Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 (Post-)Moderne Grundprobleme
2.1 Ricoeur und die Philosophische Anthropologie
2.2 Erzählen und Sich-selbst-Erzählen
3 Idemität und Ipseität
3.1 Der Fall »Tubutsch«
3.2 Der Ausweg Selbstheit
4 Narrative Identität
5 Resümee
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ein Mann, der Herrn Keuner lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: »Sie haben sich gar nicht verändert.«
»Oh!« sagte Herr Keuner und erbleichte.1
Wie diese kurze Keuner-Geschichte Bertolt Brechts deutlich macht, denken wir - spätestens seit der Moderne - im Begriff der Identität eine Veränderlichkeit des Individuums mit, und zwar eine notwendige, wie auch aus Carl Einsteins Bebuquin hervorgeht, wenn es heißt: »Ich sagte mir […], werde dich los. […] Beschimpfe dich so lange, bis du etwas anderes bist.«2 Daß mit dieser geforderten Wandel- bzw. Veränderbarkeit des Individuums jedoch nicht wenig Probleme einhergehen, weiß Malte Laurids Brigge, Protagonist in Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). Nach dreiwöchigem Aufenthalt in einer fremden Stadt gelangt dieser zu dem Schluß, es sei sinnlos, Briefe an Bekannte zu schreiben, denn:
Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.3
Die Wahrnehmung der Veränderungen an sich selbst lassen Malte in radikaler Weise einen Verlust seiner bisherigen Identität diagnostizieren und zu dem Schluß kommen, »etwas anderes« (Unbestimmtes) sein zu müssen.
Während wir also einerseits dem Einzelnen Veränderlichkeit abverlangen, die wir alltagssprachlich als »(Weiter-)Entwicklung« bezeichnen, beinhaltet unser Verständnis personaler Identität andererseits auch die Forderung, daß der Einzelne kontinuierlich derselbe ist und bleibt, der er schon immer war.
Wie nicht nur diese zwei Beispiele aus der Literatur des 20. Jahrhunderts zeigen, manifestiert sich das Phänomen mobiler, multipler, selbstreflexiver4 werdender Identität besonders in der Literatur und Literaturtheorie5 - ob in der Moderne bei Rilke, Ehrenstein, Einstein oder Musil zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ob in der Postmoderne und Gegenwart bei Brecht, Handke, Hilbig oder auch Sebald. Ihnen allen ist die Auseinandersetzung mit dem Problem der personalen Identität, d. h. der Dialektik von Beständigkeit und Wandelbarkeit, gemein.
So scheint nicht zuletzt die Tatsache, daß eine stetig wachsende Menge vor allem an Ich- Erzählern die eigenen Geschichten samt der mit der Begreiflichkeit des Ichs verbundenen Probleme schildert, Odo Marquard in diesem Punkt zu bestätigen: »Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber.«6 Oder mit Fernando Pessoa: »Sich bewegen heißt leben, sich in Worte fassen heißt überleben.«7 Für Findung, Erfindung, Kohärenz und Kontinuität der eigenen Identität - trotz Veränderungen - scheint das Erzählen notwendig. Zu diesem Ergebnis kommt auch Paul Ricoeur mit seiner Konzeption narrativer Identität, derzufolge das Individuum durch das Erzählen und Rezipieren seiner und anderer (Lebens-)Geschichten zu einer Bestimmung seiner eigenen Identität finden kann.
Dieses Konzept soll im Verlauf dieser Arbeit näher erläutert und anhand von Beispielen aus der zeitgenössischen Literatur veranschaulicht werden.
2 (Post-)Moderne Grundprobleme personaler Identität
2.1 Ricoeur und die Philosophische Anthropologie
Der Mensch, »aus Gründen seiner Existenzform k ü nstlich «, so Helmuth Plessner, und als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß […] »etwas werden« und sich das Gleichgewicht - schaffen […] mit Hilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen. […] Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren […].8
Plessner beschreibt den Menschen als uneinheitliches, »hälftenhaftes«, nicht eindeutig bestimmtes Lebewesen; »künstlich«, da er gezwungen ist, sich in seiner Exzentrizität selbst zu schaffen. Als Mangelwesen obliegt ihm, »sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist«9, indem er mit Hilfe der außer ihm befindlichen Dinge, die er schafft, zugleich etwas schafft, das ihn sich selbst verständlich werden läßt.
Spricht Ricoeur von der »Ortlosigkeit«10 des Ichs, scheint er diesen Gedanken Plessners aufzugreifen. Das Selbst, das sich zu verstehen und zu bestimmen trachtet, ist in seinem Selbstbezug stets angewiesen auf ein anderes - es »erkennt sich nicht unmittelbar, sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedenste kulturelle Zeichen.«11 Und wie sich bei Plessner das Individuum selbst entwerfen muß durch das Schaffen außernatürlicher Dinge, die es schließlich näher umgrenzen, so konstituiert Ricoeur zufolge das Selbst seine Identität durch das Erzählen seiner Geschichten, auf die es reflektiert - »als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens«12, wie er es unter Rückgriff auf Proust beschreibt. Daher gilt es zunächst genauer zu betrachten, was Erzählen und Sich-selbst-Erzählen bedeutet.
2.2 Erzählen und Sich-selbst-Erzählen
Gerard Genette beschreibt drei Aspekte des Erzählens: erstens die Tätigkeit des Erzählens, zweitens den propositionalen Gehalt des Erzählten, d. h. das, was erzählt wird, und drittens die Abfolge der realen oder fiktiven erzählten Geschehnisse, d. h. das, was sich ereignet hat.13 Für die Situation des Sich-selbst-Erzählens ergibt sich eine weitere Unterteilung:
Die Person geht dabei eine doppelte Beziehung mit den Instanzen der Erzählung ein: einerseits ist sie assoziiert mit dem Erzähler, der sich in ihrem Auftrag auf das Leben bezieht, andererseits mit dem Protagonisten, der seinerseits für die Person steht, von der erzählt wird.14
In der Selbsterzählung haben wir es hypothetisch mit einer »Dreieinigkeit« von dem Erzähler, der von den Erlebnissen des Protagonisten als dem Erlebenden der Geschichte(n) berichtet, und der wirklich existierenden Person - dem Autor 15 -, die eben zugleich Erzähler und Protagonist ist, zu tun. Dabei handelt es sich um ein indirektes Selbstverhältnis16, dessen Verständnis zur Voraussetzung hat, daß es - in Form der Erzählung - » zur Sprache komm[t] «17.
Dieter Thomä beleuchtet die verschiedenen Formen dieses Selbstverhältnisses im Erzählen, u. a. Selbstfindung und Selbsterfindung. Im Verhältnis der Selbstfindung liegt das Augenmerk des Erzählers auf den Erlebnissen des Protagonisten18, im Vordergrund steht die narrative »Dyade von Autor und Protagonist « 19. Mit der anhand der Erzählung möglichen Feststellung dessen, was dem Protagonisten widerfährt, wird zugleich die personale Identität festgestellt, da das, was die Geschichte erzählt, gleichzeitig der Person ›erzählt‹, was ihr widerfährt. Sagen die Geschichten der Erzählung, wie der Protagonist ist, so sagen sie, wie die Person - als Protagonist der Geschichten - ist. Es obliegt ihr, sich mit den erzählten Geschichten ein Selbst anzueignen, ihr Selbst zu finden, indem die Erzählung ihr ihre Persönlichkeit aufzeigt. Es ist das »Erzählen vom Ich«20, weil entscheidend ist, daß darin von jemandem berichtet wird21.
Diese Art der Selbstfindung kann insofern scheitern, als es möglich ist, daß der Erzähler am Erzählen des eigenen Lebens scheitert und dadurch das, was er sucht, nicht findet, wie sich im Verlauf dieser Arbeit noch zeigen wird.
Im Verhältnis der Selbsterfindung, dem »Erzählen als Ich«22, wird der Erzähler in den Vordergrund gerückt, der sich »durch die Erzählung ›zieht‹«23 und dabei seine - also die der Person - Kompetenz im » Umgang mit Qualitäten «24 zum Vorschein bringt. Entscheidend ist hierbei der Gedanke, daß sowohl Form als auch Inhalt des Erzählens von Interpretationen, Sichtweisen und Ansprüchen - kurz: von Eigenschaften des Erzählers und damit der Person - abhängig sind, wodurch der Protagonist durch die stets im Wandel begriffene ›Brille‹ des Erzählers zum Vorschein kommt und schließlich die Form der Erzählung »zugleich zur Form des Lebens avanciert«25. Für den Erzähler »gibt es keinen anderen Ort als nur diese narrative Struktur selbst«26 ; er ist die Ansammlung von in der Narration formulierten Wünschen und Hoffnungen, die durch das Formulieren - ein stetes Neuinterpretieren - Veränderungen preisgegeben sind.27
Trotz dieser beiden Aspekte des Sich-selbst-Erzählens ist das Ergebnis des Erzählens nicht ein Begriff des Selbst, der sich »in der Konstruktion einer eigensten Erzählung erschöpft«28. In der Erzählung als Mittel zur Selbstbestimmung kann die Person, sich zu dem, was ihr widerfährt und was sie tut - also auch zum Erzählen als einem Handeln - stets verhalten und bleibt dergestalt autonom gegenüber der Narration.29 Ein eindrückliches Beispiel dafür finden wir in Wolfgang Hilbigs »Eine Übertragung«:
Da ich die Hauptfigur - oder vielmehr die einzige Figur - meiner Geschichten in der Regel in der ersten Person auftreten ließ, schien es meinen Lesern von der ersten Zeile an gewiß, daß es sich bei diesem Ich um meine eigene Person handele, daß der Schreibende und der Beschriebene also ein und dieselbe Figur waren […]. Dergleichen erregte meinen Unmut natürlich so heftig, weil ich mich mir gegenüber selbst so verhielt: wenn ich andauernd betonte, daß es sich […] um eine von mir erfundene Geschichte handele, so darum, weil ich mein Leben mit dem gleichen Seitenblick auf mich las, wie meine Leser meine Texte lasen und mir dabei verstohlen hinter die Stirn zu schielen glaubten.30
Sowohl der Einfluß der Narration auf das Selbst der erzählenden Person als auch ihr wie auch immer geartetes Sich-Verhalten gegenüber dem Erzählten kommen in dieser Metareflexion zum Ausdruck, gleichermaßen sich identifizierend wie abgrenzend. Wenngleich die Person also mit dem Protagonisten wie mit dem Erzähler identifiziert wird, so ist sie keineswegs beschränkt auf diese beiden Instanzen und wird durch sie nicht in Gänze erfaßt oder abschließend bestimmt.
[...]
1 Brecht, Bertolt: Das Wiedersehen. In: Geschichten vom Herrn Keuner. Text und Kommentar. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012. S. 29.
2 Einstein, Carl: Bebuquin. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart: Reclam 2011. S. 55f.
3 Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. S. 9.
4 Vgl. Kellner, Douglas: Popular culture and the construction of postmodern identities. In: Modernity & Identity. Hrsg. von Scott Lash und Jonathan Friedman. Oxford: Blackwell 1992. S. 141-177.
5 Exemplarisch für multipler bzw. uneindeutiger wahrgenommene Identität scheint das rege diskutierte Phänomen der sogenannten »Autofiktion«.
6 Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen: Studien. Stuttgart: Reclam 2000. S. 60.
7 Pessoa, Fernando: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2012. S. 39.
8 Plessner, Helmuth: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart: Reclam 1982. S. 17f.
9 Ebd.
10 Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink 1996 (=Übergänge, Bd. 26). S. 26.
11 Ricoeur, Paul: Narrative Identität. In: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999). Hrsg. von Peter Welsen. Hamburg: Meiner 2005. S. 209-225. S. 222.
12 Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit. München: Fink 1991. S. 396.
13 Vgl. Genette, Gerard: Die Erzählung. 2. Auflage. München: Fink 1998. S. 15f.
14 Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007. S. 31-32.
15 Vom Autor ist freilich nur dann die Rede, wenn es sich um einen autobiographischen Text handelt; im Folgenden wird weitestgehend von der »Person« die Rede sein, da es sich hierbei ebenso gut um einen Sprecher handeln kann.
16 Vgl. ebd.
17 Ebd. S. 83.
18 Vgl. ebd. S. 84.
19 Ebd. S. 92.
20 Ebd. S. 128.
21 Vgl. ebd. S. 93.
22 Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. S. 128.
23 Ebd. S. 123.
24 Ebd. S. 127.
25 Ebd.
26 Ebd. S. 128.
27 Vgl. ebd. S. 128.
28 Ebd. S. 165.
29 Atonom ist die Person im Kontext des Sich-selbst-Erzählens. Eine Person als Teil eines Sozialgefüges steckt immer auch in Kontexten, an denen sie mal aktiv, mal passiv partizipiert.
30 Hilbig, Wolfgang: Eine Übertragung. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2003. S. 18-19.