Neue Modelle der Genese und Therapie von Borderline-Persönlichkeitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungsgestaltung und -erfahrung


Diplomarbeit, 2004

85 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1 Historisches zum Begriff „Borderline“

2 Diagnostik
2.1 Diagnostische Kriterien nach dem DSM-4
2.2 Symptome als deskriptive Merkmale einer Diagnose
2.2.1 Episodischer Verlust der Impulskontrolle und die Vermeidung von Ambiguität
2.2.2 Frei flottierende Angst und ihre Koppelung an Objekte
2.2.3 Alleinsein und extreme Verlassenheitsängste
2.2.4 Chronisches Gefühl von Leere und Langeweile
2.2.5 Selbst- und fremdverletzendes Verhalten
2.2.6 Suizidalität
2.2.7 Dissoziation in Folge von Aktivierungen traumaassoziierter Schemata
2.2.8 Antisoziales Verhalten und Delinquenz
2.3 Strukturmerkmale und Psychodynamik, Schwerpunkte der Diagnose
2.3.1 Die Borderlinestruktur als Abwehr- und Erhaltungsstrategie
2.3.1.1 Die Spaltung
2.3.1.2 Identitätsdiffusion und Verleugnung
2.3.1.3 Kritik am Modell der Spaltung
2.3.1.4 Projektion und projektive Identifizierung; Idealisierung und Abwertung
2.3.1.5 Regression in der therapeutischen Beziehung
2.3.2 Realitätsprüfung und Realitätsverlust
2.4 Die Gegenübertragung und ihre Bedeutung für die Diagnose der BPS
2.5 Zusammenfassung und Rückschlüsse für die Beziehungsgestaltung

3 Genese der BPS
3.1 Skizzen verschiedener Erklärungsansätze für frühe Beziehungsstörungen hinsichtlich der Entwicklung einer BPS
3.2 Traumatisierende Faktoren in der frühkindlichen Entwicklung aus bindungstheoretischer Sicht
3.2.1 Kriterien von Bindungssicherheit
3.2.2 Bindungsmuster bei Borderline-Patienten
3.3 Mahlers Theorie der Störung von Individuation und Loslösung während der Wiederannäherungsphase
3.4 Kernbergs analytische Theorie der oralen Traumatisierung
3.5 Die Bedeutung von Missbrauch und Misshandlung
3.6 Neurobiologische Ursachen
3.7 Autonomie und die Frage nach der Existenzberechtigung
3.8 Zusammenfassung und eigene Einschätzung

4 Beziehungsgestaltung und Selbsterleben von Borderline-Patienten exemplarisch dargestellt an zwei Beispielen
4.1 Anfänge einer Beziehungsaufnahme
4.2 Entwicklungsschritte zu einer Neuerfahrung von Beziehung während einer stationären Therapie über den Zeitraum von drei Jahren
4.3 Fazit

5 Erweiterung der Perspektive um einen spirituellen Ansatz
5.1 Das Persönliche an der ganzheitlichen Erfahrung
5.2 Leid als Vermeidung direkter Erfahrung
5.3 Identifikation mit dem „Ego“ und dem „Selbst“
5.4 Ganzheitlicher Aspekt in der Beziehung
5.5 Liebe als Ausdruck des „Selbst“
5.6 Glaube und Selbsterkenntnis als Rückbesinnung auf das Sein an sich
5.7 Extreme Formen der Selbstaufgabe - extreme Versuche der Selbstbegegnung?
5.8 Zusammenfassung und Bezug zur BPS

6 Therapie der BPS
6.1 Kriterien zur Therapie der BPS aus tiefenpsychologischer Sicht
6.1.1 Beziehungsaufnahme, therapeutische Ausrichtung
6.1.2 Widerstände im Therapeuten und im Patienten
6.1.3 Zur Deutung
6.1.4 Zur Schwierigkeit und Notwendigkeit der Grenzsetzung in der Therapie
6.2 Dialektisch-Behaviorale Therapie
6.2.1 Acht motivierende Grundannahmen in der DBT
6.2.2 Weitere Aspekte für die Beziehungsgestaltung in der Einzeltherapie
6.2.3 Veränderung innerer Schemata durch ihre Akzeptanz
6.2.4 Behandlungsphasen in der DBT
6.2.4.1 Vorbereitungsphase
6.2.4.2 Bearbeitung der Probleme auf der Verhaltensebene
6.2.4.3 Bewältigung der Folgen traumatischer Erfahrungen
6.2.4.4 Integration des Gelernten und Neuorientierung
6.2.5 Besonderheit des Telefonkontaktes in der DBT
6.3 Stationäre Aspekte der Borderline-Therapie am Beispiel des „Klinikum Nord“ in Hamburg
6.4 Zusammenfassung und eigene Einschätzung

7 Lebensweltorientierung durch sozialpädagogische Interventionen

8 Schlussbetrachtung

Literaturliste

Einleitung

In meiner Diplomarbeit gehe ich der Fragestellung nach, welche Bedeutung der Beziehung im Zusammenhang mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung (im Folgenden BPS) zukommt. Insbesondere soll dabei aufgezeigt werden, was die Erwartung an eine Beziehung prägt, wie sie sich zwischen professionellem Helfer und Borderline-Patienten gestaltet und was sie im Einzelnen so außerordentlich schwierig, doch gleichzeitig unentbehrlich für das Gelingen des therapeutischen Prozesses macht. Die Beziehungsgestaltung als auch die Art der Beziehungsabbrüche im privaten Bereich lassen sich von denen auf therapeutischer Basis in ihrer Dramatik, Impulsivität und Intensität kaum voneinander unterscheiden, was die Vermutung nahe legt, dass eine ähnlich geartete elementare Erwartungshaltung der Patienten an die spezielle Art der helfenden Begegnung geknüpft ist.

Auch jene, die gesamte Persönlichkeitsstruktur durchziehende Angst und der verzweifelte Kampf um deren Vermeidung hätten Angelpunkte einer Herangehensweise für die Diplomarbeit sein können, ebenso wie die Spaltung in „gut“ und „böse“ als zentralem Abwehrmechanismus. Ich habe meine Herangehensweise an das Thema Borderlinestörungen gewählt, weil Beziehung den Rahmen darstellt, in dem alle Aspekte der widerstreitenden Struktur der BPS am offensichtlichsten erscheinen, weil Beziehung selbst oft genug zum Auslöser für die Symptomatik wird und sowohl für die Entwicklung als auch für die Therapie der BPS die entscheidende Rolle spielt.

Als ich mich für das Thema meiner Arbeit entschied, hatte ich schon einiges über die Psychodynamik der BPS in Erfahrung gebracht, da ich während des integrierten Praktikums in der sozialpsychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik in Hamburg, sowie in meiner jetzigen studienbegleitenden Tätigkeit in einer Rehaklinik oft mit Borderline-Patienten konfrontiert wurde und mich mit gängiger Literatur darüber auseinandergesetzt hatte. Die Aufnahme der so genannten „schwierigen“ Patienten, zu denen vor allem die Borderliner zählen, lösen in der Regel äußerst gegensätzliche Motivationen im Team aus. Diese bewegen sich üblicherweise zwischen der Vorrausahnung einer Überforderung und der Neugierde auf eine Beziehungs-Herausforderung. So etwas wie Indifferenz ist selten zu spüren. In der Literatur wird ebenfalls schnell auf dasselbe Spannungsfeld hingewiesen. Man stößt auf die spaltende Wahrnehmung, das anstrengendes „Agieren“, auf Selbstverletzungen und das Symptom der regelmäßigen Beziehungsabbrüche im privaten wie auch im professionellen Bereich. Gleichermaßen klingt auch das Interessante an, das feine Gespür der Borderliner für den Anderen, ihre oft schonungslose Direktheit und die Fähigkeit, erfahrene Therapeuten und Teams in ihr emotionales Szenario zu involvieren. Ich wollte daher der Thematik auf den Grund gehen, was wirkliche Beziehung verhindert und was die Spaltung in „gut“ und „böse“ dabei für eine Rolle spielt.

Trennungen in „schwarz“ und „weiß“, „falsch“ und „richtig“, „wahr“ und „unwahr“ sind allgegenwärtig. Allerdings würde man bei diesen alltagsgebräuchlichen Polarisierungen auf den intakten Realitätsbezug verweisen, womit diese von der pathologischen Spaltung zu unterscheiden wäre. Häufig genug scheinen Polarisierungen jedoch auch bei psychisch „Gesunden“ Dimensionen anzunehmen, die in ihrer Konsequenz denen auf Borderline Niveau nicht nachstehen, wie beispielsweise die politisch aktuelle Trennung in „Achse des Bösen“ und „Koalition der Gerechten“ zeigt. Die institutionalisierten Religionen scheinen in ihrem Spaltungsvermögen paradoxerweise geradezu Vorreiter zu sein, indem sie zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“, „Himmel“ und „Hölle“, „Gott“ und „Teufel“ unterteilen. Eine Überwindung der Spaltung scheint nur durch eine Integration der Gegensätze möglich. Ein „sowohl als auch“ muss aber jenseits sowohl von „böse“ als auch von „gut“ zu suchen sein, da der eine Pol den anderen zu seiner Existenzberechtigung benötigt und ihn immerzu herausfordert. Ist die Spaltung also ein zutiefst menschliches Problem? RHODE-DACHSER fragte angesichts von billionenschweren Rüstungsprogrammen zur Zerstörung der Menschheit im Vorwort zur zweiten Auflage ihres Buches, ob der Patient nicht auch stellvertretend für alle träume, fürchte und spalte und damit das Archaische im Menschen offen lege, „ ( … ) weil er mit sensibleren Antennen auf seine Umwelt reagiert und mehr um die Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit des scheinbar Sicheren wei ß als ein „ Gesunder “ ? “

(Rhode-Dachser 2000, S.19; vgl. ebd., S.20f)

Dass die Beziehung einen besonderen Stellenwert in der soziotherapeutischen Arbeit einnimmt, dürfte kein Novum darstellen, dennoch gibt es die unterschiedlichsten Auffassungen darüber, was in diese Begegnung hineingehört und auch in welcher Weise sie die Arbeit maßgeblich mitbestimmen kann und soll. So stellte sich die Frage, was eine Beziehung zu der Voraussetzung macht, dass Reifungs- und Verselbständigungsprozesse in Gange kommen können, Selbstaktualisierung möglich wird und sich letztlich das subjektive Gefühl einer verbesserten Lebensqualität einstellt. Welchen Anteil hat Beziehung, wenn weiterreichende Interventionen nicht greifen, überprüfte Methoden unanwendbar und unannehmbar bleiben und gute Konzepte nicht aufgehen?

Die Frage, womit man eigentlich in Beziehung tritt, hat mich im Laufe meines Studiums immer wieder beschäftigt. Wenn bei allen erlernten Konzepten und Methoden immer auch eine Absicht, ein Zweck oder ein Ziel verfolgt wird, sei es auch die Hilfe zur Selbsthilfe, hat sich die Frage für mich nicht geklärt, wieweit der Bezug zur eigenen Absicht die Beziehung zum Klienten oder Patienten beeinflusst. Trete ich wirklich in Beziehung mit dem Anderen, wo sind die Grenzen oder beziehe ich mich vordergründig auf meine Absicht und damit letztlich wieder nur auf mich? Bei den meisten Beschreibungen von Tendenzen oder pathologischen Neigungen, miteinander in Beziehung zu treten, geht es jeweils um ein Austarieren und Ausbalancieren von Bezugsschwerpunkten. Jedes willentliche Streben nach einer Balance zwischen Selbst- und Fremdbezogenheit scheint jedoch eine subtile Spaltung in ein „Entweder-Oder“ letztlich nur schwer oder gar nicht zu überwinden. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung scheinen eine Lupenwahrnehmung für diese „trennende Bezogenheit“ zu haben und den Finger genau in diese verwundbare Arbeitsweise des spaltenden Verstandes zu legen, auch, indem sie ihr eigenes Scheitern an seiner Ausschließlichkeit demonstrieren.

Während meiner Begegnung mit Borderline-Patienten und der weiteren Beschäftigung mit der Therapie der BPS stellte ich fest, dass aufgrund der häufigen Suizidalität bei Borderline- Patienten, neben den interpersonellen Beziehungen auch die Sinnfrage und mit ihr eine Beziehung zu etwas „Überwertigen“ oder Gott bzw. seine rigorose Ablehnung eine zentrale Rolle spielen. Dieser Umstand, als auch die Grenzen der ausschließlich rational logischen Herangehensweise an die Widersprüchlichkeiten der Borderline-Psychodynamik haben mich dazu bewogen, neben gängigen sozialpsychologischen auch spirituelle und religiöse Sichtweisen von Beziehung zum Gegenstand meiner Diplomarbeit zu machen. Ich hatte dieses Thema nur am Rande behandeln wollen, es aber gleichzeitig im Wesentlichen erfassen zu können, erschien mir währenddessen jedoch unmöglich, weswegen dieser Punkt mehr Platz einnimmt, als ursprünglich geplant. Eine der spirituellen Thematik eigentümliche Terminologie ließ sich dabei schwer vermeiden und die wissenschaftliche Distanz mag hier durch eine freiere Herangehensweise teilweise in Frage gestellt zu sein. Ich habe dieses eigenwillige Experiment dennoch gewagt, weil es mir hilfreich erscheint, einen besonderen Aspekt von In-Beziehung-Sein darzustellen, der für ganzheitliche Heilung, insbesondere von Menschen, die in ihrem Glauben an ihr Dasein erschüttert sind, von großer Bedeutung ist. Bestätigung hat diese Vertiefung im Laufe der Recherchen über die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) erfahren, der ich neben Struktur und Genese der BPS den Hauptteil der Borderline-Therapie gewidmet habe. Auch die Beschäftigung mit anderen neueren therapeutischen Herangehensweisen, wie zum Beispiel das auf einem ebenfalls ganzheitlichen Konzept basierende „Grönenbacher Modell“, hat mich hierin unterstützt.

Als ich auf den Namen „Dialektisch-Behaviorale Therapie“ als neuere und effektive Behandlungsmethode im Umgang mit Borderline-Patienten stieß, war ich von dem Namen eher ernüchtert, da er in keiner Weise auf die außerordentliche Bedeutung der Beziehung als Basis für die psychische Gesundung schließen ließ, von der ich im Laufe meines eigenen Studiums und der praktischen Arbeit überzeugt wurde. Um so mehr war ich davon beeindruckt, eine „Begegnungs-Strategie“ kennenzulernen, die weit mehr ist als eine therapeutische Methode auf dem aktuellen Stand der Forschung, sondern die ebenso eine Lebenseinstellung verkörpert, die menschliche Reife und „Weisheit“ anzustreben, vor das Streben nach Veränderung stellt. Damit vermittelt sie über das zu erlernende therapeutische Rüstzeug hinaus eine umfassende Haltung in der Beziehung. In ihr finden neben klaren pädagogischen Vorgaben dennoch die Absichtlosigkeit, das Ungewisse und die Achtsamkeit auf das Unberechenbare des „Hier und Jetzt“ ihren Platz, womit sie sich so bedingungslos wie möglich jenseits von Bewertungen in „gut“ und „böse“ stellt.

Bevor ich mich diesen Themenbereichen widme, stelle ich einen historischen Abriss über die BPS voran, gehe danach ausführlich auf die Diagnose und die Psychodynamik der BPS ein und werde verschiedene Theorien zu ihrer Entstehungsgeschichte vorstellen.

Erläuterung:

Auf die Bezeichnung „Klient“ habe ich weitestgehend zugunsten von Patient oder Betroffener verzichtet, da ich bei allem Respekt vor Gleichstellung von Patienten und Therapeutischen Einrichtungen im Sinne einer Dienstleistung dennoch den Akzent eher auf der Bedürftigkeit des im Sinne einer Borderline-Persönlichkeitsstörung Erkrankten sehe. Ein gewisses Grundverständnis analytischer Begrifflichkeiten und die Kenntnis des Instanzenmodell Freuds setze ich voraus, komplexere werde ich erläutern, soweit es mir für das Verständnis des direkten Zusammenhanges nötig scheint.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich mich in meiner Arbeit, sofern es sich thematisch um Frauen und Männer drehte, für die männliche Schreibweise entschieden, selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint und es stellt keine Diskriminierung dar.

1 Historisches zum Begriff „Borderline“

Aufgetaucht ist dieser Begriff erstmals bereits 1884, also noch bevor der Begriff der Schizophrenie geprägt wurde - HUGHES verwendete damals den Begriff „borderland“. Eine Beschäftigung mit einem dem heutigen Störungsbegriff ähnlichen Erscheinungsbild existiert also bereits seit 120 Jahren, auch wenn es erst KERNBERG 1971 gelang, ihm die nötige wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen (vgl. Dulz 1997, S.4).

Diese enorme zeitliche Verzögerung begründet sich sicher zum Einen durch die Schwierigkeit der diagnostischen Ab- und Eingrenzung, andererseits aber auch durch die Schwierigkeit der Patienten an sich. So wurde diese Bezeichnung lange Zeit als ein Sammelbegriff für schwierige Patienten benutzt, deren Verhalten durch unberechenbare Affekte, abrupten Wechsel ihrer Beziehungsgestaltung, quälende Angst und autodestruktive Handlungen gekennzeichnet war.

Die Unsicherheit in der Diagnostik zeigt sich schon in der Begriffswahl, denn der Begriff „Borderline“ lässt sich frei übersetzen mit Grenzzustand oder Grenzgänger, wobei der Grenzzustand zwischen Neurose und Psychose gemeint war.

Die Auseinandersetzung mit der emotional geladenen Symptomatik gestaltete sich sowohl im sozialen als auch im professionellen Bereich häufig als frustrierend und verleitete dazu, die Störung ebenso oft moralisierend wie pathologisierend zu bewerten. Dieser Umstand trug auch zu einer professionellen Vermeidung der Störung bei, die bis heute anhält.

Es entstanden zwei Strömungen, wovon die erste die Borderline-Störungen den Psychopathien zuschrieb, womit bereits das Unbequeme dieser Störung ebenso offen tituliert wie abzuwehren versucht wurde. BLEULER beschrieb 1916 bereits Züge des Psychopathen, die das Störungsbild des Borderliners umreißen. Hier ist sowohl die Rede von „sich und andere ruinierende Verschwender“, „Triebmenschen“, „Dipsomanen“, „Lügner und Schwindler“, „Gesellschaftsfeinde und Streitsüchtige“, was das Dissoziale und in die Gesellschaft schwer zu integrierende betont. Ebenso finden sich aber auch spezifische Zuschreibungen wie „ Den Verschrobenen fehlt die Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit in ihrem Seelenleben “ oder „ Mitgef ü hl mit anderen, instinktives Empfinden der Rechte anderer fehlt oder ist ganz ungen ü gend entwickelt. “ (Bleuler 1916 in ebd., S.4)

Die zweite Strömung rechnete die Borderline-Störung den Hysterien zu. Zu den Vertretern gehörten z.B. FREUD und KRAEPELIN. Letzterer beschreibt 1915 bereits dezidiert die für die BPS typischen Abwertungen, Impulsdurchbrüche und selbstverletzenden Tendenzen. Schwerpunktmäßig zieht sich jedoch noch lange Zeit das Bild eines unberechenbaren Psychopathen am Rande der Schizophrenie durch die Anfänge der psychoanalytischen und psychiatrischen Kategorien.

Teilaspekte und umfassende Beschreibungen der Symptomatik und Psychodynamik, die auch schon der heutigen Vorstellung einer BPS entsprechen, gehen von verschiedenen Pionieren auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie in die Fachliteratur ein. Hier sind unter anderem die Schriften von REICH (1925) erwähnenswert, der in diesem Zusammenhang den „triebhaften Charakter“ erläutert, DEUTSCH (1942) verwendete den Begriff der „Als-Ob- Persönlichkeiten“, SCHAFER (1948) den des „Schizophrenen Charakters“ und der „Präschizophrenie“. SCHMIEDEBERG (1959) prägte die Bezeichnung der „stabilen Instabilität“, was sich auf die Fähigkeit bezog, trotz extremer emotionaler Instabilität dennoch nicht psychotisch zu dekompensieren. FROSCH (1964) trägt diesem Umstand Rechnung durch die Bezeichnung des „psychotischen Charakter“, dessen Realitätsprüfung im Gegensatz zu Psychotikern relativ intakt bleibt (vgl. Leichsenring 2003, S.12).

Diese Liste der Begrifflichkeiten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern vermittelt nur einen Eindruck von der differenzial-diagnostischen Verwirrung, der sich Psychoanalyse und Psychiatrie ausgesetzt sahen und der Problematik, eine Zuordnung zu finden, die einer eigenen in sich schlüssigen Psychodynamik Rechnung trägt. Diese Unstimmigkeiten konnte auch durch die heutigen offiziellen Klassifikationssysteme noch nicht gänzlich aufgehoben werden.

Mit der Zeit entwickelte sich der „Psychopath“ ähnlich der „Hysterikerin“ zu einem Synonym für Entwertung, weswegen beide mittlerweile als Termini aus den Kategorien verschwunden sind. Dennoch finden sich auch heute noch vielfach entwertende Beschreibungen, die die große Ablehnung zum Ausdruck bringen, eine andere als eine moralisch verurteilende Haltung einnehmen zu wollen. So fand ich kürzlich selbst in einem aktuellen Lehrbuch für Psychiatrie ein langes Zitat, das zur „treffenden Charakterisierung“ der BPS herangezogen wurde. Es besticht durch schillernde Metaphern bezüglich Fragilität und Impulsivität des Borderliners, um damit zu schließen, dass dieser folglich so ziemlich alles täte, nur eines nicht, sich zu ändern. Das entspricht weitestgehend dem Vorurteil und sicher auch der Erfahrung des letzten Jahrhunderts, würde aber auf somatischer Ebene auf einen Menschen mit einer unerkannten und unbehandelten Diabetes genauso zutreffen.

GUNDERSON und KOLB erarbeiten 1978 ein erstes diagnostisches Interview zur

Feststellung des Borderline-Syndroms (vgl. Dulz, S.7). Sie identifizierten sechs Merkmale, die als charakteristisch für die BPS angesehen werden:

1. Intensive Affekte, gewöhnlich feindselig oder depressiv
2. Eine Geschichte von Impulshandlungen
3. Eine gewisse soziale Anpassung
4. Kurze psychotische Erlebnisse
5. Unzusammenhängendes Denken in unstrukturierten Situationen
6. Beziehungen, die zwischen flüchtiger Oberflächlichkeit und intensiver Abhängigkeit schwanken

(Gunderson in Leichsenring 2003, S.12).

MASTERSON entwickelte 1980 ein Konzept, dass das Borderline-Syndrom als Resultat einer missglückten Individuation darstellt. Nach Masterson haben die Patienten in der Kindheit die Erfahrung gemacht, dass Autonomiebestrebungen mit emotionalem Rückzug seitens der Mutter beantwortet wurde, was in der Folge zu Verlassenheitsdepressionen führt. Als Vermeidung derselben bilden sich regressive Tendenzen aus, die als Alternative zu autonomen Verhaltensweisen mütterlicherseits eher belohnt würden. Dieser innere Widerspruch zwischen adäquaten Entwicklungsbedürfnissen und Vermeidung derselben führe zu einer Separation zwischen guten und bösen Selbst- und Objektrepräsentanzen, die im späteren Leben immer wieder agierend in Szene gesetzt werden, sobald

Autonomieschritte an die Verlassenheitsdepression heranführen (vgl. Rhode-Dachser 2000, S.16).

KERNBERG (1983) schrieb schließlich die einflussreichste Konzeptualisierung im Bereich der psychoanalytischen Forschung. Diese behandelt die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen vor allem vor dem Hintergrund der Objektbeziehungstheorie. Diese geht davon aus, dass sich frühe Interaktionserfahrungen als innere Repräsentanzen niederschlagen und Erleben und Verhalten unbewusst und bewusst beeinflussen. Die internalisierten Objektbeziehungen sind demnach Erwartungshaltungen und Schablonen verinnerlichter Beziehungen zu signifikanten Bezugspersonen der frühen Kindheit (vgl. Giernalczyk 1999, S.13).

In den vergangenen Jahren ist besonders in den USA die empirische Absicherung der Borderline-Diagnose vorangeschritten, die zu dem klaren Ergebnis geführt hat, dass es sich bei der Störung um eine immer eindeutiger zu definierende über lange Zeit persistierende gravierende Persönlichkeitsstörung handelt (vgl. ebd., S.17).

2 Diagnostik

Je nach Autor, der Theorie, auf die er sich bezieht und der Klassifikation, auf die er seine diagnostische Interpretation aufbaut, wird der Begriff „borderline“ an unterschiedliche Konzepte gekoppelt. Die geläufigen sind „Borderline-Schizophrenie“, Borderline- Persönlichkeits-Organisation“ und „Borderline-Persönlichkeitsstörung“.

Die Borderline-Schizophrenie wird im DSM-4, der amerikanischen Klassifikation zur Erfassung psychischer Störungen, am ehesten durch die schizotypische Persönlichkeitsstörung erfasst. Sie zeichnet sich durch die typische Borderline-Struktur aus, zu der sich erst in der späteren Entwicklung bestimmte psychose-nahe Merkmale dazugesellen. Eine familiäre Häufung ist anzunehmen (vgl. Leichsenring 2003, S.14ff). Das Konzept der Borderline-Persönlichkeits-Organisation fußt auf Kernbergs Untersuchungen und schließt ein größeres Spektrum von Patienten ein, da es sich auch auf schwere narzisstische und schizoide Persönlichkeitsstörungen bezieht, die weniger starke affektive Symptome aufweisen. (vgl. ebd., S.37) In meiner Arbeit werde ich mich weitestgehend auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung beziehen, werde jedoch auch auf Kernbergs Genesetheorie eingehen.

Um eine BPS diagnostizieren zu können, bedarf es eines positiven Nachweises. Dieser ist mittlerweile durch die Kriterien der anerkannten Klassifikationssysteme, Manuals, der strukturellen Interviews und weiterer Diagnoseverfahren möglich und auch notwendig, soll die Diagnose nicht Gefahr laufen, im Zweifel eine Art Ausschlussverfahren zu werden. Hieraus wird leicht eine Verlegenheits- oder Abwehrdiagnose. Trotz der vielfältigen Verfahren zur Abklärung der Psychodynamik, bleibt bereits die Diagnose eine Herausforderung an die Psychiatrie bzw. die behandelnden Therapeuten (vgl.Dulz et al. 1997, S.1).

Hierzu ein Beispiel aus der Praxis:

„ Auf den ersten Blick fällt die Diagnose leicht: Borderline-Persönlichkeitsstörung ( … ) Je länger die Therapie dauert, umso vielfältiger kann die diagnostische Zuordnung aussehen. Mal behandle ich eine Borderline-Patientin mit drastischen Spaltungstendenzen ( … ) Dann sitze ich einer Patientin mit einer nicht einmal sehr ausgeprägten narzisstischen Störung gegen ü ber ( … ) erfolgreich und vern ü nftig. Wenig später hat sich diese Störung in einen schweren pathologischen Narzissmus ( … ) gewandelt, ( … ) Eine schwere Depression mit klassischer Symptomatik und auch depressiven Charakterz ü gen wie altruistischer Abtretung und Selbstaufopferung wird gefolgt von einer stolz-k ü hnen anorektischen Phase voll klarer harter Selbstbeherrschung, die bald ü bergeht in das Vollbild der Alkoholikerin: Abusus, Kontrollverlust, sichtbare Verwahrlosung. Und mit dem Hinweis auf psychosomatische Phasen relativer Alexithymie, aber mit dermatologischer und gynäkologischer Symptomatik ist die Reihe noch nicht abgeschlossen: „ Multiple Persönlichkeiten “ ? Es ist möglich, aus diesem „ stabil-instabil “ wiederum eine Borderline-Persönlichkeitsstörung abzuleiten. Aber die Patientinnen sind eben nicht durchgängig Borderline-gestört. “ (Sachsse, 1997, S.54f)

Diese diagnostische Konfusion ist nicht ungewöhnlich und Rhode-Dachser hält daher eine klinische Verlaufsbeobachtung von zwei Monaten für angemessen, in der mehrere über die Zeit verteilte strukturelle Interviews geführt werden sollten. Diese haben unter anderem eine Psychose auszuschließen, sich einer Abgrenzung zu anderen Persönlichkeitsstörungen zu vergewissern und dienen außerdem der Beruhigung des therapeutischen Prozesses, da eine nachgestellte Diagnose immer auch einen Störfaktor darstellt (vgl. Rhode-Dachser 2000, S. 40).

Bei der Beschreibung von Symptomen und Strukturmerkmalen der BPS werde ich jeweils ihre Sinnhaftigkeit berücksichtigen sowie den Aspekt, der ihnen im Sinne von Beziehungsgestaltung bzw. -vermeidung zukommt.

2.1 Diagnostische Kriterien

Auch die unterschiedlichen Klassifikationssysteme unterscheiden sich bezüglich Definition und Kriterien der BPS etwas voneinander. Ich werde an dieser Stelle nur den Auszug des DSM-4 zur BPS zitieren, welches im Vergleich zum ICD-10, dem internationalen Pendant, noch einige zusätzliche Kriterien unter den Begriff der Borderline-Persönlichkeitsstörung fasst. Hierzu gehören unter anderem die Vermeidung des Alleinseins, chronische Gefühle von Leere, Dissoziation und paranoide Vorstellungen. Weiterhin taucht im ICD-10 die BPS lediglich als eine von zwei Ausprägungen der übergeordneten „emotional-instabilen

Persönlichkeitsstörung“ auf, die in einen „impulsiven Typus“ und einen „Borderline Typus“ aufgegliedert wird. Dadurch wird auch der impulsive Teil der BPS ausgegliedert, was dazu führen kann, dass Patienten mit einer mangelhaften Impulskontrolle unter Umständen nicht der Borderline-Kategorie zugeordnet werden, obwohl sie ansonsten wesentliche Kriterien dieser Diagnose erfüllen (vgl. Leichsenring 2003, S.19).

Für die BPS werden im DSM-4 folgende diagnostische Kriterien angegeben:

Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen. Weiterhin müssen mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein:

1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Alleinsein zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.
2. Ein Muster instabiler aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
3. Identitätsstörung: Ausgebildete und andauernde Instabilität des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung.
4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“). Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium
5 enthalten sind.
5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Stimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.)
7. Chronische Gefühle von Leere.
8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
9. Vorübergehende, durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.“ (DSM-4 in Leichsenring 2003, S.15)

Weitere Nebenmerkmale des DSM-4 sind unter anderem die Möglichkeit von schweren Regressionen z.B. während therapeutischer Komplikationen sowie Schul- und Ausbildungsabbrüche vor dem anstehenden Abschluss. Abbrüche auf allen Ebenen sind in der Biografie generell kennzeichnend. Ebenso sind in der Kindheit üblicherweise Misshandlung, Feindseligkeit oder Missbrauch, Trennung der Eltern, frühe Verluste oder Vernachlässigung vorzufinden. Bemerkenswert ist auch die Ergänzung, dass Patienten sich mit Übergangsobjekten sicherer fühlen als in zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. Leichsenring 2003, S.15f).

2.2 Symptome als deskriptive Merkmale einer Diagnose

Im Folgenden werde ich die charakteristischen Symptome der BPS aufgreifen, die zwar für sich genommen noch nicht kennzeichnend sind für eine ausreichend gesicherte Diagnose, auf der deskriptiven Ebene der Diagnose jedoch eine entscheidende Rolle als sogenannte „diagnostische Verdachtsmomente“ spielen (vgl. Dulz et al. 1997, S.11). Die Erscheinungsformen der Symptomatik werde ich in den Vordergrund rücken, es aber nicht dabei belassen sondern mich darüber hinaus interpretierend damit auseinandersetzen.

Was die Interpretation angeht, werde ich mich vorwiegend auf Hinweise in der Literatur stützen, die empathische und integrative Erklärungsansätze vermitteln. Dem Sinnhaften der Symptomatik messe ich eine größere Bedeutung für das psychodynamische Verständnis bei, als der Beschreibung ihrer Dysfunktionalität. Ohne ein umfassendes Verständnis für das jeweils Sinngebende ist m.E. längerfristig ein Zugang zu der Gefühls- und Gedankenwelt der Betroffenen äußerst begrenzt und damit auch das Verständnis für die Gefühle des Interaktionsspartners in Frage gestellt.

Da alle Symptome der BPS in einer Wechselbeziehung zueinander stehen, werde ich sie auch von Anfang an auf mögliche psychodynamische Bezüge hin untersuchen. Weiterführende, ergänzende Merkmale, die eng mit dem Symptom gekoppelt sind oder in seiner Folge auftreten, werde ich beschreiben, insofern sie mir für das Grundverständnis des Symptoms bedeutsam erscheinen. Dies soll dazu dienen, einen besseren Gesamteindruck zu vermitteln und den roten Faden zu erkennen, der sich trotz der Vielschichtigkeit der BPS immer wieder finden und aufgreifen lässt. Im Speziellen werde ich wesentliche Aspekte der Störung im Kapitel über die Struktur vertiefen.

2.2.1 Episodischer Verlust der Impulskontrolle und die Vermeidung von Ambiguität

Unter Verlust der Impulskontrolle sind die sehr charakteristischen chronischen, repetitiven Impulsdurchbrüche zu verstehen, die nahezu außerhalb der Kontrolle des Patienten liegen und daher kaum gesteuert werden können.

DULZ et al. beschreiben, wie ein junger charmanter Patient nach Verweigerung eines erbetenen Urlaubsscheines in einen dissoziativen Erregungszustand geriet, bei dem er einen Stuhl zertrümmerte, einen Feuerlöscher gegen die Wand warf und acht Pfleger in weiteren Gewaltausbrüchen und in Verbindung mit Morddrohungen eine halbe Stunde lang daran hinderte, ihn festzuhalten. Als er schließlich in der geschlossenen Station mit 3 Gurten fixiert war, schlug er mit aller Gewalt seinen Kopf gegen den Metallrahmen des Bettes, bis dieser entfernt werden konnte. Die meiste Zeit davon sei der Patient nicht zu erreichen gewesen und konnte sich später nur noch an die Verweigerung des Urlaubsscheines erinnern (vgl. ebd., S.26f).

Zum Verlust der Impulskontrolle werden neben Gewaltausbrüchen z.B. auch extreme Formen sexuellen Verhaltens, Alkoholismus, Drogenkonsum, Fresssucht, oder Kleptomanie gezählt. Diese Durchbrüche sind als Ausagieren einer diffusen inneren Spannung zu betrachten oder dienen der Befriedigung eines bestimmten Impulses. Während dieser Triebabfuhr erfährt der Patient große Entlastung bzw. Lustgewinn. Kernberg bezeichnet den Impuls selbst daher auch als ich-synton, also zu ihm gehörig (vgl. Leichsenring 2003, S.21). Außerhalb dieser Episode werden diese Durchbrüche vom Patienten oft als ich-dyston, also als nicht zu ihm gehörig benannt, was auf zwei verschiedene Erlebenszustände hinweist, die beide für den Patienten nicht integrierbar sind (vgl. Rhode-Dachser 2000, S. 47). Die abrupten und unreflektierten Handlungen werden durch die plötzlich auftretenden Gefühle, Bedürfnisse und auch durch einschießende Gedanken gesteuert. Jedes menschliche Verhalten kann hiervon betroffen sein. Die Betrachtung der Impulsivität in seinen Einzelheiten lässt daher bereits Rückschlüsse auf die übrigen im DSM-4 genannten Kriterien zu und erklärt die Bedeutung, die es für ihre Kompensation hat.

SHAPIRO unterscheidet in zwei Hauptgruppen von Borderline-Funktionsstilen, den „impulsiven“ und den „paranoiden“ Stil. Der impulsive Stil ist gekennzeichnet durch starke Beeinträchtigung der Ich-Funktionen wie der Impulskontrolle, dem Aufschub von Bedürfnissen und der Frustrationstoleranz. Er führt den Mangel darauf zurück, dass den Patienten dauerhafte Werte fehlen, die es erleichtern, zugunsten eines längerfristigen Interesses eine momentane Frustration zu ertragen (vgl.Shapiro in Leichsenring 2003, S.72). SHAPIRO wie auch PIAGET betonen die „Bedeutung von Stabilität und Konstanz in Vorstellungen und Werten“ (ebd.) für die Ausbildung eines eigenen Willen, wenn dieser kurzlebige Impulse zu überdauern, in der Lage sein soll. Eben diesen stabilisierenden Wert sieht ERIKSON nur durch das „Urvertrauen“ gewährleistet, das den Boden für die Ich-Reife bereitet, momentane Bedürfnisse aufschieben zu können. Urvertrauen schließe demnach die innere Zuversicht ein , „ ( … ) dass sich letzten Endes eine ausreichende Befriedigung mit ausreichender Sicherheit vorhersagen lässt, dass sich Warten und Arbeiten demnach lohnen. “ (Erikson in ebd.) Beim „Urmisstrauen“ hingegen entstehe so etwas wie „ ( … ) ein Misstrauen gegen die Zeit an sich ( … ) jeder Aufschub erscheint als Betrug, jedes Wartenm ü ssen als ein Ohnmachtserlebnis, jede Hoffnung als eine Gefahr, ( … ) jeder potentielle Versorger als ein Verräter. “ (Erikson in ebd.).

Leichsenring ergänzt diesen Gedanken dahingehend, dass sich das Misstrauen nicht nur gegen die Zeit sondern vor allem gegen die Objekte richte, derer man sich nicht sicher sein kann. „ Nur was man sofort bekommt, hat man sicher. “ (ebd.).

In Folge dieser Impulsivität sieht SHAPIRO vor allem auch die Vermeidung von Ambiguität, also die Vermeidung eines „sowohl-als-auch“, das sich als so genanntes „Schwarz-Weiß- Denken“ äußert, sowie die Beeinträchtigung von Abstraktion, Generalisierung und Integration. Diese Kriterien ordnet er ebenfalls dem „impulsiven Stil“ des Borderliners zu. Ableiten lasse sich ihre Verkoppelung aus der engen Verzahnung von kognitivem und affektivem Modus. Gedanken und Gefühlsimpulse scheinen wie siamesische Zwillinge. Beide Funktionsbereiche, Kognition und Affekte, haben sich wahrscheinlich simultan entwickelt, was den Betreffenden hindere, einen kognitiven inneren Abstand von seinem affektiv geprägten Standpunkt, seinem Impuls, einzunehmen (vgl. ebd., S.73, 151). „ Jeder von ihnen könnte den psychologischen Primat beanspruchen. “ (Shapiro in ebd., S.73)

Auch KERNBERG hatte schon aus der Sicht des primärprozesshaften Funktionierens auf die enge Verflechtung zwischen diesen beiden Modi und den Objektbeziehungen hingewiesen. Mit primärprozesshaftem Funktionieren ist hier die Verknüpfung von frühesten primitiven kognitiven und affektiven Funktionen und ihre sich schnell verändernden Handlungstendenzen in Bezug auf die Außenwelt gemeint (vgl. ebd., S.115). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass nicht das Primärprozesshafte an sich als pathologisch anzusehen sei, sondern das Wegfallen des Sekundärprozesshaften, also des rationalen Denkens, welches Ersteres sonst ohne weiters als adaptive Regression in den Dienste des Ichs stellen könnte (vgl. ebd., S.117). Im Normalfall bildet sich also im Laufe der Ich-Bildung eine Art Pufferzone zwischen einem impulsiven Gedanken oder Gefühlsimpuls und seiner Handlung, oder aber es existiert eine bewusste Distanzierungsmöglichkeit zu einem Impulsdurchbruch.

Vielen Drogenabhängigen mit einer zugrunde liegenden Borderline-Struktur wird nicht geholfen, weil Drogentherapie meist versucht, Verhaltensänderungen über festgelegte äußere Strukturen zu erreichen. Da dem Patienten das Prinzip von Zurückweisung, Begrenzung und Strafe für seine Impulsdurchbrüche oft nur allzu vertraut ist, reinszeniere er diese Situationen stets aufs Neue (vgl. Dulz et al. 1997, S.93). Eine hingegen ausschließlich „haltende Funktion“, wie es Winnicott genannt hat, um den seelischen Innenraum durch einen schützenden äußeren Rahmen zu kompensieren, würde aufgrund des unbekannt bedrohlichen Charakters ebenso boykottiert werden. Modifiziert greifen DULZ et al. diese „haltende Funktion“ in der stationären Therapie als Basis aller therapeutischen Angebote wieder auf (vgl. ebd.), worauf ich in Kapitel 5 und 6 näher eingehen werde.

Die Herausforderung bestünde folglich in der nötigen Flexibilität zwischen Eindeutigkeit im Aufstellen von Regeln im Verbund mit sensiblem Gewährenlassen. Dennoch wird diese stets aufs Neue von der enormen Kränkbarkeit der Patienten, ihrer Angst- und Impulsbereitschaft auf die Probe gestellt (vgl. ebd., S.26).

2.2.2 Frei flottierende Angst und ihre Koppelung an Objekte

Mit frei flottierender Angst ist eine Art schwebende Angst gemeint, die ursprünglich nicht an feste Objekte gebunden ist. Es ist vielmehr eine allgegenwärtige Angst, die sich jederzeit an Vorstellungsinhalte koppeln kann. Das Ausmaß der subjektiv erlebten Angst kann ein Zeichen dafür sein, dass die Ich-Funktionen nicht in der Lage sind, die freigesetzte Angst zu binden. Dient sie darüber hinaus dazu, andere unerträglichere Affekte zuzudecken, sei ein Hinweis auf eine BPS gegeben (vgl. Rhode-Dachser, 2000, S.41).

MENTZOS führt die Entstehung diffuser Ängste bei Kindern auf die Frustration entscheidender Bedürfnisse und die Begegnung mit Gefahren zurück, die über eine Reizschwelle der kindlichen Erträglichkeit hinausgehen. Es handle sich also nicht um grundlose Ängste, sondern um die Unreife des noch schwachen Ich, überwältigende, wohlbegründete Ängste als Reaktion auf Bedrohungen lokalisieren zu können, um mit gerichteter, reifer Furcht vor etwas Konkretem zu reagieren. Diese reife Furcht bilde sich erst mit der Zeit aus, weswegen diffuse Ängste im Erwachsenenalter eine Regression auf dieses Stadium darstellen oder als Ausdruck einer vorhandenen Ich-Schwäche gesehen werden müssen (vgl. Mentzos 1996, S.31).

Die Verbindung der Angst mit der oben beschriebenen Vermeidung von Ambiguität stellt sich wie folgt dar: Je größer die Angst empfunden wird, desto mehr stellt sich im Gegensatz zu einem „sowohl-als-auch“ eine totalitäre Haltung in Bezug auf Sprache, Bewertung und Ausdruck dar. ERIKSON stellt die „Totalität“ auf der einen Seite der „Ganzheit“ auf der anderen als sich gegenseitig ausschließende Haltungen gegenüber: „ Wenn ein Mensch an seiner wesenhaften Ganzheit verzweifelt, rekonstruiert er sich und die Welt, indem er in einer k ü nstlichen Totalität Zuflucht sucht. “ (Erikson in Leichsenring 2003, S.98) Das „Totale“ spielt auch in der Auswertung des Sprachgebrauchs auf diagnostischer Ebene eine große Rolle. Begriffe von Extremen nehmen gegenüber Begriffen, die ein Bewusstsein von Zwischentönen voraussetzen, eine wesentlich stärkere Position ein. (ebd., S.99)

Auf die Frage nach einer konkreten Angst kommt es häufig zu einer Reaktion, die darauf hinweist, dass viele Patienten diese nicht entdecken können, weil sie sich einer solchen tatsächlich oft nicht bewusst sind. Dies kann neben dem mangelnden Vertrauen in den Therapeuten vor allem damit zusammenhängen, dass eine grundsätzliche Abwehr- und allgemeine Kampf- und Fluchtbereitschaft allen möglichen Begebenheiten und Situationen gegenüber besteht. Diese lässt eine Furcht vor etwas Konkretem im Bewusstsein gar nicht erst entstehen. Positiv hingegen würde regelmäßig die Frage nach einer diffusen und belastenden allgemeinen Angst beantwortet, sofern der Patient nicht befürchten muss, dass ihm dies als Schwäche ausgelegt wird (vgl. Dulz et al. 1997, S.12f).

RHODE-DACHSER beschreibt eine bedeutende Ausrichtung der Angst, wie sie sich in der therapeutischen Beziehung oft herausarbeiten und bewusst machen lässt, nämlich die Angst vor der Destruktivität der eigenen Gefühle. Diese Bewertung erfahren vor allem die eigenen aggressiven Gefühle, als auch die eigenen Liebesgefühle. Sowohl Liebes-, als auch Hassgefühle für einen Elternteil hätten die Patienten in ihrer Kindheit als massiv bedrohlich, zerstörerisch und daher als schlecht und schuldbehaftet verinnerlicht. Die Äußerung dieser archaischen Gefühle, bzw. ihr Aufkeimen, bringt die Phantasie der Zerstörung oder des Verlustes des lebenswichtigen Objektes mit sich, was in der Übertragungssituation sowohl den Therapeuten betreffen kann, als auch jedes andere signifikant bedeutende Gegenüber. (vgl. Rhode-Dachser 2000, S.152) Diese Beobachtung deckt sich auch mit SEARLES Theorie des Borderline-Syndroms als Ausdruck einer verdrängten Liebe, die mit der Erfahrung von Verlust oder Zerstörung des Objektes einhergeht. SEARLES beschreibt die Tragik des Bemühens, sich in einer liebenden, konstruktiven Weise Ausdruck verschaffen zu wollen, was bei diesen Patienten z.B. aufgrund der geringen Selbstachtung der Mutter ins Leere stößt (vgl. ebd., S.136).

Ergänzt wird die Angst vor der Destruktivität der eigenen Gefühle um die Angst vor der Abhängigkeit vom Objekt. Abhängigkeit ist für den Patienten eng mit dem Überschreiten der Ich-Grenzen und der Auflösung der eigenen labilen Identität verbunden. Beiden Ängsten stehen in ihrer Intensität ihre diametral entgegengesetzten Bestrebungen nach Ausagieren der eigenen Gefühle und dem Wunsch nach bedingungsloser Identifizierung gegenüber. Dies führt regelmäßig zu einem „ ( … ) Dilemma, das die Psychotherapie dieser Patienten oft ü ber lange Strecken hinweg paralysiert. “ (ebd., S.153) Die Angst vor Zerstörung oder Verlust des Gegenübers und die Angst vor Abhängigkeit einerseits im Verbund mit den sich als ebenso existentiell präsentierenden Wünschen nach Identifikation und Versorgung andererseits stellen die unvereinbaren Kräfte dar, die eine Grundspannung und Grundfurcht stets aufs Neue nähren und unterhalten (vgl. ebd., S.153).

Festzustellen ist regelmäßig eine immer wiederkehrende Hoffnung auf die Rückgewinnung des verlorenen Objekts. Ihm gelten alle Träume, verbunden mit dem Gefühl, ein unmittelbares Recht auf umfassende Befriedigung durch dieses Objekt zu haben, das synonym für das Recht auf Leben zu stehen scheint. Diese Suche mündet meist in einen dekompensativen Zusammenbruch, wenn die Symbiose für eine Zeit lang fassbar war, sich daraufhin jedoch in diesem Sinne als „verräterisch“ erweist, weil etwas die Dyade Trennendes offenbar wird. Das an dieses Objekt geknüpfte Ich-Ideal muss damit ebenfalls zusammenbrechen (vgl. ebd., S.127).

Auch die Angst vor der Enthüllung des wahren Selbst wird als bestimmende Grundangst identifiziert. Das ist angesichts der Suche nach Identität kein Widerspruch, wenn man berücksichtigt, dass die oben genannten inneren Kräfte durch ihre unauflöslich erscheinende Gegensätzlichkeit an sich schon bedrohlichen Charakter haben und dementsprechend vor sich und anderen verborgen werden müssen. Mit dem wahren Teil des Selbst geht ein Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins einher. „ Daneben besteht ein tiefes Bed ü rfnis, sich selbst auch mit diesem ureigentlichen Kern der Persönlichkeit zu kommunizieren. “

(ebd., S.154)

Hier offenbaren sich bereits die unvereinbaren Widersprüche eines existenziellen Spannungsfeldes, die in ihrer Bedeutung über neurotische Konflikte hinausweisen und in ihrer Unauflösbarkeit die Impulsdurchbrüche erklären, die keine Lösung, sondern lediglich einer kurzfristigen Entlastung dienen können.

2.2.3 Alleinsein und extreme Verlassenheitsängste

„Ä hnlich wie ein Kind nicht zwischen der zeitweiligen Abwesenheit der Mutter und ihrer „ Auslöschung “ unterscheiden kann, erfährt die Borderline-Persönlichkeit zeitweiliges Alleinsein oft als immerwährende Isolation. “ (Kreismann et al. 1992, S.67) Nur die Versicherung der körperlichen Gegenwart anderer, die in ihrer Verfügbarkeit kontrollierbar sind, vermittelt dem Borderliner, für den dieses Symptom im Vordergrund steht, ein Gefühl der Beruhigung und Existenzversicherung. „ Andere richten sich nach mir, also bin ich. “ (ebd., S.67)

Einsamkeit könne nur von denen überwunden werden, die das Alleinsein ertragen gelernt hätten, wird der Theologe Paul TILLICH zitiert. (ebd., S.68) Wird Alleinsein jedoch zu einem Symbol metaphysischer Einsamkeit drückt es einen Mangel an grundsätzlicher Daseinsberechtigung aus und kann nur schwer ausgehalten werden. „ Besonders wenn der Betroffene allein ist, kann er die Empfindung zu existieren und sich wirklich zu f ü hlen, verlieren. “ (ebd.)

Borderline-Patienten fürchten und vermeiden kaum etwas so sehr, wie die Trauer, die mit einer Trennung einhergeht. Dieses Gefühl wird auch nach langer stationärer Behandlung umgangen, so dass sie sich ähnlich wie in privaten Beziehungen meist nach dem Prinzip der „verbrannten Erde“ jede mögliche Rückkehr verbauen, zwischenmenschliche Brücken einreißen und stattdessen oft nur Wut und Ratlosigkeit hinterlassen (vgl. Dulz et al. 1997, S.27f).

RHODE-DACHSER bezieht sich auf SACHSSE in der Annahme, dass es sich bei dem Grauen vorm Alleinsein auch um die Erinnerung an ein Alleingelassen-Sein in früherer traumatischer Situation von Missbrauch und Misshandlung handelt. (Rhode-Dachser 2000, S.144). Neben der diffusen Grundangst ist diese die am häufigsten beschriebene elementarste Ausrichtung von Angst bei Borderline-Patienten, so dass sie nach MENTZOS Theorie der Entstehung diffuser Ängste (s. 2.2.2) auch zugrunde liegen könnte.

2.2.4 Chronisches Gefühl von Leere und Langeweile

„ Die Wände eines leeren Zimmers sind Spiegel, die unser Gef ü hl von uns selbst verdoppeln und wieder verdoppeln “ ( Updike in Kreisman et al., S.66f)

Eng mit der Angst vor den Verlassenheitsgefühlen hängt das Gefühl der inneren Leere zusammen. Borderline-Patienten empfinden ein Gefühl der Leere oftmals als so unerträglich, dass es neben der Angst der häufigste Auslöser für impulsive und selbstverletzende Handlungen bis hin zum Suizid ist. Die Angst tritt oft auch als Deck-Angst dieser Leere auf, da sie als „Füllsel der Leere“ (Rhode-Dachser 2000, S.116) immer noch besser zu ertragen ist, als das dahinter stehende bodenlose emotionale Loch und damit zumindest das Gefühl der Lebendigkeit garantiert (vgl. ebd.). Dieser Kampf um Lebendigkeit kann sich nach außen hin im Festhalten an Schmerz in allen Formen ausdrücken und wird daher trotz seiner destruktiven Erscheinung von den Patienten als lebensrettend empfunden, so dass sie sich paradoxerweise oft erst im Schmerz und in der Todesangst ihrer Existenz sicher fühlen (vgl. ebd., S.122).

Auf einen entscheidenden Aspekt der inneren Leere wurde RHODE-DACHSER im Laufe ihrer therapeutischen Arbeit aufmerksam, als sie erkannte, dass die Leere im ganz engen Verhältnis zur Enttäuschung der kindlichen „Liebesfähigkeit“ des Patienten steht und nunmehr in einer eigenen scheinbaren „Liebesunfähigkeit“ zum Ausdruck kommt, sich letztlich aber in der ursprünglichen Erfahrung gründe, für die intensiven authentischen Gefühle keine bestätigende Resonanz in der Mutter gefunden zu haben (ebd. S.137). Norman MAILER schreibt in seiner Biografie über Marilyn Monroe, dass ihre besessene Suche nach ihrem Selbst durch Geltung, Sex und Geld nur betäubt werden konnte, ihre innere Leere jedoch nur durch die Fähigkeit, sich als wirklich zu erleben, hätte gefüllt werden können. Sich als wirklich zu erleben, könne durch nichts auf der Welt ersetzt werden, weswegen manche Menschen sogar auf Liebe und Geborgenheit verzichten, als auf die „Wonne der Selbstgewissheit“ (Kreisman et al. 1992, S.63).

2.2.5 Selbst- und fremdverletzendes Verhalten

Vor allem Borderline-Patientinnen sind es, die sich oft auf vielfältige Weise schädigen, indem sie sich in die Haut schneiden, sich Verbrennungen zufügen, toxische Substanzen zu sich nehmen oder spritzen, sado-masochistische Praktiken suchen oder in anderer Art und Weise ihre körperlichen und seelischen Grenzen überstrapazieren und verletzen.

Es ist auf den ersten Blick schwer nachzuvollziehen, worin die subjektive Bedeutung liegt. Für einen großen Teil der Patienten hat die Selbstverletzung eine stark entlastende Funktion, indem sie eine Möglichkeit darstellt, dem unerträglichen Gefühl der Leere und des Sich- nicht-Spürens zu entkommen. „ ( … ) damit ich den gro ß en Schmerz nicht f ü hle. “ (Sachsse 1997, S.86). Oft geht sie mit dissoziativen Zuständen einher und stellt eine Möglichkeit dar, diese zu beenden (vgl.Giernalczyk 1999, S. 31). Kurz vor und während der Selbstverletzung ist das Schmerzempfinden herabgesetzt und setzt erst ca. 20 Minuten später wieder ein. Währenddessen stellt sich ein tiefgreifendes Gefühl der Entspannung, Ruhe und Geborgenheit ein. Auch bei dem Gefühl eines unerträglichen Druckes hat es entlastende Funktion, so „ wie wenn man aus einem Ballon die Luft herauslassen w ü rde “ (Sachsse 1997, S.51).

Das so genannte Hochrisikoverhalten erfüllt einen ähnlichen Zweck und wird auch im Sinne einer Regulation von Ohnmachtsgefühlen eingesetzt. Darunter fallen Verhaltensweisen wie das Balancieren auf Brücken oder Balkongeländern oder das lebensgefährliche Rasen mit dem Auto (vgl. Giernalczyk 1999, S. 9).

Ein weiterer Aspekt ist der der Selbstbestrafung in Folge extremer Schuldgefühle oder Gefühlen von Selbsthass, die häufig nach unbefriedigend verlaufenen Auseinandersetzungen oder Kritik aktiviert werden. „ ( … ) diese Schuld wollte ich aus mir herausschneiden. “ (Sachsse 1997, S. 51) „ I shall bleed for it. “ (Patientin in Rhode-Dachser 2000, S.144). Zusätzliche Motivationen entstehen mit der Zeit der Gewöhnung, so dass die Selbstverletzung und die Abspaltung vom eigenen Körper auch gezielter eingesetzt werden kann, z.B. für Manipulation und Schuldzuweisung. Dies ist auch als ein Element des typischen „Agieren“ bekannt, wobei nicht zu vergessen ist, dass diese destruktive Art der Machtausübung gewählt wird, weil selbsterhaltende Mittel nicht mehr erfolgversprechend erscheinen oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. Giernalczyk 1999, S.32).

Die Verbindung zu einer Form der zwischenmenschlichen Frustration als Auslöser ist häufig nur zu offensichtlich. GIERNALCZYK weist darauf hin, zu beachten, welches Ereignis oder welche Kränkung im therapeutischen Prozess Impulsen zur Selbstverletzung unmittelbar vorausgeht, bevor es zu Überforderung, Ablehnung oder Rückzug des behandelnden Therapeuten kommt, was dem Patienten genau das bestätigen würde, was er von vornherein befürchtete (vgl. ebd.).

In Anbetracht der häufigen Inzestvergangenheit folgert DULZ, dass die meist unvermeidliche Identifikation des emotional abhängigen Kindes mit dem Täter dazu führt, dass es sich unwert fühlt, etwas anderes verdient zu haben, dem Täter das Recht überträgt, den Missbrauch fortzuführen und Verantwortung und Schuld für den Missbrauch am Ende bei sich selbst sucht. Diese Introjektion des Schuldgefühles des Erwachsenen erkannte auch FERENCZI schon als die bedeutsamste Wandlung in Folge der ängstlichen Identifizierung mit dem Elternteil. (vgl. Dulz et al. 1997, S.53) „ Von diesem Punkt hin zu der Durchf ü hrung autoaggressiver Handlungen scheint es dann nur ein kleiner Schritt zu sein. “ (ebd.)

SACHSSE sieht die Selbstverletzung unter dem Aspekt der Bezuglosigkeit zum eigenen Körper. Der Körper diente in der Kindheit eher der narzisstischen und sexuellen Befriedigung anderer, womit er zum „Nicht-Selbst“ wird. Das durch Missbrauch und Misshandlung verursachte Trauma geht mit Dissoziationen des Körpers einher. Dadurch können „ ( … ) in den Körper als ein fremdes Objekt inkompatible, abgespaltene Selbst-Anteile reprojiziert werden. “ (Sachsse 1997, S. 46) Wenn also die Wahrung der schützenden Hülle, der Haut verwehrt wurde, indem die Grenzüberschreitung über diese letzte äußere Grenze hinweg „unter die Haut“ ging, können sich Hass, Ekel und Aggressionen auch auf dissoziierte Teile des eigenen Körpers richten und innerhalb der eigenen Körpergrenzen ausagiert werden, was damit gleichzeitig dem introjizierten Aggressor wie dem ebenso verhassten und nicht schützenswerten Körper gelten kann und eine ebenso entlastende Wirkung hat, wie ein nach außen gerichteter Impuls.

Bei fremdverletzendem Verhalten ist die Gewichtung eher eine andere und wird häufiger von männlichen Borderline-Patienten gewählt. Elterliche Misshandlung in Form von Züchtigungen und Gewalt beziehe sich vorwiegend auf Jungen, deren Väter damit versuchen, der Gefahr einer späteren Auflehnung entgegenzuwirken, da ein Junge, der sich dem Vater gegenüber als schwach einschätzt, diesen später nicht als Familienoberhaupt abzulösen wagt. Das durch die Übergriffe verinnerlichte Gefühl der Schwäche kann wiederum am besten in Form von Fremdaggression kompensiert werden, die dann insbesondere den Personen gilt, zu denen eine Vaterübertragung oder eine partielle Erinnerung an den züchtigenden Vater besteht (vgl. Dulz et al. 1997, S.53).

2.2.6 Suizidalität

„ Ich bin in einer Telefonzelle an einem Bahnhof, leider kann ich Ihnen nicht sagen an welchem. (...) es ist jetzt soweit, ich gehe auf die Gleise. Ich wollte mich nur noch verabschieden und f ü r Ihre Hilfe bis hierher danken. “ (Patient in Giernalczyk 1999, S.50) Es gibt viele Formen suizidalen Verhaltens. Es ist „ ( … ) einerseits ein innerpsychisches, andererseits auch ein interaktionelles Geschehen, dass sich meist zwischen dem Suizidalen und signifikanten anderen Personen ereignet. “ (ebd., S.49) Welche Anlässe als Auslöser fungieren und welchen Stellenwert Suizidalität jeweils erhält, ist eine Frage der individuellen Entwicklung der BPS. Giernalczyk lenkt den Blick auf die Signalwirkung und die funktionalen Aspekte des Suizidalität, die hierin eine ebenso kreative Leistung darstellt, mit einer psychischen Krise umzugehen, wie auch andere Symptome. Es ist der Problemlösungsversuch einer Persönlichkeitsstruktur, die in ihrer Anpassungsleistung überfordert ist (vgl. ebd.).

Die Wirkung auf das Umfeld ist ähnlich wie bei den oben genannten Selbstverletzungen.

Angehörige fühlen sich oft erpresst und fühlen sich zwischen der Sorge und der Wut hin und her gerissen. Für die Therapie gilt jedoch, dass jede suizidale Handlung ernst zu nehmen ist, da sie „ ( … )Ausdruck subjektiver Not ist und oft als letzte Möglichkeit einer Problemlösung angesehen werden kann. Dies gilt auch dann, wenn eine parasuizidale Handlung begangen wird, bei der man den Tod allenfalls als eine der Konsequenzen billigend in Kauf nimmt. “

(Giernalczyk 1999, S.31)

Aus diesem Zitat wird offensichtlich, dass die Suizidalität nicht als ein Problem auftritt, das aus einem gewissen Abstand zu behandeln ist, sondern sie tritt immer als etwas Belastendes direkt in die Beziehung hinein, wie auch das Eingangszitat erkennen lässt. Subjektiv empfundene Kränkungen aktivieren frühe Ängste vor Objektverlust. Eine Form der erpresserischen Objektbindung wie sie die Suizidalität oder auch die Selbstverletzung sein kann, erscheint als letzte Möglichkeit den bedrohlichen Objektverlust zu verhindern. „ Suizidalität steht somit im Dienste der Objektbindung “ (ebd., S.52) Bei der Verlustangst werde wiederum die Spaltung in nur „gute“ und nur „schlechte“ Objekte aktiviert, was die doppelte Funktion dieser Symptomatik in Folge einer Frustration erkläre. Das bisher gute Objekt werde schlagartig zu einem bösen, da in der Welt der inneren Objekte die Integration der Gegensätze nicht gelingt. Trennungsängste reaktivieren dann die als real bedrohlich erlebten früheren Erfahrungen, welche für den Patienten nicht durch dieselbe Person verkörpert werden dürfen, die gleichzeitig den Glauben an das Gute und Schützende im Gegenüber nähren. So bediene die Selbstverletzung wie auch der Suizid immer zweierlei Aspekte, den strafenden und den bindenden (vgl. ebd., S.51).

2.2.7 Dissoziation in Folge von Aktivierungen traumaassoziierter Schemata

Der ausufernden und streckenweise äußerst unübersichtlichen aktuellen Disskussion zu diesem Thema, inwieweit die Dissoziation anderen Kategorien übergeordnet, eingeordnet oder untergeordnet zu sein hat, inwieweit es traumatisch, frühkindlich oder prädispositiv verursacht ist, werde ich mich im Detail entziehen, da es nicht Ziel dieser Arbeit sein kann, die Vielfalt der umstrittenen Standpunkte aus Forschung und Analyse darzulegen, solange noch grundsätzliche empirische Untersuchungen ausstehen. Den hier bestehenden Streit in der Definitionsfrage zu erörtern scheint mir außerdem für das Gesamtbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung eher verwirrend als klärend zu sein. Ich will jedoch versuchen, einen Überblick zu vermitteln.

Bei der Dissoziation handelt es sich um einen mehr oder weniger deutlichen Verlust der Integration des Erlebens und Handelns. Sie kann als grundlegende Fähigkeit des Menschen angesehen werden, emotional unvereinbare Wahrnehmungen und Erfahrungen zu bewältigen und kann auch bewusst herbeigeführt werden (vgl. Sachsse 1997, S.46). WIRTZ spricht daher auch von der Dissoziation als einer „ ( … ) psychischen Erstarrung, die auch als emotionale Anästhesie bezeichnet wird, ( … ) “ (Wirtz in Dulz et al. 1997, S.50) Bewusstheit, Raum- und Zeiterleben, Erinnerung, Gedächtnisleistung und Identitätserleben können dabei vorübergehend oder in Einzelfällen auch für längere Zeit beeinträchtigt sein. Der Betreffende befindet sich in Zuständen, die vor allem die Erfahrung der Ganzheitlichkeit der eigenen Person verändern oder stören. Auch der Verlust der Kontrolle über Körperempfindungen und Körperbewegungen kann hierunter gefasst werden. In schweren Fällen kommt es zu einer „dissoziativen Amnesie“ oder auch einer „dissoziativen Fugue“, wobei Betroffene z.B. Heimatort oder Arbeitsplatz verlassen oder eine andere Identität annehmen, ohne sich ihrer Vergangenheit erinnern zu können.

Andere Erscheinungsformen sind Derealisation und Depersonalisation, die ein chronisches Ausmaß annehmen können und mitunter leicht übersehen werden können, weil das Ich des Patienten scheinbar mit dem Interaktionspartner in Kontakt tritt. Ausdrucksweisen, die Rückschlüsse auf dissoziatives Erleben zulassen, können hochabstrakte Gefühlsbeschreibungen oder Körperbeschreibungen sein, die als nicht zum Patienten zugehörig erscheinen. Der distanzierte und kontaktlose Umgang geht auf ein Entfremdungsgefühl des Patienten der eigenen Person oder seiner Umwelt gegenüber zurück (vgl. Rhode-Dachser 2000, S.44f).

Für sich genommen tritt die Dissoziation selten als Einzelphänomen auf, meist steht sie in Verbindung mit traumatischen Erlebnissen (vgl. Fiedler 2001, S.2f). Ganz allgemein kann man sagen, „ Traumatisierend wirkt ein Ereignis dann, wenn es das Ich vor ü bergehend au ß er Kraft setzt. “ (Sachsse 1997, S.46) Situationen in der Gegenwart, die innere Verknüpfungen an zurückliegende traumatische Erfahrungen bilden, können die auslösende Dissoziation reaktivieren, hierfür genügt schon intrapsychischer Stress. BOHUS erklärt diese Beeinflussung des Erlebens mit der Aktivierung eines traumaassoziierten Schemas. So könne durch eine Zurückweisung oder Kritik ein Ohnmachtsgefühl entstehen, dass schema- aktivierend wirkt, dadurch das Ohnmachtsgefühl während der Traumatisierung schlagartig wiederaufleben lässt und in Folge zu einer Dissoziation führt.

Studien zufolge weisen ca. 65% aller als Borderliner diagnostizierten Patienten schwerwiegende, klinisch relevante dissoziative Symptome auf, die eng mit selbstverletzendem Verhalten korrelieren (vgl. Bohus 2002, S.15).

Nach neueren Untersuchungen erhalten diejenigen Theorien mehr Gewicht, die bei der Entstehung der BPS weder ausschließlich von frühkindlicher Traumatisierung ausgehen, noch dissoziative Symptome ihrerseits als Beleg für eine BPS sehen. Vielmehr sei eine Differenzierung in Dissoziative (Identitäts-)Störung und Borderline-Störung erforderlich, bzw. in eine Borderline-Persönlichkeitsstörung mit und ohne zusätzlicher dissoziativer Störung. Diese müssten jeweils eine unterschiedliche Behandlungsform nach sich ziehen.

Erhärtet würde diese Theorie dadurch, dass viele Patienten mit dissoziativen Phänomenen im Sinne einer diagnostizierten Borderline-Persönlichkeitsstörung erfolglos psychiatrisch behandelt wurden.

In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass, unabhängig von Details in Fragen der Kategorisierung, bei Borderline Diagnosen die dissoziative Komponente vorrangig berücksichtigt werden müsste, um einen entsprechenden traumaorientierten Schwerpunkt in den Behandlungsplan zu integrieren (vgl. ebd., S.44ff, vgl. Fiedler 2002, S.215ff).

„ Die bei Borderline-Patienten findbaren dissoziativen Symptome lassen sich zumeist eindeutiger aus den fr ü hkindlichen Belastungen voraussagen als die Borderline- Persönlichkeitsstörung insgesamt. Traumaerfahrungen bewirken fast ausschlie ß lich dissoziative Symptome, nicht sehr eindeutig jedoch die anderen Borderline-Symptome. “

(Fiedler 2002, S.215)

In relativer Übereinstimmung dazu beschreibt die klinische Bindungsforschung aus der Sicht der Psychoanalyse ein spezifisches Bindungsverhalten, dass nachweislich mit einer erhöhten Neigung zur Dissoziation verknüpft ist. Es betreffe Menschen, die in der Kindheit kein organisiertes Bindungsmuster ausbilden konnten. Dieses „desorganisierte Bindungsmuster“ wiederum sei oft auf unverarbeitete Traumata der Mutter zurückzuführen, was bindungstraumatische Folgen beim Kind verursachen könne (vgl. Köhler in Kächele et al. 2002, S.4ff).

2.2.8 Antisoziales Verhalten und Delinquenz

KERNBERG weist in seinem Geleitwort für die zweite Auflage von DULZ et al. über stationäre Therapie von Borderline-Störungen auf die Delinquenz als den bedeutsamsten Prädikator hinsichtlich der Prognose der Behandlung hin. Erfahrungsgemäß haben es Patienten mit delinquenten Verhaltensmustern wesentlich schwerer, nach der Entlassung aus stationärer Behndlung den geplanten Weg fortzuführen, selbst wenn diese während der Behandlung in den Hintergrund getreten waren. Meist handelt es sich um kleinkriminelle Straftaten wie Eigentumsdelikte, Drogenmissbrauch, Sach- und Körperverletzung.

[...]

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Neue Modelle der Genese und Therapie von Borderline-Persönlichkeitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungsgestaltung und -erfahrung
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
85
Katalognummer
V30410
ISBN (eBook)
9783638316743
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neue, Modelle, Genese, Therapie, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Berücksichtigung, Beziehungsgestaltung
Arbeit zitieren
Carsten Eschrich (Autor:in), 2004, Neue Modelle der Genese und Therapie von Borderline-Persönlichkeitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungsgestaltung und -erfahrung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30410

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