Leseprobe
Gliederung:
1 Einleitung
2 Definition von Verhaltensökonomik
3 Definition von Homo Oeconomicus
3.1 Völlige Markttransparenz
3.2 Wirtschaftliche Rationalität
3.3 Unmittelbares Erreichen zeitstabiler Ziele
4 Verhaltensökonomische Kritik am Homo oeconomicus
4.1 Völlige Markttransparenz
4.2 Wirtschaftliche Rationalität
4.2.1 Heuristiken
4.2.2 Framing-Effekt
4.2.3 Fairness und Reziprozität
4.3 Unmittelbares Erreichen zeitstabiler Ziele
5 Abschließende Bewertung
6 Literaturverzeichnis
7 Anhang
7.1 Anhang I
7.2 Anhang II
1 Einleitung
Zeitungsartikel zum Thema dieser Arbeit tragen Titel wie „Der Homo oeconomicus lebt“1, „Der Homo oeconomicus ist tot“2 oder „Totgesagte leben länger“3. Solche Überschriften lassen darauf schließen, dass es unterschiedliche und sich gegenseitig ausschließende Positionen zu diesem Thema gibt, die anscheinend sehr vehement vertreten werden.
In Bezug darauf beschäftigt sich das Folgende mit der Position der Verhaltensökonomik zum Homo oeconomicus. Dazu wird zunächst eine Definition von Verhaltensökonomik vorgenommen und der „Homo oeconomicus“ im Rahmen der traditionellen Ökonomik vor- gestellt. Darauf baut anschließend die Kritik am homo oeconomi- cus aus verhaltensökonomischer Sicht auf, hauptsächlich in Bezug auf einzelne Aspekte der vorgenommenen Definition des Homo oeconomicus. In diesem Rahmen werden zahlreiche Experimente genannt, um die Kritik zu veranschaulichen. Da der Umfang aller Versuche in Bezug auf die einzelnen Kritikpunkte den Rahmen der Arbeit sprengen würde, ist hier jeweils lediglich ein Beispiel ge- nannt.
In der abschließenden Bewertung werden allgemeine Konsequenzen aus der Zusammenschau von klassischer Ökonomik und Verhaltensökonomik gezogen und schließlich eingeschätzt, welcher der eingangs genannten Titel aus Sicht der Verhaltensökonomik am ehesten vertreten werden könnte.
2 Definition von Verhaltensökonomik
Auf der Suche nach einer Definition für Verhaltensökonomik ist in Fachlexika oder wirtschaftswissenschaftlichen Büchern weder der Begriff selbst, noch „verhaltenswissenschaftliche“ oder „verhaltens- theoretische“ Ökonomik4 oder das englische Synonym „behavioral economics“5 beispielsweise im Duden6, im Brockhaus7, in Wolls Wirtschaftslexikon8 oder in der „Geschichte des ökonomischen Denkens“ von Söllner9 als einzelnes Stichwort aufgeführt. Um trotzdem zu einem Verständnis von Verhaltensökonomik bzw. be- havioral economics zu kommen, wird hier davon ausgegangen, dass die Öffnung der Wirtschaftswissenschaften zu den Disziplinen Psychologie, Soziologie oder Neurobiologie sowie generell die In- fragestellung des Homo oeconomicus der Verhaltensökonomik zugeordnet wird.10 Dieser Ansatz ist bewusst sehr breit gewählt, um zu verhindern, dass hier sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nur deshalb nicht angeführt werden können, weil der betreffende Forscher die Verhaltensökonomik nicht so wahrnimmt wie sie hier gesehen wird.
Nach diesem Verständnis könnten der Verhaltensökonomik in der Systematik Kirchgässners11 sowohl die ökonomische als auch die nicht-ökonomische (v. a. psychologische und soziologische) Analyse von wirtschaftlichen Beziehungen zugeordnet werden, um dadurch Erkenntnisse sowohl für die Volkswirtschafts- als auch für die Betriebswirtschaftslehre zu generieren.12
3 Definition von Homo Oeconomicus
Jeder Wissenschaftler, dessen Forschungen menschliches Verhal- ten tangieren, baut seine Forschungsergebnisse (mehr oder weni- ger bewusst) auf einem Menschenbild auf. Letzteres ist in dieser Arbeit ein Modell über das Verständnis von handelnden Subjekten.
Dieses dient somit als fiktive Veranschaulichung dazu, Erkenntnis- se zu gewinnen, wie Menschen z. B. in einer Ökonomie handeln.13
In Bezug darauf ist14 der Homo oeconomicus das traditionelle Menschenbild der Wirtschaftswissenschaft. Dieser kann mit „wirt- schaftender Mensch“ übersetzt werden.15 Historisch gesehen wur- de das Modell im 19. Jahrhundert begründet, als die klassische Wirtschaftswissenschaft unter dem Einfluss der Folgen der Aufklä- rung entstand. Damals versuchten Wissenschaftler wie John Stuart Mill (1806-1973), Leon Walras (1834-1910) und Adam Smith (1723-1790) mathematische Gesetzmäßigkeiten von der mechani- schen Physik auf die Ökonomie zu übertragen und die Wirt- schaftswissenschaft als eine Naturwissenschaft zu etablieren.16
Da eine Vielzahl von Autoren den Homo oeconomicus geprägt hat, existiert keine einheitliche Definition. Die am häufigsten genannten Merkmale lassen sich jedoch folgenden drei Kategorien zuordnen.
3.1 Völlige Markttransparenz
Das grundlegende Merkmal des Homo oeconomicus ist, dass für ihn alle wirtschaftlichen Bereiche völlig transparent sind. Demge- mäß verfügt er über alle entscheidungsrelevanten Informationen bezüglich des Marktes und der angebotenen Güter. So ist er in der Lage, sich alle Informationen zu beschaffen und diese vollständig und korrekt zu verarbeiten, um eine Entscheidung treffen zu kön- nen.17 Weiterhin kann er genau abschätzen, was seine Handlun- gen bewirken werden.18 Auf dieser Eigenschaft bauen die folgen- den beiden Merkmalsgruppen auf.
3.2 Wirtschaftliche Rationalität
Das zweite, am häufigsten genannte Kennzeichen des homo oeconomicus ist die Annahme, dass er vollkommen rational denkt und handelt. Das bedeutet, dass ein Mensch immer genau diejeni- ge Alternative wählt, die ihm den größten Nutzen bringt, um seine unendliche Anzahl an Bedürfnisse am besten zu befriedigen. Dazu wägt er Kosten und Erträge rational miteinander ab und entschei- det sich dann für die Option, die ihm den größtmöglichen ökonomi- schen Erfolg verspricht.19 Somit handelt der Homo oeconomicus nach dem ökonomischen Prinzip (Minimal- und Maximalprinzip).20
Bei der oben genannten Abwägung geht der Homo oeconomicus rein egoistisch vor.21 In der Literatur werden hierzu Synonyme wie eigeninteressiert22 bzw. eigenständig23 verwendet. Diese Eigenschaft ist nicht wertend negativ gemeint, da sich Homo oeconomici einander neutral und emotionslos begegnen.24
3.3 Unmittelbares Erreichen zeitstabiler Ziele
Die dritte Merkmalsgruppe des Homo oeconomicus umfasst alle Aspekte, die aussagen, dass er seine Ziele unmittelbar und ohne Zögern verfolgt. Ändern sich die äußeren Umstände auf dem Markt, so erfolgt die Reaktion sofort und mit uneingeschränkter Willenskraft.25 Erhöht sich beispielsweise der relative Preis eines Gutes, so reduziert er unmittelbar seine Nachfrage nach diesem. Außerdem sind seine Ziele durch Zeitkonsistenz gekennzeichnet, welche sich aus feststehenden Präferenzen ergeben, und sich we- der widersprechen noch im Laufe der Zeit verändern.26
4 Verhaltensökonomische Kritik am Homo oeconomicus
Da psychologische und soziologische Konzepte davon ausgehen, dass Menschen emotional und intuitiv sein können, kritisiert die Verhaltensökonomik am Homo oeconomicus, dass er keine sol- chen Eigenschaften berücksichtigt. Damit sucht sie Ursachen für real auftretende Abweichungen dem Modell innerhalb des Menschenbildes und nicht in äußeren Rahmenbedingungen. Dabei werden Menschen nicht nur (wie üblicherweise in der Wirtschaftswissenschaft) in ihrer konsumierenden, sondern auch in ihrer produzierenden Funktion betrachtet.27
4.1 Völlige Markttransparenz
Bezüglich der Kritik an der Annahme der Markttransparenz führen Verhaltensökonomen wie Simon und V. Smith an, dass Menschen nur kleine Ausschnitte aus der Wirklichkeit erkennen können.28 Anschließend kann dieser geringe Teil der Realität lediglich mit dem zur Verfügung stehenden Denkvermögen bewältigt werden, so dass nur wenige Bedürfnisse und Informationen überhaupt in den Prozess der kognitiven Verarbeitung gelangen. In diesem Zu- sammenhang sprechen Verhaltensökonomen von Urteilsverzer- rungen (Biases), welche wiederum zahlreiche Phänomene bedin- gen.29
Ein Ergebnis im Rahmen der Erforschung von Biases ist, dass Probanden vor allem die Informationen nutzen, die leicht verfügbar sind, weil sie z. B. als repräsentativ erachtet werden oder gut bild- lich vorstellbar sind. Bezüglich letzterem führten Kahneman und Tversky folgendes Experiment durch: Probanden sollten beantwor- ten, ob der Buchstabe „k“ häufiger an erster oder an dritter Stelle eines Wortes stehe. Obwohl es in der getesteten Sprache dreimal mehr Wörter gibt, bei denen der Buchstabe „k“ an dritter Stelle steht, waren trotzdem zwei Drittel der Testpersonen der Meinung, dass „k“ am Wortanfang häufiger vorkommt. Die Ursache für die- ses Ergebnis wurde darin gesehen, dass es einem Mensch leichter fällt, sich Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „k“ vorzustellen. Je- de andere Position des Buchstaben, erfordert einen größeren Denkaufwand.30
Ein zweites Resultat im Rahmen der Erforschung von Biases ist, dass Menschen dazu neigen, zu überschätzen, welches Ausmaß an Kontrolle sie auf den Ausgang einer Sache haben. Letzteres wurde in Experimenten nachgewiesen, in denen Quizfragen wie z. B. nach der Anzahl der Bundesländer oder der Höhe von Bergen, statt mit einer exakten Lösung mit einem Intervall beantwortet wer- den sollten, bei dem sich die Befragten zu 90% sicher waren, dass es die richtige Antwort enthält. Hierbei gaben die Testpersonen Antwortintervalle an, die in deutlicher weniger als 90% der Fälle auch die richtige Antwort umfassten. Verhaltensökonomen zogen daraus den Schluss, dass Menschen überzogen selbstsicher sind. Diese „erkenntnistheoretische Arroganz“31 ist umso ausgeprägter, je mehr Informationen den Testpersonen zur Verfügung stehen und je größer die individuelle Selbstüberschätzung ist. Auf Basis dieses Effektes ist es auch zu erklären, dass Abwägungen nach klassischen betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen als verlässlich gelten, obwohl über mögliche Erträge oder Entwicklungen des Ak- tienmarktes lediglich Prognosen herangezogen werden können.31
Letzteres kann jedoch auch ein Beispiel für den sog. Herdeneffekt sein. Orientieren sich Unternehmensprognosen mangels verlässli- cher Daten an gängigen Annahmen über die Ökonomie, so wird dies von Verhaltensökonomen darauf zurückgeführt, dass sich Menschen durch Worte und Taten anderer beeinflussen lassen und dazu tendieren, dem Mainstream zu folgen. Das heißt, dass eine Handlung vor allem dann erfolgt, wenn andere dies auch tun.32
Im Zusammenhang mit der Beeinflussung durch andere sei er- wähnt, dass sich Machtkonstellationen z. B. innerhalb eines Unter- nehmens ebenfalls auf die dortigen Entscheidungen auswirken und somit der Annahme einer rationalen Abwägung von Fakten entge- genstehen. Auch persönliche Abneigungen gegen Personen oder Situationen, eigene berufliche Ziele oder „irrationale Hoffnungen und Ängste“31 können Entscheidungen lenken.
Als viertes Phänomen im Rahmen der Biases ist die Tendenz von Probanden einzustufen, stark auf Informationen zu achten, die ihre bisherige Meinung bestätigen. So zeigte sich, dass dieselben em- pirischen Befunde (z. B. Erhebungen über die Anwendung der To- desstrafe) jeweils als Bestätigung für unterschiedliche Auffassun- gen (pro und contra Todesstrafe) interpretiert wurden. In diesem Zusammenhang neigen Menschen auch dazu, nach Belegen zu suchen, um eine bereits subjektiv festgelegte Ansicht weiter zu bekräftigen.33 Beispielsweise wurde die Inflationsrate nach der Ein- führung des Euros als höher empfunden als die durch die amtliche Statistik gemessene. In der Folge entstand das Schlagwort „Teu- ro“.34
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle in Punkt
4.1 genannten Aspekte (nachhaltigere Verarbeitung von gut vorstellbaren Informationen, Selbstüberschätzung, Herdeneffekt und Wahrnehmung vor allem von Informationen, die die bisherige eigene Meinung bestätigen) der Annahme entgegenstehen, dass Menschen ein absolut transparentes Bild vom Markt haben.
4.2 Wirtschaftliche Rationalität
4.2.1 Heuristiken
Auch bezüglich des Prinzips der Rationalität gehen Verhal- tensökonomen von mehreren systematischen Abweichungen aus. Eine offensichtliche Kritik ist die Annahme, dass Menschen nach (Urteils-)Heuristiken, d. h. nach einfachen Daumen- oder Faustre- geln entscheiden. Letztere sind eine Folge der bereits dargestell- ten Einschränkung, dass sich Menschen in ihrer Einschätzung des Marktes verzerrte Urteile bilden (Biases).
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1 Pennekamp, 2012 (Anhang I).
2 Häring, in: Financial times Deutschland, 14.03.01 (Anhang II).
3 Grotefeld, 2011, in: zfwu, S. 478-483, S. 478.
4 Mankiw/Taylor, 2012, S. 585ff; Ebering, 2005, S. 2.
5 Ruckriegel, in: WISU 6/11, S. 832-842, S. 832.
6 Pollert (Hrsg. des Duden), 2013.
7 Lexikonred. des Verlages Brockhaus (Hrsg.), 2004.
8 Woll, 2008.
9 Söllner, 2001.
10 Falk, in: Wirtschaftsdienst 05/2001, S. 300-304, S. 300; Ebering, 2005, S. 2ff.
11 Kirchgässner, 2008, S. 2f.
12 Reisach, in: Der Betriebswirt, 2009, S. 18-23, S. 18.
13 Lexikonred. des Verlages Brockhaus (Hrsg.), 2004, S. 279f, S. 279; Woll, 2008, S. 344.
14 Zur besseren Lesbarkeit wird bei indirekten Zitaten auf den Konjunktiv verzichtet
15 Lexikonred. des Verlages Brockhaus (Hrsg.), 2004, S. 279f, S. 279.
16 Ruckriegel, 2011, S. 832-842, S. 832.
17 Bofinger/Schmidt, in: Wist, 2003, S. 107-111, S. 108; Rost, in: zfsÖ, 2008, S. 50-58, S. 50; Pollert (Hrsg. des Duden), 2013, S. 23.
18 Aßländer, in: Nutziger, 2006, S. 128-147, S. 133.
19 Bofinger/Schmidt, in: Wist, 2003, S. 107-111, S. 108.
20 Aßländer, in: Nutziger, 2006, S. 128-147, S. 131.
21 Ebering, 2005, S. 6.
22 Rost, in: zfsÖ, 2008, S. 50-58, S. 50.
23 Kirchgässner, 2008, S. 16.
24 ebd., S. 46.
25 Frey/Benz, in: Rosenstiel/Frey, 2007, S. 1-26, S. 1.
26 Rost, a. a. O., S. 50; Bofinger, 2003, S. 97; Ebering, a. a. O., S. 5.
27 Mankiw/Taylor, 2012, S. 586; Bader, 1994, S. 24.
28 Reisach, in: Der Betriebswirt, 2009, S. 18-23, S. 18; Smith, in: Fehr/Schwarz (Hrsg.), 2002, S. 68.
29 Ruckriegel, in: WISU, 2007, S. 198-201, S. 200.
30 Ebering, 2005, S. 22ff; Bofinger/Schmidt, in: Wist, 2003, S. 107-111, S. 108.
31 Reisach, in: Der Betriebswirt, 2009, S. 18-23, S. 18.
32 Mankiw/Taylor, 2012, S. 587; Reisach, a. a. O., S. 18.
33 Mankiw/Taylor, 2012, S. 587.
34 Ruckriegel, in: WISU, 2007, S. 198-201, S. 200.