Die Vernetzung von Wörtern im mentalen Lexikon

Bedeutung und Möglichkeiten der systematische Wortschatzerweiterung und Wortschatzvertiefung in der Sekundarstufe I


Examensarbeit, 2013

62 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Die Wortschatzarbeit – ein vernachlässigter Bestandteil des Deutschunterrichts?

2 Sprachwissenschaftliche und psycholinguistische Grundlagen
2.1 Der deutsche Wortschatz
2.2 Die Sprache und ihre Sprecher
2.3 Der Spracherwerbsprozess
2.3.1 Sprachevaluation und Sprachentwicklung
2.3.2 Ablauf der kindlichen Sprach- und Wortschatzentwicklung
2.4 Die Wortbedeutung
2.4.1 Die Zuweisung von Bedeutungen
2.4.2 Möglichkeiten der Beschreibung von Bedeutungen
2.5 Der menschliche Wortspeicher
2.5.1 Aufbau des mentalen Lexikons
2.5.2 Semantische Strukturen im mentalen Lexikon
2.5.2.1 Paradigmatische und syntagmatische Wortbeziehungen
2.5.2.2 Morphologische Relationen

3 Wortschatzerweiterung und Wortschatzvertiefung im Deutschunterricht
3.1 Darstellung der Notwendigkeit einer zielgerichteten Wortschatzarbeit
3.1.1 Zielgerichtete vs. beiläufige Wortschatzarbeit
3.1.2 Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien
3.1.3 Lexikalische Kompetenz und ihre Bedeutung für die Sprachkompetenzen
3.2 Ziele der Wortschatzarbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht
3.3 Wortschatzarbeit im Deutschunterricht der Sekundarstufe I

4 Exemplarische Unterrichtseinheit
4.1 Vorüberlegungen
4.2 Unterrichtsverlauf

5 Wortschatzarbeit im interkulturellen Kontext der Schulklasse

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang (1-7)

Die Vernetzung von Wörtern im mentalen Lexikon –

Bedeutung und Möglichkeiten der systematischen Wortschatzerweiterung und Wortschatzvertiefung in der Sekundarstufe I

1 Die Wortschatzarbeit - ein vernachlässigter Bestandteil des Deutschunterrichts?

Wir Menschen können uns mit Hilfe von Wörtern verständigen, nicht aber mittels grammatischer Regeln. Aufgrund der unbestrittenen Tatsache, dass die Kenntnis von Wörtern die Grundvoraussetzung für sprachliche Verständigung ist,[1] ist es etwas verwunderlich, dass die grammatischen Systeme und die Abfolge des Spracherwerbs weit besser erforscht sind als der Wortschatz und der Wortschatzerwerb.[2] Für die alltägliche Kommunikation reichen bereits 2.000 Vokabeln aus, um sinnvoll kommunizieren zu können. Für den differenzierten Ausdruck, wie er im schulischen Unterricht verlangt wird, müssen allerdings weitaus mehr Wörter beherrscht werden.[3] Nicht nur im schulischen Kontext, sondern auch vom späteren Arbeitgeber wird erwartet, dass sich die Jugendlichen sprachlich gewandt ausdrücken können und einen umfangreichen Wortschatz in Sprache und Schrift vorweisen können.

Neuere Erkenntnisse der Psychologie zeigen die häufig unterschätzte Bedeutung des Wortschatzes für das sprachliche Handeln auf. Demnach sind beispielsweise „50% aller Produktionsprobleme in Sprachleistungen lexikalisch motiviert.“[4] Weitere Untersuchungen zeigen, je umfangreicher der Wortschatz ist, desto besser schneiden die Schülerinnen und Schüler in Lese-, Ausdrucks- und Schreibfähigkeiten ab.[5] Anhand dieser Erkenntnisse rechtfertigt sich eine Stärkung der bewussten und systematischen Wortschatzarbeit im Deutschunterricht. Problematisch ist allerdings zu sehen, dass innerhalb der Deutschdidaktik nur ein vergleichsweise schwacher Strom von Publikationen zu diesem Thema zu finden ist, der sich zudem auf nur wenige Aspekte bezieht.[6] Des Weiteren wird die Arbeit am Wortschatz im muttersprachlichen Deutschunterricht in den Bildungsstandards und Lehrplänen nur recht unspezifisch und in geringem Umfang aufgeführt, was die gezielte Verbesserung des Wortschatzes als vernachlässigbar erscheinen lässt. Im Gegensatz dazu nimmt das Thema Arbeit am Wortschatz im Deutsch als Zweitsprache Unterricht einen großen Stellenwert ein. Aber sollten Schüler, die keinen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache bekommen, in diesem Bereich nicht auch gezielt gefördert werden? Ist davon auszugehen, dass alle Schüler einen umfassenden muttersprachlichen Wortschatz nebenbei erwerben?

Die systematische Herangehensweise an den Wortschatzerwerb halten viele Deutschlehrer für völlig überflüssig. Diese Haltung wird dadurch gerechtfertigt, dass es sich im Gegensatz zum quantitativ überschaubaren Vokabellernen im Fremdsprachenunterricht um viel zu viele Wörter und Wendungen handle, die man den Schülerinnen und Schülern beibringen müsse. Des Weiteren seien die einzelnen Verwendungsweisen und der Bedeutungsumfang eines Wortes viel zu komplex, um sie im Unterricht fassen zu können. Auch der dafür benötigte hohe Zeitfaktor spielt eine große Rolle.[7] Deswegen wird bei der Thematik rund um die Wortschatzerweiterung und Wortschatzvertiefung zumeist eine implizite Unterrichtsmethode gewählt, die weniger Lehreranstrengung und Unterrichtszeit als expliziter und systematischer Wortschatzunterricht benötigt.

In der vorliegenden Arbeit wird darauf eingegangen, wie sich kindliche Sprache entwickelt, welche Schlüsselposition dabei dem Wortschatz zukommt und was Lernende tun müssen, um sich ein neues Wort anzueignen. Dabei soll im Besonderen aufgezeigt werden, wie sich uns Bedeutungen, Vernetzungen (Antonyme, Synonyme, etc.) und Kenntnisse über ein Wort erschließen und auf welche Art und Weise ein neues Wort im menschlichen Gehirn abgespeichert wird. Dieses linguistische Wissen ist notwendig, um die Arbeit am Wortschatz im Schulbereich zielführend durchzuführen.

Lehrkräfte sollten wissen, wie neue Wörter erworben werden, wie sich Bedeutungen entwickeln und was bestimmte Wörter zu schwer erlernbaren Wörtern macht. Nur so können sie in einer Unterrichtsstunde entscheiden, welche Wörter geklärt werden müssen, welche sich für die Schülerinnen und Schüler bereits aus dem Kontext erschließen lassen und inwiefern der Wortschatz erweitert bzw. vertieft werden muss.[8] In einem an der Unterrichtspraxis der Sekundarstufe I orientierten Teil meiner Arbeit wird auf Methoden, Bedeutungen und Zielsetzungen der muttersprachlichen Wortschatzarbeit eingegangen und ein konkreter Vorschlag für eine Unterrichtseinheit für die Jahrgansstufen 7/8 dargestellt.

2 Sprachwissenschaftliche und psycholinguistische Grundlagen

2.1 Der deutsche Wortschatz

Mit der Beschreibung von Wort und Wortschatz beschäftigt sich die Lexikologie. Schippan (2002) bezeichnet den Wortschatz als „die Menge aller zu einer bestimmten Zeit verwendeten Sprachzeichen einer Sprache oder Sprachgemeinschaft.“[9] Der Wortschatz wird dabei gleichgesetzt mit dem Lexikon der Sprache. Die Grundeinheit des Lexikons ist das Lexem, womit alle benennenden und verallgemeinernden Wortschatzelemente als semantische Grundeinheit erfasst werden. Als Lexikoneinheiten sind Lexeme gesellschaftlich gefestigt und lexikalisiert.[10] Die Lexeme bilden dabei „das Inventar an sprachlichen Zeichen, die bei der Bildung von Äußerungen verwendet und mit Hilfe grammatischer Regeln zu Sätzen in Texten verknüpft werden.“[11] Die Lexeme als bedeutungstragende Bausteine von Sätzen und können dabei dreierlei Gestalt aufweisen. Sie sind:

1) einfache Wörter (Gang, kommen, schlafen)
2) komplexe Wörter (ausgehen, ankommen, Schlafanzug)
3) feste Wortgruppen, Redewendungen, Phraseologismen (jemandem auf die Nerven gehen, sich etwas hinter die Ohren schreiben) [12]

Auch die festen Wortgruppen, welche auch Phraseme oder Phraseologismen genannt werden, bilden eine einzelne lexikalische Einheit. Trotz ihrer Mehrgliedrigkeit haben sie den Status einer Wortschatzeinheit.[13] Burger bezeichnet als Phraseologismus eine Kombination von zwei oder mehreren Wörtern, die der Sprachgemeinschaft genau in dieser Kombination bekannt ist. Sie sind lexemähnlich, aber im Gegensatz dazu als feste Verbindung gebräuchlich.[14] Dabei zeichnen sich Phraseme neben der Polylexikalität, also der Mehrgliedrigkeit, durch ihre Festigkeit und durch Idiomatiziät aus. Unter Festigkeit versteht man dabei die psycholinguistische Stabilität, wodurch es möglich ist, Phraseme als einzelne mentale Einheiten abzuspeichern. Der Grad der strukturellen Stabilität kann dabei variieren. Dadurch kann es bei manchen Phraseologismen zu Variationen kommen. Die Phrase „ in ein schlechtes Licht geraten “ kann beispielsweise auch durch den Ausdruck „in ein schiefes oder falsches Licht geraten “ ersetzt werden.[15] Idiomatizität bezeichnet die „Diskrepanz zwischen wörtlicher und phraseologischer Bedeutung.“[16] Ein Phraseologismus ist voll idiomatisch, wenn seine einzelnen Komponenten ihre Bedeutungen zugunsten einer Gesamtbedeutung verloren haben, und keine Lexeme Hinweise auf die Bedeutung geben, wie zum Beispiel „jemandem einen Floh ins Ohr setzen“.[17]

2.2 Die Sprache und ihre Sprecher

Die Gesamtzahl des deutschen Wortschatzes lässt sich nur schwer schätzen. In der Fachliteratur schwanken die Angaben stark. Es gibt demnach zwischen 300.000 und 500.000 Lexemen in der deutschen Standardsprache. Unter Berücksichtigung der Fachsprachen liegen die Schätzungen bei fünf bis zehn Millionen Wörter.[18] Die Medizin allein verfügt zum Beispiel über etwa eine halbe Million Fachwörter. Dazu zählen Medikamentennamen, Wörter für Körperteile und Organe und Krankheitsbezeichnungen.[19]

Im Laufe der Zeit verändert sich die von den Nutzern gebrauchte Lexik ständig. Immer wieder veralten und verschwinden Lexeme aus dem Gedächtnis ihrer Sprecher.[20] Zugleich werden Lexeme durch modernere ersetzt oder es kommen neue Lexeme hinzu, weil es zeitgeschichtliche Ereignisse oder die sich rasant entwickelnde Technik erfordern. Kein Mitglied der Sprachgemeinschaft beherrscht den gesamten deutschen Wortschatz mit sämtlichen Wörtern und Phraseologismen.[21] Die Zahlen darüber, wie viele Lexeme einzelne Nutzer beherrschen, gehen weit auseinander. Dabei muss zwischen dem Verstehenswortschatz und dem deutlich kleineren Ausdruckswortschatz unterschieden werden. Diese werden auch passiver und aktiver Wortschatz genannt.[22] Ein durchschnittlicher Erwachsener beherrscht etwa 50.000 bis 100.000 Wörter passiv und verwendet aktiv zwischen 6.000 und 10.000 Wörter.[23] Andere Schätzungen gehen von einem Ausdruckswortschatz von bis zu 40.000 Wörtern aus.[24] Bei der Einschulung verstehen Kinder bereits etwa 14.000 Wörter und verwenden selbst 4.000 bis 6.000 Wörter.[25]

Der Erwerb des Wortschatzes ist ein lebenslanger Prozess, dessen Verlauf und Erfolg von zahlreichen Faktoren abhängt. Hierbei wäre etwa das Alter, das persönliche Interesse, das soziale Umfeld oder die gesellschaftliche Integration zu nennen. Jedes Individuum erlernt so in seinem Leben nur einen kleinen Teil der gesamten Lexik und speichert diesen im Langzeitgedächtnis ab.[26]

Der Wortschatz, der von einzelnen Personengruppen benutzt wird, ist also von seinen sozialen Vorerfahrungen und Prägungen abhängig. Als linguistische Beschreibungskategorie hat sich hierfür der Terminus „soziale Varietät“ etabliert. Die Benutzung spezifischer Wörter sowie die Gebrauchshäufigkeit sind dafür maßgebend. Dabei ist der Sprachgebrauch stark abhängig vom Lebensalter der Sprecher.[27] Die Schüler- und Jugendsprache wurde dabei besonders eingehend untersucht. Als Jugendsprachliche Lexeme gelten unter anderem „cool“ und „krass“. Typische Eigenheiten der Jugendlexik sind beispielsweise die „schöpferische Abwandlung der Standardlexik, zum Beispiel durch das Hinzufügen neuer Bedeutungsvarianten „jemanden anbaggern, geil “.“[28] Außerdem werden in übermäßiger Form provokante Lexeme, Tabuwörter und Vulgarismen benutzt. Des Weiteren ist der Wortschatzgebrauch durch neu eingeführte Intensitätsadverbien und Adjektive „ mega, cool, megacool, fett “ gekennzeichnet.“[29] Der Sprachgebrauch einzelner Nutzergruppen lässt sich aber nicht nur nach dem Alter differenzieren, sondern zum Beispiel auch nach dem Geschlecht oder dem Bildungsgrad der unterschiedlichen Sprecher.[30]

Wortschatzerwerb findet jedes Mal statt, wenn wir neuen Wissensbereichen begegnen. Die Anzahl an neu erworbenen Wörtern nimmt dabei mit dem Alter deutlich ab. Dabei nehmen wir die Lexeme und deren Inhalte in unser Gedächtnis auf und erweitern neben unserem Wortschatz auch unser Weltwissen.[31] Wie genau die gesamte Lexik in unserem Gehirn verbunden ist, wird in der Beschreibung des mentalen Lexikons genauer erläutert.

2.3 Der Spracherwerbsprozess

2.3.1 Sprachevaluation und Sprachentwicklung

Die Untersuchung des kindlichen Spracherwerbs zählt zu den zentralen Forschungsaufgaben der Psycholinguistik. Die Sprachentwicklung im Kindesalter ist ein Prozess, der sich parallel zur Hirnentwicklung und zur allgemeinen kognitiven Entwicklung vollzieht. Die Fähigkeit zum kommunikativen Verhalten gehört zu den wichtigsten Leistungen von Lebewesen. Sie ermöglicht eine schnelle Anpassung an veränderte Lebensbedingungen durch Informationsaufnahme und Informationsweitergabe. Die zeichenbasierte Kommunikation ist dabei ein typisches und vor allem notwendiges Grundprinzip.[32]

In der Evaluationsgeschichte ist es bei allen Säugetieren zu einer ähnlichen Struktur von Kommunikation gekommen. Dabei sind einzelne Kommunikationssignale häufig nicht nur auf einzelne Tierarten bezogen, sondern können auch artenübergreifend verstanden werden. Drohgesten mittels der Körperhaltung und des Zähnefletschens werden von den unterschiedlichsten Säugetierarten verstanden.[33] Die Ausbildung von gesprochener Sprache beim Menschen liegt etwa 200.000 Jahre zurück. Es handelt sich um eine entwicklungsgeschichtlich betrachtet sehr spät entstandene Fähigkeit des Menschen, die als Folge vieler unterschiedlicher Einzelleistungen des Gehirns auftritt. Sprache ist dabei „keine genetisch komplett verankerte Leistung, die auf eine Sprachregion des Gehirns zurückgeht, sondern eher ein umfangreiches Verbundprojekt von kognitiven Einzelleistungen.“[34] Kinder sind während der ersten Lebensjahre fähig, jede beliebige Sprache zu erlernen. Angeboren ist lediglich die Bereitschaft zum Spracherwerb. Das Kind muss dann das jeweilige Phonemsystem und die Wortformen seiner Muttersprache erlernen[35]

2.3.2 Ablauf der der kindlichen Sprach- und Wortschatzentwicklung

Neugeborene können bereits unmittelbar nach der Geburt schreien. Ab der zweiten Lebenswoche ist das Schreien des Säuglings bereits ausdifferenzierter und zeigt wahrnehmbare Unterschiede affektiver Zustände an.[36] Dabei handelt es sich um strukturierte Lautmuster, durch die verschiedene Stimmungen und Gefühle ausgedrückt werden können.[37] Das Kind nimmt in dieser ersten, der sogenannten vorsprachlichen Phase, akustische Reize seiner Umgebungssprache auf und richtet seine Aufmerksamkeit besonders auf den Klang von Stimmen.[38] Ab der vierten Lebenswoche entwickelt sich eine mimische Komponente - wie zum Beispiel das Beantworten eines Lächelns mit einem Lächeln - der Kommunikation. Ab der sechsten Woche zeigen Säuglinge bereits non-verbale Anteile der Sprache, wie die gestischen Bewegungen der Hände und Arme. Das Kind lernt durch Beobachtung die Verknüpfung zwischen Lippenbewegungen und der gehörten Sprache kennen, was den Anstoß zum Experimentieren mit der eigenen Sprechfähigkeit gibt.[39]

Vom Ende des ersten Lebensjahres bis zum Alter von zweieinhalb Jahren erkennt das Kind sowohl die wesentlichen phonemischen Kontraste, als auch die Prosodie seiner Muttersprache.[40] Nach Bussmann versteht man unter Prosodie die „Gesamtheit sprachlicher Eigenschaften wie Akzent, Intonation, Quantität, Sprechpausen. Sie beziehen sich im Allgemeinen auf Einheiten, die größer sind als ein Phonem.“[41] Ab dem sechsten Lebensmonat zeigt sich eine verbesserte Unterscheidungsfähigkeit von Lauten der eigenen Muttersprache. Eine Untersuchung ergab, dass sechs bis acht Monate alte Säuglinge einer englischsprachigen Umgebung einige für das Hindi typische phonetische Kontraste wahrnehmen konnten. Im Alter von elf bis dreizehn Monaten waren sie jedoch bereits unsensibel für diese Kontraste. Es erfolgte also eine optimierte Wahrnehmung der eigenen, in diesem Fall der englischen Muttersprache.[42]

Vom siebten bis zum zehnten Monat durchläuft das Kind die Phase des Silbenplapperns. Unabhängig von der Muttersprache produziert es nun Konsonant-Vokal-Silben wie „ba“ oder gedoppelte Silben wie „dada“.[43] Mit etwa zwölf Monaten artikulieren Kinder erste Wörter, bei denen es sich ausschließlich um Nomen handelt. So findet der Übergang zur Ein-Wort-Phase statt. Mit 18 bis 24 Monaten verfügen Kinder etwa über einen Wortschatz von 50 bis 75 Wörtern. Ab durchschnittlich einem Jahr und zehn Monaten befinden sich Kinder in der Zwei-Wort-Phase. Es können also zwei Wörter kombiniert werden und dadurch einfache Handlungsanweisungen verstanden werden.[44]

In den darauffolgenden sechs Monaten folgt eine Wortschatzexplosion. Kinder lernen dabei täglich fünf bis zehn neue Wörter. Diese Phase wird auch Vokabelspurt genannt.[45] Der Lernzuwachs ist dabei stark vom Input durch das soziale Umfeld abhängig und verläuft deshalb sehr unterschiedlich. Insgesamt ist dabei festzustellen, dass das Wortverstehen, also der passive Gebrauch der Sprache, der eigentlichen Wortproduktion weit voraus ist.[46] In einer Längsschnittstudie von Kauschke (2000), die mit vierzig Kindern durchgeführt wurde, fand man heraus, dass das Verstehen von fünfzig Wörtern mit durchschnittlich einem Jahr und einem Monat erreicht wurde, der produktive Gebrauch von fünfzig Wörtern allerdings erst mit einem Jahr und sechs Monaten möglich war.[47] Mit zweieinhalb Jahren beherrschen Kinder im Durchschnitt etwas mehr als 500 Wörter. Im Alter von sechs Jahren, also bei der Einschulung, umfasst der aktive Wortschatz dann etwa 5.000 Wörter. Die Anzahl kann dabei aber sehr stark variieren und stellt nur einen Richtwert dar.[48] Der wesentliche Teil des Spracherwerbs ist nach drei bis fünf Jahren abgeschlossen. Im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren sind Kinder dazu fähig, längere Gesprächsbeiträge zu produzieren.[49] Bis zum 17. Lebensjahr werden jährlich ca. 3.000 Wörter neu verstanden. Danach schwächt der Neuerwerb aber stark ab.[50]

Für die Beschreibung des Lernprozesses einzelner Lexeme haben Fachleute verschiedene Modelle erarbeitet. An dieser Stelle soll ein anerkanntes Modell aufgezeigt werden. Henriksen (1999) hat ein Modell zur Wortkenntnis entwickelt, welches sich in drei Stufen teilt.[51] In der ersten Stufe wird die Bedeutung eines Wortes nur grob und oberflächlich erkannt. Da man die genaue Bedeutung noch nicht kennt, ist auch ein spontaner Abruf noch nicht möglich. In Stufe zwei entwickelt sich eine tiefe Wortkenntnis. Dabei werden die erkannten Wörter vernetzt und mit dem Inhalt verknüpft. Erst in der dritten Stufe geht es um aktive Prozesse, also den Gebrauch der neu erlernten Wörter. Einerseits darum, wie gut man ein Wort versteht (rezeptiv) und andererseits darum, wie man es mündlich und schriftlich anwendet (produktiv)[52]. Der produktive Gebrauch geschieht dabei immer im Rückgriff auf rezeptive Kenntnisse. Die vorhandene Struktur des eigenen Lexikons beeinflusst dabei, auf welche Art und Weise neue Einträge ins Lexikon aufgenommen und integriert werden.[53]

2.4 Die Wortbedeutung

2.4.1 Die Zuweisung von Bedeutungen

Die Lern- und Gedächtnisanforderungen, die für den Erwerb von einzelnen Wörtern notwendig sind, sind sehr unterschiedlich. Ein Nomen kann beispielsweise, häufig oder selten vorkommen, konkret oder abstrakt, bildhaft oder weniger bildhaft, kurz oder lang sein.[54] So lassen sich Lexeme mit nur sehr wenigen Buchstaben wie „Uhr“ oder „Ei“ finden, aber auch solche mit zwanzig oder mehr Buchstaben wie etwa das Kompositum „ Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“. Aber nicht nur Nomen, sondern auch andere Wortarten wie Verben oder Adjektive können in der deutschen Sprache hochkomplex sein. Das Erkennen von Objekten und die korrekte Bedeutungszuschreibung sind dabei besonders wichtig, um die Umwelt erfassen und sich mit ihr auseinanderzusetzen zu können. Dazu müssen der Erkennungsprozess und die Bedeutungszuweisung innerhalb kürzester Zeit erfolgen.[55]

Grundsätzlich hat jedes sprachliche Zeichen eine Kernbedeutung, welche Denotation genannt wird, und eine symbolische Bedeutung, welche Konnotation genannt wird.[56] Durch die Kernbedeutung wird ein Wort klassisch und emotionslos beschrieben. Die Denotation stellt also die inhaltliche Seite eines Wortes dar, die wir zugleich mit einer bildhaften Vorstellung verbinden. Diese Vorstellung ist der Referent, auf den wir uns beziehen. Gegensätzlich dazu steht die konnotative Bedeutung, mit der wir bestimmte Assoziationen oder Emotionen verbinden, welche aus den bisherigen Erfahrungen jeder einzelnen Person resultieren. Sie bildet also die wertende, emotionale Seite der Wortbedeutung. Diese kann negativ oder positiv behaftet sein. Das Wort „Köter “ etwa ist klar negativ gefärbt. Im Gegensatz dazu ist „Hund“ eine neutrale Bezeichnung.[57] Anhand dieses Beispiels ist zu erkennen, dass die Konnotation nicht unbedingt nur eine subjektive Emotion sein kann, sondern durchaus objektiv gegeben sein kann. Wenn wir die Bedeutung eines Wortes ermitteln wollen, aktivieren wir Bewusstseinsinhalte aus unserem Gedächtnis. Diese werden in der Wahrnehmungspsychologie Konzepte genannt und differenzieren sich ein Leben lang weiter aus. Spielt ein Kind mit einem Ball, entsteht zum Beispiel das Konzept „ Ball “. Jeder einzelne Bewusstseinsinhalt über dieses Konzept ist dabei ein Teil des gesamten Wissens eines Einzelnen, welches von der persönlichen Weltwahrnehmung geprägt ist.[58]

Das semiotische Dreieck von Ogden und Richards veranschaulicht, in welcher Beziehung Vorstellung (Konzept), Ausdruck (Lexem) und Referent zueinander stehen.[59] Die folgende Abbildung zeigt die drei Seiten des allgemeinen Weltwissens über die Klasse der Gegenstände, die wir „ Ball “ nennen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Das semiotische Dreieck am Beispiel „Ball“

In einem klassischen Experiment hat Carey (1978) 14 Kindern im Alter von drei und vier Jahren das frei erfundene Wort „ chromium“ für die Farbe Oliv präsentiert. Zuvor versicherte er sich, dass keines der Kinder ein Wort für die Farbe Oliv kannte. Schon beim ersten Hören des neuen Wortes haben mehrere Kinder versucht, es nachzusprechen. Eine Woche später wurde ein Verstehenstest durchgeführt, wobei den Kindern sechs Farbkarten einschließlich Oliv gezeigt wurden. „Chromium“ wurde von neun Kindern für Oliv gewählt. Sechs Wochen später gaben acht der Kinder an, sich nicht an den Namen der Farbe erinnern zu können. Nach 18 Wochen und weiteren Instruktionen hinsichtlich des neuen Wortes waren die Kinder dann allesamt in der Lage, das Wort korrekt zu produzieren und anzuwenden.[60] Dieses Experiment zeigt auf, dass Lerner selbst aktiv werden und sich Wörter zum Beispiel durch das Nachsprechen aneignen wollen. Des Weiteren ist zu erkennen, dass sich das Verstehen und Wiedererkennen des Wortes relativ rasch, ein eigenständiger Gebrauch allerdings erst nach vielen Wochen entwickelt.[61]

[...]


[1] Vgl. Michalak (2009): Wörter als unser Tor zur Welt. S. 34.

[2] Vgl. Apeltauer (2010): Wortschatz- und Bedeutungsvermittlung durch Anbahnen von Literalität. S. 3.

[3] Vgl. Michalak (2009): Wörter als unser Tor zur Welt. S. 34.

[4] Selimi (2009): Wortschatzarbeit konkret. S. 12

[5] Vgl. Ebd. S. 12.

[6] Vgl. Willenberg (2008): Wortschatz Deutsch. S. 79.

[7] Vgl. Ulrich (2005): Mentales Lexikon und Sprachkompetenz. S. 125 ff.

[8] Vgl. Apeltauer (2008): Wortschatz und Bedeutungsentwicklung bei zweisprachig aufwachsenden Kindern. S. 24.

[9] Schippan (2002): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. S. 3.

[10] Vgl. Ebd. S. 1-9.

[11] Ulrich (2010): Wörter Wörter Wörter. S. 6.

[12] Vgl. Ebd. S. 6.

[13] Vgl. Stein (2011): Phraseme und Phrasemsemantik. S. 257.

[14] Vgl. Burger (2007): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. S. 11.

[15] Vgl. Stein (2011): Phraseme und Phrasemsemantik. S. 257-258.

[16] Ebd. S. 258.

[17] Balsliemke (2007): Was noch auf eine Kuhhaut geht... S. 7.

[18] Vgl. Römer/Matzke (2003): Lexikologie des Deutschen. S. 38.

[19] Vgl. Römer/Matzke (2010): Der deutsche Wortschatz. S. 1.

[20] Vgl. Ulrich (2011): Begriffsklärungen: Wort, Wortschatz, Wortschatzarbeit. S. 33.

[21] Vgl. Ebd. S. 33.

[22] Vgl. Ebd. S. 34.

[23] Vgl. Römer/Matzke (2003): Lexikologie des Deutschen. S. 38.

[24] Vgl. Jescheniak (2002): Sprachproduktion. S. 23.

[25] Vgl. Kauschke (2000): Der Erwerb des frühkindlichen Lexikons. S. 35.

[26] Vgl. Ulrich (2011): Begriffsklärungen: Wort, Wortschatz, Wortschatzarbeit. S. 33.

[27] Vgl. Römer/Matzke (2010): Der deutsche Wortschatz. S. 93-94.

[28] Ebd. S. 95.

[29] Vgl. Ebd. S. 95.

[30] Vgl. Ebd. S. 95 ff.

[31] Vgl. Selimi (2009): Wortschatzarbeit konkret. S. 27.

[32] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 43.

[33] Vgl. Ebd. S. 43.

[34] Ebd. S. 44.

[35] Vgl. Dittmann (2010): Der Spracherwerb des Kindes. S. 28.

[36] Vgl. Dittmann (2010): Der Spracherwerb des Kindes. S. 20.

[37] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 45 ff.

[38] Vgl. Dietrich (2010): Psycholinguistik. S. 90.

[39] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 48.

[40] Vgl. Ebd. S. 24.

[41] Bussmann (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft. S. 618.

[42] Vgl. Werker/Lalonde (1988): Cross-language speech perception. S. 672-683.

[43] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 51.

[44] Vgl. Ebd. S. 52.

[45] Vgl. Dittmann (2010): Der Spracherwerb des Kindes. S. 40.

[46] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 52 ff.

[47] Vgl. Kauschke (2000): Der Erwerb des frühkindlichen Lexikons. S. 34.

[48] Vgl. Dittmann (2010): Der Spracherwerb des Kindes. S. 47.

[49] Vgl. Dietrich (2010): Psycholinguistik. S. 88

[50] Vgl. Ulrich (2011): Begriffsklärungen: Wort, Wortschatz, Wortschatzarbeit. S. 34.

[51] Vgl. Selimi (2009): Wortschatzarbeit konkret S. 30.

[52] Vgl. Ebd. S. 30-31.

[53] Vgl. Kilian (2011): Wortschatzerwerb. S. 94.

[54] Vgl. Müller (2013): Psycholinguistik – Neurolinguistik. S. 32.

[55] Vgl. Ebd. S. 32-33.

[56] Vgl. Selimi (2009): Wortschatzarbeit konkret. S. 21.

[57] Vgl. Ebd. S. 22.

[58] Vgl. Ebd. S. 23.

[59] Vgl. Ulrich (2010): Wörter Wörter Wörter. S. 9.

[60] Vgl. Apeltauer (2008): Wortschatz- und Bedeutungsentwicklung bei zweisprachig aufwachsenden Kindern. S. 25.

[61] Vgl. Ebd. S. 26.

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Die Vernetzung von Wörtern im mentalen Lexikon
Untertitel
Bedeutung und Möglichkeiten der systematische Wortschatzerweiterung und Wortschatzvertiefung in der Sekundarstufe I
Hochschule
Universität Regensburg  (Institut für Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
62
Katalognummer
V304597
ISBN (eBook)
9783668028166
ISBN (Buch)
9783668028173
Dateigröße
1315 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsch, Didaktik, Wortschatzarbeit, Sekundarstufe, mentales Lexikon, Wortschatzerweiterung, Sprachwissenschaft, Spracherwerb, Deutschunterricht
Arbeit zitieren
Elisabeth Püschel (Autor:in), 2013, Die Vernetzung von Wörtern im mentalen Lexikon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304597

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