugespitzten Darstellung der Ich-Krise erweisen sich die Nachtwachen als Beispiel par excellence für eine romantische Transformation der Schauerliteratur von der externalen Bedrohung zur Internalisierung des Schauerlichen.[12] Nicht eine äußere Bedrohung, kein schurkischer Transgressor, sondern die in Nihilismus mündende Selbstreflexion erweckt hier das erhabene Schaudern. Das Individuum trägt den Widerspruch eines reflektierten Seins und zugleich Nichtseins in sich und erlebt sich hierdurch als Peiniger seiner selbst:

Gebt mir einen Spiegel ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke – es wird mir überdrüssig nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Ihr schüttelt – wie? steht kein Ich im Spiegel wenn ich davor trete – bin ich nur der Gedanke eines Gedanken, der Traum eines Traumes – könnt ihr mir nicht zu meinem Leibe verhelfen, und schüttelt ihr nur immer Eure Schellen, wenn ich denke es sind die meinigen? – Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte ihr Masken, und ich mich selbst anschauen will – alles verhallender Schall ohne den verschwundenen Ton – nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts das ich sehe! – Weg vom Ich – tanzt nur wieder fort ihr Larven! (S. 130f.).

Das Ich scheint substanzlos und nur in fortwährenden Spiegelungen erkennbar, Schein und Illusion alles zu sein, was das Ich ausmacht: Im Wechsel von Anerkennung und Negation wird das Ich an sich selbst zum Vampir:[13] „Kein Gegenstand war ringsum aufzufinden, als das große schreckliche Ich, das an sich selbst zehrte und im Verschlingen stets sich wiedergebar“ (S. 168).

All die Widersprüche des Seins und das Bemühen, doch noch „den Schlüssel“ zum Selbst zu finden (S. 190), bestimmen Kreuzgangs Biographie. Seine Lebensgeschichte beginnt, als er nachts an einem Kreuzweg von einem Schuhmacher aus einem vergrabenen Schatzkästlein geborgen wird (S. 38f.). Der Kreuzweg gibt Kreuzgang nicht nur den Namen, sondern deutet als Zeichen der Unvereinbarkeit bereits auf die Aporie des Lebens hin und verweist ebenso auf die Nähe zum Teufel als dem Geiste steter Verneinung. Und so fühlt sich Kreuzgang später auch wie ein Teufel, wie ein Schwärmer des Dunklen und Zerstörerischen, der auf „großen schwarzen Schwingen“ über den Erdball schwebt, um die Menschheit „boshaft auszupfeifen“ (S. 148). Kreuzgang steht „im Dienste der Desillusionierung“[14] und enthüllt die Scheinwelten in ihren verschiedenen Facetten.

Bereits in der ersten Nachtwache hält er dem idealistischen Dichter vor, daß seinen `luftigen´ Träumen von Unsterblichkeit die irdische Vergänglichkeit entgegenstünde (S. 10), und entdeckt die teuflischen Qualitäten des Pfarrers, der Höllenqualen ausmalt, um die Menschen auf Erden gefügig zu machen (S. 14f.). Ohnehin wird in den Nachtwachen das Kirchenwesen, dessen „Antlitz tückisch lacht, wenn die vorgehaltene Larve Thränen vergießt“, und „Gott nennt, wenn es den Teufel denkt“ (S. 126), als heuchlerisch entlarvt. Eindrucksvoll belegt wird diese Scheinheiligkeit, wenn Kreuzgang die Bestrafung einer Nonne schildert, die ein Kind geboren hat und für ihre somit erwiesene Unkeuschheit lebendig in einer Gruft eingemauert wird:

Sie spielen Begrabens im Kloster […] Eine keusche Ursulinerinn ist heute Mutter geworden; in der Legende wäre´s freilich als ein Wunder aufgezeichnet; aber so sehr haben sie Gott in die Karte geschauet, daß sie heutiges Tages an keine Wunder mehr glauben. Die heilige Jungfrau wird diese Nacht lebendig eingescharrt (S. 126, 128).

[...]


[1] Jens Saathoff: Motive krisenhafter Subjektivität. Eine vergleichende Studie zu deutscher und englischer Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2001. (= Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik, hg. von Uwe Baumann und Herwig Friedl; Bd. 9). S. 221-231.

[2] Die im Weiteren den Originalzitaten aus diesem Text nachgestellten Seitenzahlen beziehen sich auf folgende Ausgabe: August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Jost Schillemeit. Frankfurt a. M.: Insel 1974.

[3] Vgl. Gerhart Hoffmeister: „Bonaventura: `Nachtwachen´“. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart: Reclam 1988. S. 93.

[4] Einen Überblick über Hypothesen zur Autorschaft sowie über unterschiedliche Deutungsansätze liefert Gerhart Hoffmeister. Vgl. Gerhart Hoffmeister: „Bonaventura: `Nachtwachen´“. S. 62-73.

[5] Kathy Brzovic: Bonaventura´s `Nachtwachen´. A Satirical Novel. New York: Peter Lang 1990. (= Studies in Modern German Literature; Bd. 36). S. 134.

[6] Vgl. Jost Schillemeit: „Nachwort“. In: August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Jost Schillemeit. Frankfurt a. M.: Insel 1974. S. 211.

[7] Bernhard Greiner: Welttheater als Montage. Wirklichkeitsdarstellung und Leserbezug in romantischer und moderner Literatur. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977. (= Medium Literatur; Bd. 9). S. 69.

[8] Ebd. S. 70f.

[9] Gerhart Hoffmeister: „Bonaventura: `Nachtwachen´“. S. 74.

[10] Vgl. Jost Schillemeit: „Nachwort“. S. 210.

[11] Jost Schillemeit: „Nachwort“. S. 217.

[12] Zum Prozeß der romantischen Transformation der Schauerliteratur vgl. Fred Botting: Gothic. London: Routledge 1996. S. 91f.

[13] Zum Vampirmotiv in den Nachtwachen vgl. Horst Fleig: Literarischer Vampirismus: Klingemanns `Nachtwachen von Bonaventura´. Tübingen: Niemeyer 1985. (= Studien zur deutschen Literatur; Bd. 83). S. 206ff.

[14] Gerhart Hoffmeister: „Bonaventura: `Nachtwachen´“. S. 82.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Das Erschaudern vor dem Ich in den „Nachtwachen von Bonaventura“
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistisches Seminar)
Autor
Jahr
2001
Seiten
13
Katalognummer
V304024
ISBN (eBook)
9783668027541
ISBN (Buch)
9783668027558
Dateigröße
510 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erschaudern, nachtwachen, bonaventura
Arbeit zitieren
Dr. Jens Saathoff (Autor:in), 2001, Das Erschaudern vor dem Ich in den „Nachtwachen von Bonaventura“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304024

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Erschaudern vor dem Ich in den „Nachtwachen von Bonaventura“



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden