Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Migrationsgesellschaft
2.1 Zum Begriff „Migrationsgesellschaft“
2.2 Die Strukturen und Geschlechterdifferenzen in Migrationsfamilien
3. Die Forschung von Wissen und Werten in Migrationsfamilien
3.1 Zu den Begriffen „Wissen“ und „Werte“
3.2 Die Forschung von Wissen und Werten
3.3 Die Herausforderungen für pädagogische Organisationen
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die internationalen Migrationsbewegungen provozieren eine Transformation globaler Gesellschaften zu Migrationsgesellschaften. Dieser Prozess hat nicht nur einen Einfluss auf diejenigen, die in der Zielregion leben, sondern betrifft auch die Migrierenden selbst. Somit verlangt und ermöglicht ein Leben in einer Migrationsgesellschaft, andere Lebensweisen und Stile kennenzulernen, sich immer wieder in neuen Kontexten zu orientieren und über selbst gesetzte Grenzen hinauszudenken (vgl. Hasenjürgen 2013, Abschnitt 1).
„Solange Menschen Gesellschaften bilden, organisieren sie dabei auch Wissen“ (Lohoff 2007, 3. Abschnitt). Das Zusammenleben kultureller Vielfalten bedingt eine bestimmte Organisation von Wissen.
In der Seminararbeit wird nach diesem Leitzitat untersucht, wie eine Organisation von Wissen und bestimmter Werte in dem für die Migrationsgesellschaft repräsentativen Forschungsfeld der ‚Migrantenfamilie‘ erfolgt.
Anhand der Darstellung von Strukturen und Geschlechterdifferenzen in Migrationsfamilien, soll ein Rahmen geschaffen werden, der eine anschließende Analyse von intergenerationellen Weitergabeprozessen von Wissen und Werten ermöglicht.
Es folgt eine Integration der dokumentarischen Methode von Karl Mannheim, um einen Ansatz zur Versprachlichung von implizitem Wissen einzubringen. Auf diese Weise soll eine Optimierungsmöglichkeit des intergenerationellen Transmissionsprozesses von Wissen vorgestellt werden.
Im Anschluss wird mithilfe eines Orientierungsmusters von Ralf Bohnsack geprüft, welchen Normen und Habitus einer Orientierung der nachfolgenden Generation zugrunde liegen.
Anlehnend an das Kapitel der Forschung von Wissen und Werten, werden in einem nächsten Schritt die Herausforderungen einer Migrationsgesellschaft für pädagogische Organisationen abgeleitet und erläutert. In der Schlussbetrachtung werden hinsichtlich der Forderungen einer Assimilationspädagogik, potentielle politische Handlungsmöglichkeiten vorgestellt.
2. Die Migrationsgesellschaft
2.1 Zum Begriff „Migrationsgesellschaft“
Für eine exakte Erläuterung des Ausdrucks „Migrationsgesellschaft“ hilft es, eingangs separate Definitionen der Begriffe „Migration“ und „Gesellschaft“ vorzunehmen. Anschließend werden sie zusammengeführt.
Eine Migration ist eine Wanderbewegung von Menschen aufgrund von fehlenden Bildungschancen, hoher Arbeitslosigkeit, politischen und sozialen Konflikten, religiöser Verfolgungen, schlechter Regierungsführung oder der vergeblichen Arbeitsplatzsuche angesichts eines hohen Bevölkerungswachstums. Im Zeitalter der Globalisierung hat sie sich zu einem weltweiten Phänomen entwickelt (vgl. BMZ 2015, Abschnitt 1 u. 2).
Eine Gesellschaft ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Formen zusammenlebender Gemeinschaften von Menschen. Das Verhältnis der Gemeinschaften untereinander ist bestimmt durch Normen, Konventionen und Gesetze, die eine festliegende Gesellschaftsstruktur ergeben (vgl. Schubert/ Klein 2011, Abschnitt 1).
Somit kann die „Migrationsgesellschaft“ als ein Zusammenleben migrierter Menschen und Kulturen innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsstruktur definiert werden. Dieses Gesellschaftsprofil ist geprägt durch Übertragungen und Modifikationen von Lebensweisen, Biographien und Sprachen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Wahrnehmung und Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus und Erschaffung neuer Formen von Ethnizität (vgl. Broden/ Mecheril 2007, S. 7).
Dieses Zusammenleben und gegenseitige Beeinflussen kultureller Vielfalten innerhalb einer Migrationsgesellschaft bedarf ein solidarisches Handeln aller Akteure. Ziel des solidarischen Handelns ist eine gesellschaftliche Veränderung, die im Widerspruch zu Praxen steht und nicht auf das Maß ökonomischer Nützlichkeit reduziert ist (vgl. Broden/ Mecheril 2014, S. 15).
Für diesen Prozess benötigt es einer konkreten Darstellung eines Praxisbeispiels, um gegenwärtige Defizite in der Migrationsgesellschaft aufzeigen zu können.
Im weiteren Verlauf der Seminararbeit wird die „Migrationsfamilie“ als praktisches Beispiel analysiert. Sie soll im Hinblick auf die Migrationsgesellschaft eine repräsentative Funktion einnehmen. Anhand dieses Forschungsfelds wird schemenhaft aufgezeigt, in welchen strukturellen Gefügen und differenten Rollenverständnissen, junge Migranten aufwachsen.
2.2 Die Strukturen und Geschlechterdifferenzen in Migrationsfamilien
Familien mit Migrationshintergrund sind vielfältig in ihren Lebensbedingungen und in ihren Orientierungen. Familien mit Migrationshintergrund unterscheiden sich nach dem Einwanderungsgrund, der nationalen oder ethnischen Herkunft, der Religion, dem Bildungsstand und der beruflichen Qualifikation.
Dennoch lassen sich spezifische Faktoren der Migrationsfamilie im Vergleich zu einheimischen Familien bestimmen (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 5).
Für Familien mit Migrationshintergrund ist kennzeichnend, dass es im Vergleich zu einheimischen Familien weniger Trennungen und Scheidungen gibt. Altersmäßig frühere Eheschließungen und eine hohe Kinderzahl sind ebenfalls charakteristische Faktoren (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 5).
Hinzu kommt, dass Mütter mit Migrationshintergrund bei der Geburt des ersten Kindes tendenziell jünger sind, als einheimische Mütter. Bei den Vätern mit Migrationshintergrund lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Sie leben insgesamt häufiger in jüngerem Alter in einer Familie mit Kindern als einheimische Väter (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 16).
Ein weiterer Aspekt ist, dass Eheschließungen in der Migrationsgesellschaft hauptsächlich im monoethnischen Kontext stattfinden. Männer mit Migrationshintergrund heiraten diesbezüglich aber deutlich mehr exogam als Frauen. So sind auch bi-ethnische Ehen zwischen Migrationsangehörigen mit einem einheimischen deutschen Partner oder Partnerin deutlich häufiger bei Männern als bei Frauen zu beobachten (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 17).
Bi-ethnische Ehen birgen das Risiko entgegen traditioneller Familienvorstellungen zu handeln. Wie die dargestellte Beobachtung zeigt, ist eine Unsicherheit aufgrund einer Ablehnung bestehender familiärer Werte und Vorstellungen, bei Männern und Frauen unterschiedlich hoch ausgeprägt. Dieses Phänomen hat seine Ursachen nicht nur in der Höhe des Bildungsniveaus oder der unterschiedlichen Sozialisation, sondern ist auch eine Frage der Bereitschaft zur Annahme bestimmter Werthaltungen und der Einnahme traditioneller Geschlechterrollen (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 17).
Konventionelle, genderspezifische Rollenverständnisse sind Leitbilder für viele türkischstämmige Migrantenehen:
Der Haushalt ist zur Gänze meine Arbeit, beim Einkauf kann ich sagen hilft mir mein Mann ... Der Großteil liegt auf meinem Rücken und da ich noch dazu halbtags arbeite, ist der ganze Haushalt und alles Drumherum mir überlassen (Pekays Mutter, 44) (Edthofer/ Obermann 2007, S. 463).
Die Frau nimmt in der Familie eine Schlüsselposition ein: Sie übernimmt die Verantwortung für die Versorgung der Kinder und ist zudem meist selbst berufstätig. Mutterschaft und die Annahme der Familienrolle stehen demnach nicht im Gegensatz zur Berufstätigkeit der Frau. Die Entweder-oder-Problematik von Beruf und Familie ist oft unbekannt und irrelevant (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 20). Weiterhin ist die Frau für viele organisatorische Aufgaben und für das Treffen von Entscheidungen zuständig. Diese Entscheidungsgewalt ist zum einen ein Gewinn für das Selbstbewusstsein der Frau, zum anderen stellt sie durch diese Verantwortung eine große Belastung dar (vgl. Edthofer/ Obermann 2007, S.463-464).
Der Mann nimmt im Familienverband eine marginale Rolle ein. Die Hauptaufgabe besteht in der Ernährung der Familie, in Erziehungsfragen sind sie wenig eingebunden (vgl. Edthofer/ Obermann 2007, S. 466).
Hinsichtlich dieser traditionellen Rollenverständnisse lässt sich eine Entwicklung festmachen. Viele Migranten vertreten heutzutage egalitäre Geschlechterkonzepte. In diesen Konzepten wird eine Bereitschaft der Männer geäußert, ebenfalls erzieherische Aufgaben übernehmen zu können und generell mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Zudem wollen sie bei der Haus- und Familienarbeit mithelfen. Dieser Wunsch kann aber oft aufgrund einer hohen Arbeitsbelastung der Männer im Beruf nicht realisiert werden (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 21-22).
Für den Prozess des Aufwachsens und der Entwicklung einer Persönlichkeit sind für Kinder aus Migrantenfamilien die Werte ihrer Eltern von zentraler Bedeutung. Die Elterngenerationen vertreten häufig traditionelle Werte wie Familialismus, Religiosität, Respekt und eine konventionelle Sexualmoral (vgl. Boos-Hünning 2011, S. 5).
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