Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Diskussion des Begriffs der Rechenstörung
2.1 Formale Diskussion des Begriffs der Rechenstörung (Rechenschwierigkeit)
2.1.1 Diskrepanzdefinition der Weltgesundheitsorganisation
2.1.2 Kritik an der Diskrepanzdefintion der WHO
2.1.3 Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte und Stellungnahme
2.2 Illustration des Begriffs der Rechenstörung anhand dreier Fallbeispiele
2.2.1 Fallbeispiel
2.2.2 Fallbeispiel
2.2.3 Fallbeispiel
2.2.4 Abschließende Bemerkung zu den Fallbeispielen
3 Medien und Bildung
3.1 Medien und Medienangebot
3.2 Kindliches Fernsehverständnis
3.2.1 Fernsehbezogene Fähigkeit: Vorschulalter
3.2.2 Fernsehbezogene Fähigkeit: Grundschulalter
3.2.3 Fernsehbezogene Fähigkeit: ab dem 11. Lebensjahr
3.2.4 Zusammenfassung zur fernsehbezogenen Fähigkeit
3.3 Populäre Meinung zum Medienkonsum
3.3.1 Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm!
3.3.2 Steven Johnson: Neue Intelligenz
3.3.3 Bemerkungen
3.4 Konkrete empirisch-wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Fernsehkonsum (Medienkonsum) und Schulleistung
3.4.1 Studie: Sesamstraßen-Experiment
3.4.2 KFN-Studie
3.5 Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest
3.5.1 Ergebnisse KIM-Studie
3.5.2 Ergebnisse der miniKIM-Studie
3.5.3 Ergebnisse der JIM-Studie
3.5.4 Ergebnisse FIM-Studie
3.6 Forschungserkenntnisse und Überlegung
4 Empirische Untersuchung
4.1 Datenerhebung
4.1.1 Die Schule
4.1.2 Die Studienteilnehmer
4.1.3 Testung
4.2 Datenaufbereitung
4.3 Explorative Datenanalyse
4.3.1 Divisive hierarchische Clusteranalyse
4.3.2 Tabellarische Analyse
4.4 Datenauswertung
4.5 Dateninterpretation
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Mögliche Ursachen einer Dyskalkulie
Abbildung 2: Ursachenfelder bei Rechenstörungen
Abbildung 3: Unterschiede zwischen Wenigsehern und Vielsehern nach Myrtek
Abbildung 4: Mathematische Fähigkeiten nach Alter und Dauer der Exposition – Welle
Abbildung 5: Mathematische Fähigkeiten nach Alter und Dauer der Exposition – Welle
Abbildung 6: Soziodemografie der befragten Kinder
Abbildung 7: Medienausstattung im Haushalt
Abbildung 8: Freizeitaktivität
Abbildung 9: Freizeitaktivität 2014 nach Nutzung
Abbildung 10: Geschätzte tägliche Nutzungsdauer verschiedener Medien durch Kinder
Abbildung 11: Sozialdemografie miniKIM
Abbildung 12: JIM 2014: Soziodemografie
Abbildung 13: Geräte-Ausstattung im Haushalt
Abbildung 14: Medienbeschäftigung in der Freizeit
Abbildung 15: Lieblingssendungen im Fernsehen
Abbildung 16: Kommunikation zum Thema „Fernsehen bzw. was man darin gesehen hat“
Abbildung 17: Medienbiographie
Abbildung 18: Fragebogen – täglicher Fernsehkonsum
Abbildung 19: Bewertungsskala (eigene Darstellung)
Abbildung 20: Leistungsbewertung des Lehrers in drei Kategorien
Abbildung 21: Besitz eines eigenen Fernsehgerätes
Abbildung 22: Fernsehkonsum in Minuten (Dauer)
Abbildung 23: Fernsehkonsum in Minuten (Dauer) – Mädchen
Abbildung 24: Fernsehkonsum in Minuten (Dauer) – Jungen
Abbildung 25: Einteilung der Probanden in Rezeptionsgruppen
Abbildung 26: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in reine Unterhaltungssendung (RU)/Unterhaltungssendung + Wissen (U+W) – allgemein
Abbildung 27: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in reine Unterhaltungssendung (RU)/Unterhaltungssendung + Wissen (U+W) – Mädchen
Abbildung 28: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in reine Unterhaltungssendung (RU)/Unterhaltungssendung + Wissen (U+W) – Jungen
Abbildung 29: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in überwiegend aktive (ü. a.) und überwiegend passive (ü. p.) Aktivitäten – allgemein
Abbildung 30: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in überwiegend aktive (ü. a.) und überwiegend passive (ü. p.) Aktivitäten – Mädchen
Abbildung 31: Art des Fernsehkonsums, unterteilt in überwiegend aktive (ü. a.) und überwiegend passive (ü. p.) Aktivitäten – Jungen
Abbildung 32: Baumdiagramm aller Schülerinnen und Schüler
Abbildung 33: Baumdiagramm Mädchen
Abbildung 34: Baumdiagramm aller Jungen
Abbildung 35: Verteilung des Konsumsverhaltens und Leistungsbewertung
Abbildung 36: Lehrerbewertung in Bezug auf die Dauer, den Besitz eines Gerätes und die Art des Konsums
Abbildung 37: Lehrerbewertung in Bezug auf die Dauer, den Besitz eines Gerätes, die Freizeitgestaltung und die Art des Konsums
Tabelle 1: Übersicht von Entwicklungsstufen und Fernsehkompetenz
Tabelle 2: Darstellung der möglichen Pfade
Tabelle 3: Zugehörige Tabelle aller Schülerinnen und Schüler
Tabelle 4: Zugehörige Tabelle aller Mädchen
Tabelle 5: Zugehörige Tabelle aller Jungen
Tabelle 6: Unterscheidung der Pfade nach dem Grad an Aktivität
Tabelle 7: Unterscheidung der Pfade nach dem Grad an Aktivität – Jungen
Tabelle 8: Einteilung der Pfade nach Gruppenkonsistenz
Tabelle 9: Datenerhebung aus Fragebögen und Lehrerbewertung
1 Einleitung
„Die Glotze im Kinderzimmer sorgt für schlechte Noten“ (Schwäbische Zeitung, 2008), „ Fernsehen mindert den Schulerfolg“ (Die Welt, 2006) und „Zu viel Fernsehen schadet Kindern“ (Focus Online, 2010).
Plakative Schlagzeilen wie diese in Print- und Onlinemedien sorgen unter anderem für einen zweifelhaften Ruf elektronischer Medien wie des Fernsehens. Die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsuntersuchungen „Trends in International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) und „Programme for International Student Assessment“ (PISA) haben zudem Mängel im deutschen Schulsystem aufgezeigt, die so nicht erwartet worden sind: Einige Experten im Bildungssektor (bspw. Manfred Spitzer) schreiben diese Ergebnisse dem Fernsehkonsum der Schülerinnen und Schüler zu. Andere Autoren betrachtet die neuen Medien unter kulturellem Aspekt (vgl. Johnson, 2006, S. 75).
Das Medium Fernsehen ist heutzutage bei Kindern und Erwachsenen ein fester Bestandteil des täglichen Lebens und findet sich in allen Altersklassen, Bildungsschichten und sozialen Milieus wieder. Unterschiede ergeben sich bei der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der Dauer des Medienkonsums. Anhand der geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen lässt sich auch eine Entwicklung der Funktion des Fernsehens von konventioneller Informationsübermittlung hin zu einer gezielten Vermischung von Information, Unterhaltung und Fiktion nachvollziehen.
„58,2 % der Jungen und 55,5 % der Mädchen sehen mehr fern als empfohlen (also täglich mehr als zwei Stunden)“ (HBSC, 2011, S. 2). Durch diese Befunde ergibt sich, dass das Fernsehen einen entscheidenden Teil des Alltags der Schülerinnen und Schüler bestimmt. Kritiker unterstellen dem Fernsehen einen negativen Einfluss auf den schulischen Erfolg. Der deutsche Psychologe Manfred Spitzer geht mit dieser Hypothese noch weiter und unterstellt dem Fernsehen, die Jugendlichen dick, kriminell, einsam und früher sterblich zu machen (vgl. Spitzer, 2006, S. 9). Um zu untersuchen, in welcher Beziehung diese Hypothesen mit dem schulischen Erfolg stehen, beschäftigt sich diese Arbeit mit einer Analyse des „Zusammenhangs zwischen Fernsehkonsum und Mathematikleistung bei Zehntklässlern einer Realschule“. Als Grundlage dieser Diskussion dient eine an der 10. Klasse einer Realschule durchgeführte Studie.
Diese Arbeit setzt sich zunächst mit dem Gebiet der Rechenstörungen auseinander, da Rechnen neben Lesen und Schreiben zu den allgemeinen Kulturtechniken gehört. Es wird ein kurzer Einblick in dieses Themengebiet gegeben und anhand der Diskrepanzdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) reflektiert. Anhand dreier Fallbeispiele sollen Erkrankungsbilder und Ursachenfelder exemplarisch betrachtet werden. Der zweite Teil dieser Arbeit stellt den eigentlichen Kern dar: das Thema „Medien und Bildung“. Zunächst wird der Medienbegriff kurz eingeordnet, um exemplarisch die extremen Positionen Manfred Spitzers und Steven Johnsons darzustellen und zu diskutieren. Durch die Vorstellung empirischer Untersuchungen wie der „Kinder und Medien“ (KIM)-Studie, Sesamstraßen-Studie, der Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest und weiteren soll der aktuelle Forschungsstand im Bereich Medienkonsum aufgezeigt und herausgearbeitet werden, dass Fernsehen Kinder und Jugendliche signifikant beeinflusst. Studien im Bereich Mediennutzung und Fernsehkonsum beschäftigen sich überwiegend mit den Einflüssen auf sprachliche und verbale Faktoren wie Lese- und Rechtschreibfähigkeit. Die numerischen bzw. mathematischen Auswirkungen werden dabei weitgehend vernachlässigt. Deshalb beschäftigt sich diese Arbeit mit der Kernfrage der möglichen Independenz einer gesteigerten medialen Freizeitgestaltung und den mathematischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Anhand eines konstruierten Fragebogens sollen das Fernsehverhalten sowie das sonstige Freizeitverhalten eruiert und exemplarisch auf die gewonnenen Erkenntnisse im medienpädagogischen Bereich rückbezogen werden. Vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, kausale Beziehungen zu untersuchen und für diese Frage aussagekräftige Antworten zu liefern, sondern stellt mögliche Beziehungen her und klärt offene Fragen im medienpädagogischen Bereich.
2 Diskussion des Begriffs der Rechenstörung
2.1 Formale Diskussion des Begriffs der Rechenstörung (Rechenschwierigkeit)
Der Begriff „Rechenschwäche“ wird häufig als Synonym für die Begriffe „Rechenstörung“ und „Dyskalkulie“ (griechisch: dys = schlecht; lateinisch: calculus = Rechnung) eingesetzt und meint eine mangelnde Rechenfertigkeit. Das Thema „Rechenschwäche“ und die Forschungsergebnisse sind relativ jung, jedoch ist die Dyskalkulie (Rechenschwäche) eine international diagnostisch anerkannte Entwicklungsstörung und gewinnt zunehmend an Bedeutung. Da es sich hierbei um eine entwicklungsbedingte Rechenstörung handelt, werden „erworbene Rechenstörungen [Akalkulie] […] definitionsgemäß ausgeschlossen“ (Jacobs & Petermann, Diagnostik von Rechenstörungen, 2005, S. 13). Eine eindeutig abgrenzende Definition ist schwierig zu finden, denn in der Literatur werden unterschiedliche Definitionen nach einzelnen Disziplinen und Schwerpunkten unterschieden. Im schulischen Kontext und in der Mathematikdidaktik sind die gängigsten Begriffe diejenigen der Rechenstörung, Rechenschwäche und der mangelnden Rechenfähigkeit; Dyskalkulie ist im medizinischen, sonderpädagogischen und psychologischen Bereich besonders ausgeprägt (vgl. Schipper, 2002, S. 11). Die Begriffe „Rechenschwäche“ und „Rechenstörung“ deuten eher auf eine Schwierigkeit im Bereich des Rechnens hin, wohingegen die Dyskalkulie und der in diesem Kontext häufig verwendete Begriff der Arithmasthenie als Vorliegen einer Krankheit bezeichnet werden. Die Prävalenz der Dyskalkulie variiert durch die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen. Durch die Interpretationsspanne der Begriffsdefinitionen lassen sich bei unterschiedlichen Autoren ca. 3 bis 7 % der Grundschüler als extrem rechenschwach klassifizieren (vgl. Born & Oehler, 2009, S. 5). In einer Untersuchung stellte Badian (1983) fest, dass das Auftreten einer Rechenstörung in etwa dem einer Lese-Rechtschreib-Störung entspräche: Von den 6,4 % der Kinder mit Rechenstörung wiesen 43 % auch eine Leseschwäche auf; übertragen auf die Leseschwäche bietet sich ein ähnliches Bild. Diese zur Indexerkrankung vorliegenden Begleiterkrankungen werden bislang nur unzureichend bei der Förderung berücksichtigt. Ergebnisse aus der ersten PISA-Studie (2000) spiegeln ähnliche Ergebnisse wider, hierbei erreichen 17 % der untersuchten Schülerinnen und Schüler gerade die Mathematikkompetenz auf Grundschulniveau, weitere 7 % konnten selbst dieses nicht erreichen (vgl. Born & Oehler, 2009, S. 6).
Dass circa 6 % Schülerinnen und Schüler von der Rechenstörung betroffen sind, stellt einen hinreichenden Grund dar, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Um eine vorliegende Rechenstörung zu diagnostizieren, müssen folgende Kriterien erfüllt sein (vgl. Jacobs & Petermann, Diagnostik von Rechenstörungen, 2005, S. 70):
- Die Fähigkeiten im Bereich der Mathematik liegen außerhalb eines Bereiches, der aufgrund von Alter, Intelligenz und Klassenstufe anzunehmen wäre. Gemessen an Schulnoten entspräche dies einer mangelhaften bis ungenügenden Leistung.
- Der Intelligenzquotient fällt nicht unter einen Bereich von 70, wobei der Bereich von 70 bis 85 bereits auf eine Lernbehinderung hinweist.
- Zwischen dem Ergebnis eines standardisierten Rechentestes und dem gemessenen Intelligenzquotienten besteht eine Differenz von mindestens 1,5 Standardabweichungen.
- Die Leistungsstörung tritt vor dem Erreichen des sechsten Schuljahres auf.
Diese Arbeit wählt den Begriff der „Rechenstörung“ gegenüber dem Terminus der Dyskalkulie, da das deutsche Übersetzungswort „schlechte Rechnung“ unbrauchbar für den wissenschaftlichen Umgang ist, sodass auf dieser Grundlage auch die betroffenen Kinder nicht gefördert werden können. Der Begriff „Rechenschwäche/-störung“ hingegen beschreibt eine schwach ausgeprägte Rechenfähigkeit und soll nicht kausal mit Erklärungsmustern oder einem ausgewiesenen Persönlichkeitsmerkmal verbunden werden, da unterschiedliche Einflussfaktoren beteiligt sind.
2.1.1 Diskrepanzdefinition der Weltgesundheitsorganisation
Seit der zehnten Revision der internationalen statistischen Klassifikationen der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Problems) zählt seit 1989 die Rechenstörung unter der Kategorie „F81: umschriebene Entwicklungs-störungen schulischer Fähigkeiten“ (Graubner, 2014, S. 216) zur den psychischen und Verhaltensstörungen. Die Entwicklungsstörungen werden generell in zwei Teilbereiche untergliedert: zum einen die tief greifende, die es Kindern und Jugendlichen nicht ermöglicht, spezifische kognitive und soziale Fähigkeiten aufzubauen. Hierunter fällt beispielsweise eine autistische Störung. Zum anderen sind die umschriebenen Entwicklungsstörungen zu nennen, die als Leistungsdefizite in spezifischen (umschränkten) Funktionsbereichen aufgefasst werden.
Die von der ICD-10 kategorisierten Entwicklungsstörungen zeigen sich generell im Kleinkindalter oder in der Kindheit. Diese Störung der Funktionen ist verknüpft mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems des Kindes. Es handelt sich um einen stetigen Verlauf ohne temporäres oder dauerhaftes Nachlassen der Störung. Somit ist die Störung des Rechnens nicht als Folge nachlässigen Übens oder Lernens oder einer allgemeinen Intelligenzminderung aufzufassen, sondern als Abweichung der normalen Muster des Fertigkeitserwerbs. Deutlich wird diese Sichtweise in der Definition der ICD-10:
„Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden“ (Jacobs & Petermann, Rechenstörung, 2007, S. 4).
Gemäß dieser Definition kann eine vorliegende Störung erst dann diagnostiziert werden, wenn die Rechenleistung deutlich unter den anzunehmenden Kompetenzen liegt, die aufgrund des Alters, der kognitiven Entwicklung und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wären. Die Teilleistungsstörung lässt sich nicht identifizieren, wenn diese auf einhergehende defizitäre Sinnes-wahrnehmungen oder neurologische oder psychiatrische Erkrankungen zurückzuführen ist (vgl. Born & Oehler, 2009, S. 4). Es muss somit eine Abweichung der Mathematikleistung und der Begabung vorliegen. Diese Abweichung in den beiden Bereichen kann mit standardisierten Tests (Mathematiktest, Intelligenztest etc.) erfasst werden. Die Tests geben Aufschluss darüber, wie die „Leistung [des Kindes, der Verfasser] im Verhältnis zu einer definierten Vergleichsgruppe“ (Gerster & Schultz, 2004, S. 4) anzusiedeln ist. Anzumerken ist, dass es nur eine mäßige Korrelation zwischen der Intelligenz und dem mathematischen Schulerfolg gibt. Des Weiteren geben diese Tests keine Auskunft über subjektive Bewältigungsstrategien, Entstehung von Fehlern oder individuelle Verständnisschwierigkeiten, womit interventive Maßnahmen im Rahmen der Ursachen nicht ermittelt werden können. Nach Ratz (Lorenz & Radatz, 2008, S. 15) ist es interessant zu erwähnen, dass „geringe Leistung im Mathematikunterricht […] nicht jene gesellschafts–politische Rolle [spielt], die die LRS innehat“, somit ergebe sich kein Druck aus der Eltern- und Lehrerschaft, der dazu veranlassen würde, geeignete Maßnahmen zu entwickeln. Aufgrund einer Vielzahl an betroffenen Schülerinnen und Schülern (siehe oben: 6 %) müsste eine finanzielle Anstrengung unternommen werden, um die Lehrerfortbildung zu verbessern, Mathematiktherapeut(inn)en einzusetzen oder Beratungslehrer(inne)n hinzuzuziehen, doch u. a. durch das Desinteresse an diesem Bereich hält die Schuladministration sich bei diesem Problem zurück. Eine andere Schwierigkeit ist die definitorische Einteilung dieser Störung. Deshalb setzt sich der nächste Unterpunkt vorliegender Arbeit mit der Diskrepanzdefinition kritisch auseinander.
2.1.2 Kritik an der Diskrepanzdefintion der WHO
An der Diskrepanzdefinition wird hauptsächlich in Studien zur Lese-Rechtschreib-Schwäche Kritik geübt; Studien, die die Rechenstörung betreffen, sind nicht weit verbreitet. Im Gegenzug gibt es auch nur wenige Untersuchungen, die es vorziehen, das Diskrepanzkriterium zu verwenden.
Wie bereits in der Definition erwähnt, werden als diagnostisches Instrument standardisierte Mathematik- und Intelligenztests verwendet, wobei die Rechenleistung unter dem Niveau liegt, das aufgrund eines allgemeinen Intelligenztests und des Alters/der Schulklassenzuweisung zu erwarten wäre. An diesem Punkt setzt der erste Kritikpunkt an: Der Aufbau eines sogenannten IQ-Tests wird auf die bekannte Intelligenztheorie der fluiden und kristallinen Intelligenz von Cattell (1963) zurückgeführt. Diese Theorie wurde im Laufe der Intelligenzforschung überarbeitet und erweitert, in der aktuellen Fassung wird nun von Primärfaktoren gesprochen: fluide Intelligenz, kristalline Intelligenz, Kurzzeitgedächtnis-Merkfähigkeit, Langzeitgedächtnis-Abruf, visuelle Verarbeitung, auditorische Verarbeitung, mentale Geschwindigkeit, Entscheidungsgeschwindigkeit und numerisches Wissen (vgl. Fritz-Stratmann, Schroeders, & Ehlert, 2012, S. 171). Anhand der Theorie wird deutlich, dass zur allgemeinen Intelligenz die mathematischen Fähigkeiten als ein eigener Teilbereich gehören (numerisches Wissen). Die Frage, die an dieser Stelle aufkommt, lautet: Inwiefern werden von solchen Tests Intelligenz- oder Rechenleistung gemessen? Im Rahmen dieser Arbeit lässt sich dies jedoch nicht klären, im Allgemeinen überschneiden sich fast alle Intelligenztests mit Messungen mathematischer Kompetenzen. Je größer diese Überschneidung wird, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, eine Diskrepanz festzustellen. Um dies zu vermeiden, wird auf nonverbale Testverfahren zurückgegriffen, „zugleich schränkt diese Herangehensweise aber auch die Breite der erhobenen kognitiven Leistungen auf figural-bildliche Fähigkeiten ein“ (Fritz-Stratmann, Schroeders, & Ehlert, 2012, S. 171). Dieses Problem lässt sich nicht lösen, da mathematische Fähigkeiten und die Intelligenz zusammenhängen.
Eine weitere Überlegung im Bereich der Diskrepanzdefinition gilt methodischen und statistischen Problemen. So wird zur Prüfung einer vorliegenden Störung ein Differenzwert gebildet, der je nach eingesetzten Messinstrumenten erheblich schwanken kann. In einer Untersuchung von Ehlert, Schroeders und Fritz-Stratmann (2012) wurde unter der Voraussetzung des Diskrepanzkriteriums geprüft, ob sich rechenschwache Kinder, die dem Kriterium entsprechen, von anderen Kindern so abgrenzen lassen, wie es die Diskrepanz impliziert. Dazu wurden mit einer Stichprobenmenge n = 458 Kinder dahingehend geprüft, inwiefern eine gemäß der Diskrepanz zu erwartende und gemessene Rechenleistung gerechtfertigt ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchung deuten darauf hin, dass rechenschwache Kinder, die der Definition der WHO entsprechen, als auch rechenschwache Kinder, die dieser Definition nicht entsprechen, über gleiche mathematische Konzepte verfügen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es ungeeignet erscheint, das Diskrepanzkriterium zur Diagnostik sowohl einer Rechenstörung als auch der jeweiligen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten zu verwenden. Die Autorengruppe präferiert im Gegenzug eine kriterienorientierte Diagnostik, die basale numerische Grundfähigkeiten in den Blickwinkel nimmt.
Gerster und Schulz sprechen von einer irrelevanten Bedeutung der ICD-10-Definition für die praktische Anwendung. „Hilfen braucht ein Kind, das in einen Rückstand gegenüber den Klassenkameraden geraten ist, in jedem Fall. Die Wahl der Hilfen muss sich an den vorhandenen mathematischen Kognitionen orientieren, die – nach ihrer entwicklungspsychologischen Einordnung – bestimmen, wie es weitergehen kann“ (Gerster & Schultz, 2004, S. 207). Das Autorenpaar erkennt dabei die Sinnhaftigkeit der Klassifizierung nicht an. Der Mathematikdidaktiker Schipper hingegen spricht eine klare Ablehnung der Verwendung des Dyskalkulie-Begriffs durch die Kultusministerkonferenz aus, da die wissenschaftliche Definition für die Schulpraxis als unbrauchbar gelte. In diesem Kontext merkt er an, dass die „WHO-Beschreibung von ‚Dyskalkulie‘ […] dahingehend geändert werden [sollte], dass die Entscheidung auf Erkenntnissen über den Schweregrad der Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens basiert, nicht auf der Zuschreibung einer (drohenden) seelischen Behinderung“ (Schipper, 2002, S. 4). Das eigentliche Problem wird genannt, jedoch fehlt eine klare Grenzziehung zwischen den individuellen, schulischen und familiären Merkmalen der Rechenstörung. Zudem kritisiert er die Förderungszuteilung bei Rechenstörungen, denn so solle jedes Kind die Möglichkeit erhalten, durch öffentliche Mittel gefördert zu werden.
2.1.3 Zusammenfassung wesentlicher Kritikpunkte und Stellungnahme
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es schon in der Definition Uneinigkeiten gibt, da diese nicht konkret wissenschaftlich definiert und abgesichert ist. Durch diese schwimmenden Grenzen im definitorischen Bereich kommt es zu Grauzonen und Verschiebungen der Maßnahmen. Des Weiteren werden inhaltliche Überlappungen der diagnostisch relevanten Konstrukte, also des Intelligenztests und der Erfassung der Mathematikkompetenz, genannt, die mit den vorgestellten Maßnahmen möglichst gering gehalten werden können, jedoch keine breite Intelligenzmessung im Sinne von Cattell (1963) darstellen und lediglich figural-bildliche Fähigkeiten erfassen. Ein weiteres großes Problem sind methodische und statistische Probleme, die durch einen falschen Differenzwert und folglich eine falsche Interpretation der Zusammenhänge gekennzeichnet sind.
Abgeschlossen werden kann die Kritik an der Diskrepanzdefinition mit einem treffenden Zitat von Grissemann:
„Dabei sollte man sich heute nicht mehr orientieren an den sogenannten Diskrepanz-Definitionen. [...] Die Förderbedürftigkeit sollte nicht abhängig gemacht werden von einer relativ hohen ‚Testintelligenz‘. Alle Schüler mit mathematischen Lernproblemen, auch ohne eine solche Diskrepanz, auch Schüler, die (momentan) intellektuell weniger entwickelt sind, haben Förderungschancen und sollten von den förderpädagogischen Fortschritten profitieren können“ (Grissemann, 2000, S. 8).
2.2 Illustration des Begriffs der Rechenstörung anhand dreier Fallbeispiele
Eine Rechenstörung kann in vielfältiger Weise auftreten und somit verschieden Erscheinungsformen haben. Jedoch sind die Ursachen für das Vorliegen besonderer Schwierigkeiten beim Rechnen bislang ungeklärt. Die Anzahl der für eine Rechenstörung verantwortlich gemachten Ursachen steigt zunehmend an. Neben den klassischen neuropsychologischen Einflussfaktoren wie der visuellen, akustischen und taktilen Wahrnehmung werden einseitige Hirnhemisphärendominanzen, linkshirniges Denken, kortikale Assoziations-defizite usw. beschrieben, wobei von den jeweiligen kommerziellen Institutionen keine Möglichkeit ausgewiesen wird, die Gültigkeit der gewonnenen Daten zu prüfen bzw. diese einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen (vgl. Schipper, 2002, S. 18).
Nach Petermann (vgl. Jacobs & Petermann, Rechenstörung, 2007, S. 16) setzen sich die Ursachen aus einem multidimensionalem Kontinuum zusammen, wobei neben den genetischen und neuropsychologischen Einflüssen auch den psychologischen, psychosozialen und den didaktischen Faktoren ein Stellenwert zugemessen wird. Wie stark diese Faktoren Einfluss nehmen und sich untereinander beeinträchtigen, ist bislang noch unzureichend erforscht. Etwaige Einflussfaktoren sind in Abbildung 1 zusammengefasst, werden jedoch nicht als Kausalitätskette verstanden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Mögliche Ursachen einer Dyskalkulie (Jacobs & Petermann, Rechenstörung, 2007, S. 16)
Selbst die Kinder, denen eine Rechenstörung attestiert wird, stellen untereinander eine äußerst heterogene Gruppe dar. Die im Modell dargestellten primären und sekundären Faktoren sind in unterschiedlicher Weise an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Rechenstörung beteiligt. Durch primäre Einflussfaktoren wird zunächst ein Störungsbild entwickelt, auf das die sekundären Faktoren wechselwirkend weitere negative Einflüsse ausüben können. Dabei sind Negativspiralen in der Interaktion nicht auszuschließen. Beispielsweise durch die Selbsteinschätzung „Alle Mitschüler sind schneller und besser als ich“ können sich Versagensängste, eine verminderte Anstrengungsbereitschaft sowie Lernbarrieren aufbauen.
Ein weiteres Modell wurde von Kaufmann und Gerster (2002) eingeführt, in dem die Rechenstörung als System von Wechselwirkungen verstanden und in drei Bereiche untergliedert wird (vgl. Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 : Ursachenfelder bei Rechenstörungen (Kaufmann, 2003, S. 29)
Die individuellen Riskofaktoren beschrieben die Faktoren, die auf das Kind bezogen existieren. Darunter fallen visuelle und auditive Störungen, wodurch Informationen nicht hinreichend gefiltert, verarbeitet oder gespeichert werden können. Dazu zählen auch Begleiterkrankungen wie eine Aufmerksamkeits-störung oder eine psychische Störung, beispielsweise ein gestörtes Selbstkonzept.
Der soziokulturelle und familiäre Einfluss beschreibt Bekräftigungen und Verstärkungen, ausgehend von Elternhaus oder dem sozialen Umfeld. Beispielsweise wird hier hoher Leistungsdruck erzeugt, der wiederum in einer Negativspirale zu schlechten Leistungen führen kann. Andererseits umschreibt dieser Bereich auch Migrationshintergründe, bei denen Eltern aufgrund sprachlicher Barrieren nicht am Schulerfolg des Kindes teilhaben können.
Die schulischen und didaktischen Risikofaktoren umschreiben den Einfluss von Lehrer(inne)n. Der Bereich wird sowohl von Rahmenbedingungen im Schulalltag beschrieben (z. B.: Stundentafel, Ressourcenausstattung u. v. m.) als auch von der didaktischen Struktur des dargebotenen Mathematik-unterrichts.
Wie erwähnt, stellen die Kinder mit einer besonderen Rechenschwäche eine heterogene Gruppe dar. Daher sollen im weiteren Verlauf drei Fallbeispiele einer Rechenstörung illustriert werden, die mögliche Ursachen und Einschränkungen darstellen sollen. Diese Fallbeispiele entspringen persönlichen Beobachtungen und anschließenden Interviews sowohl der Eltern als auch der Schüler, lediglich die Namen sind aus Datenschutzgründen zur Anonymisierung abgeändert.
2.2.1 Fallbeispiel 1
André ist zwölf Jahre alt und besucht die 5. Klasse einer Hauptschule in Kamen. Seine Eltern sind geschieden, seitdem er neun Jahre alt ist. Er lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, sein Bruder wohnt bei seinem Vater. Sein Bruder ist fünfzehn Jahre alt und besucht die örtliche Realschule. Seinen Vater sieht André selten, da dieser berufstätig ist und in einer anderen Stadt lebt. Andrés Erziehung hat seine Mutter weitgehend selbstständig übernommen. Da sie zurzeit arbeitslos ist, verbringt sie die meiste Zeit zu Hause, sie selbst hat keinen Schulabschluss. Zur Betreuung verbringt André häufig Zeit bei seinen Großeltern, die fußläufig innerhalb von 10 Minuten von der elterlichen Wohnung aus erreichbar sind. Die Großeltern kümmern sich nach der Schule meistens um André, helfen ihm bei den Hausaufgaben und bereiten ihm sein Essen zu.
Seit seinem sechsten Lebensjahr wurde bei André eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung diagnostiziert, wegen der er seit diesem Zeitpunkt in Therapie ist. Die Großeltern klagen häufig über mangelnde Disziplin und fehlenden Respekt gegenüber Erwachsenen. Wenn André von der Schule gekommen ist, fällt es ihm schwer, nach dem Essen seine täglichen Hausaufgaben zu erledigen. Generell sträubt er sich gegen Anweisungen und Verpflichtungen, die den schulischen Bereich betreffen. Wenn die Großeltern André dann doch dazu überreden können, die Hausaufgaben zu erledigen (meist durch positive Anreize), klagen sie über kurze Aufmerksamkeitsspannen und geringe Konzentration, André handelt dann oft impulsiv und beschäftigt sich mit anderen Dingen, denen er wiederum eine hohe Wertschätzung und intensive Aufmerksamkeit schenkt. Die Großeltern sind insgesamt sehr liebe- und verständnisvoll gegenüber André – im Gegensatz zu seiner Mutter. Diese ist schnell überfordert durch sein Verhalten, da er eine geringe Reizschwäche besitzt und sehr unorganisiert ist. Früher versuchte seine Mutter noch, hart durchzugreifen und konsequent zu bleiben, mittlerweile fehlt ihr jedoch die Kraft dazu, und so lässt sie ihn gewähren.
Zudem hat André ein ausgeprägtes Aggressionspotenzial: So kommt es häufig vor, dass er mitten in einer Handlung aufhört und den Gegenstand spontan zerstört. Seine Mutter hat beobachtet, dass diese Vorfälle, wenn sein Vater zu Besuch ist, viel seltener auftreten. Sein Vater greift bei etwaigen Vorfällen direkt durch, unterbricht die aggressive Handlung und versucht ihn zur Ruhe zu bringen. Im anschließenden Gespräch mit seinem Vater ist André häufig sehr einsichtsvoll und versucht Schadensbegrenzung zu betreiben. Dies verletzt seine Mutter, da er dieses Verhalten bei ihr nicht zeigt. Besonders ruhig wirkt André, wenn er mit seiner Spielekonsole spielen darf – hiermit kann er sich meistens stundenlang beschäftigen; er bevorzugt sehr actionreiche und Gewalt darstellende Genres, die seine Eltern ihm nicht verbieten.
Seine Lehrer beklagen sich darüber, wie häufig Hausaufgaben nicht erledigt werden und wie strukturlos André ist. In der Unterrichtsstunde fehlen ihm häufig Stifte, Hefte und sogar Bücher, die zum Bearbeiten der Aufgaben notwendig sind. Wenn er dann versucht, seine Aufgaben im Unterricht zu bearbeiten, ist er sehr orientierungslos, und es fehlt ihm an strukturiertem Vorgehen. In der Grundschule wurde bereits ein Intelligenztest durchgeführt, der ihm ein Ergebnis im durchschnitten Bereich bescheinigt, seine Leistungen in einzelnen Fächern lagen auch im durchschnittlichen Bereich. Besondere Leistungen zeigt er im kreativen und sportlichen Bereich, schlechte Leistung im Bereich Mathematik und Deutsch.
André selbst hat in der Schule nur wenige Freunde, da die Mitschüler aufgrund seinen auffälligen Verhaltens und seiner Aggressionen eher Abstand von ihm nehmen. Die Lehrerin ermutigt ihn häufig zum Weiterarbeiten und zur Aufmerksamkeit, kann sich aufgrund der Klassengröße jedoch nicht individuell nur um André kümmern. Sie versucht ihn bei Gesprächen miteinzubeziehen, jedoch findet er meistens keinen roten Faden. Wenn die Lehrerin eine Matheaufgabe diktiert, kommt André häufig nicht mit und erkundigt sich auch nicht bei Mitschüler(inne)n. Wenn es ihm gelingt, sich dann doch zu konzentrieren, ist eine Vielzahl der Ergebnisse fehlerhaft. Er hat die basalen Grundrechenoperationen nicht vollständig durchdrungen. So rechnet er beispielsweise bei der Aufgabe 303 – 51 = 352. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Fehler zu interpretieren:
1. Andre vergisst den Zehnerübertrag.
2. Er hat Probleme mit größeren Zahlen.
3. Ihn verwirrt ihn die Null an der zweiten Stelle.
In einem Interview zu der gestellten Aufgabe verdeutlicht er, dass bei einer Subtraktion das Ergebnis kleiner als die ursprüngliche Zahl werden müsse. Trotzdem überzeugt ihn dieser Einwand nicht; er geht weiterhin davon aus, richtig gerechnet zu haben. Es zeigt sich, das André Subtraktionsaufgaben mit der sogenannten Ergänzungsmethode löst: Laut ihm sind zwei plus eins drei; und null plus fünf ergibt wiederum fünf. Hier hat er Schwierigkeiten, das Phänomen zu beschreiben, da er – etwa bei oben genannter Aufgabenstellung – eine andere Strategie als bei den Einern verfolgt. Abschließend erwähnt er: „Eigentlich müsste man nicht rechnen, denn bei null bleibt die fünf stehen, da muss man nichts machen“; bei der Hunderter-Stelle verfährt er wieder wie bei den Einern. Offenbar leidet André unter Problemen mit den Stellenwerten und verwechselt die Richtung der Teiloperationen beim schriftlichen Rechnen, hinzu kommt ein falsches Verständnis von der Null in Kombination mit dem Stellenwertsystem.
Durch die schlechten Ergebnisse im Unterrichtsfach Mathematik hat André eine zunehmende Unlust, die Schule zu besuchen. Seine Mutter bekommt durch seine schlechten Leistungen und sein Verhalten immer wieder Rückmeldungen von den Lehrkräften. Sie versucht daraufhin, durch Entzug von Annehmlichkeit (Medienkonsum) sein Verhalten zu bessern, jedoch führt dies meist zu einem starken Wutausbruch Andrés. Mit der Zeit hat André Blockaden aufgebaut, wenn seine Mutter mit ihm über die schulischen Leistungen sprechen möchte. André ist durch seine ADHS-Erkrankung und die vermutete Rechenstörung doppelt geplagt.
Gemäß der Ursachenfelder-Theorie Kaufmanns (2002) lässt sich die ADHS-Störung den individuellen Faktoren zuordnen. Andrés Aufmerksamkeit und Konzentration sind vermindert. Daraus resultiert eine geringe Leistungsmotivation. In seinem soziokulturellen und familiären Umfeld erfährt André nur die Unterstützung seiner Großeltern, da sich seine Mutter mit der Situation ständig überfordert sieht. Freunde hat André kaum. Das trägt dazu bei, dass er sich sozial ausgegrenzt fühlt und nur schwer auf seine Mitschüler(innen) zugehen kann. Es fehlt ihm hier offenbar an personellen Ressourcen und sozialen Fähigkeiten. Da der Schulwechsel in die 5. Klasse der Hauptschule noch nicht lange zurückliegt, versucht die Lehrerin, sich mit André zu arrangieren; für ihn ist es eine neue Umgebung mit anderen Beschulungsroutinen, die sich zusätzlich verunsichernd auf seine aktuelle Lage auswirken können.
2.2.2 Fallbeispiel
Chris ist acht Jahre alt und besucht die zweite Klasse einer Grundschule in Bergkamen. Seine Mutter kommt ursprünglich aus Thailand und zog kurz vor seiner Geburt nach Deutschland. Seine Eltern leben seit einigen Monaten in Scheidung, der Vater ist vor Kurzem aus der familiären Wohnung ausgezogen. Chris hat eine 17-jährige Halbschwester, die ein Vorbereitungspraktikum im örtlichen Kindergarten vollzieht. Zu ihr hat er ein gutes Verhältnis.
Seine Mutter hat sich kürzlich selbstständig gemacht mit einem kleinen Geschäft. Nach der Schule kommt Chris direkt zu ihr in den Laden und erledigt seine Hausaufgaben hinten im Aufenthaltsraum. Nach getaner Arbeit darf er dann, wenn keine Aktivitäten anstehen, mit seinen Freunden spielen gehen, bis die Mutter den Laden schließt und sie gemeinsam nach Hause fahren. Einen eigenen Fernseher besitzt Chris nicht, dieser steht im familieneigenen Wohnzimmer und wird nur selten benutzt. Der Tagesablauf ist für Chris routiniert: morgens Schule, nachmittags Hausaufgaben und anschließend Vereinssport. Chris spielt seit einem Jahr in einem Volleyballverein, gerne würde er auch einem Schwimmverein beitreten, doch aufgrund von schweren Operationen im frühkindlichen Alter trägt er eine große Narbe quer über dem Oberkörper, für die er sich schämt und für die ihn andere Kinder im Schulsport hänseln.
Insgesamt ist Chris ein sehr freundlicher und aufgeweckter Junge mit viel Fantasie und kreativen Ideen, doch gerade der Matheunterricht fällt dem Jungen schwer. Seit einem halben Jahr besucht Chris wegen seiner Probleme im Mathematikunterricht ein bekanntes Nachhilfeinstitut, hier ist er an drei Nachmittagen in der Woche. Oft klagt Chris darüber, dass er viel für die Schule lernen müsse und ihm neben seiner sportlichen Vereinsaktivitäten kaum noch Freizeit bleibe, um sich mit Freunden zu treffen. Seine Mutter beharrt auf die Einhaltung seiner Routinen und ist, was seine schulischen Leistungen und seinen Verein betrifft, sehr streng und lehrt ihn diszipliniertes Verhalten. Chris’ Mutter kann aufgrund sprachlicher Barrieren nicht seine Förderung übernehmen, seine Schwester hat keine Zeit, und der Vater wohnt nicht in unmittelbarer Nähe. Deshalb entschieden sie sich für eine externe Nachhilfe. Die Schwierigkeiten in der Schule wurden durch diese Maßnahmen jedoch nicht besser, seine schulischen Leistungen blieben gleich, und so wurde Chris aufgrund von Überforderung ein Schuljahr zurückgestuft und wiederholt derzeit die zweite Klasse erneut.
Seine neue Klassenlehrerin sprach mit seiner Mutter und empfahl ihr, eine Untersuchung auf eine Rechenstörung durchführen zu lassen. Diese Testung fiel positiv aus. Über ergriffene Maßnahmen konnte den Verfasser vorliegender Arbeit die Mutter nicht informieren, da das Ergebnis kurzfristig vorliegt. Eine Dyskalkulie-Therapie sei laut Aussage der Klassenlehrerin eine Zielsetzung – die nicht mit einer Vielzahl an Mathenachhilfestunden gleichzusetzen sei, die Chris schon erhalten habe. Der erste Schritt sei nun, die Problemquellen des Jungen und die damit verbundenen Misserfolge durch einen gezielten Aufbau des mathematischen Fundamentes zu vermeiden. Erst dann könne ein weiterer Schritt vollzogen werden, im Zuge dessen Chris Anschluss an den fortschreitenden Unterricht gewinne.
Im Unterricht ist Chris allgemein sehr bemüht, sich zu engagieren, doch oft fallen ihm die Aufgaben zu schwer, dann gibt er reicht schnell auf und führt sein Versagen auf fehlendes Talent zurück. Besondere Schwierigkeiten zeigen sich bei Chris in Textaufgaben. Ein Beispiel: „Mama kauft vier Paar Socken für 5 €, in einem anderen Laden kauft sie vier Paar Socken für ihre Freundin, die 2 € günstiger sind. Wie viel zahlt Mama insgesamt?“ Chris führt seine Rechnung zu dem Ergebnis 7 €, er rechnet: 5 € + 2 € = 7 €. Dabei erkennt er nicht, dass zunächst der Preis für den zweiten Einkauf errechnet werden muss. Auf Rückfrage zum Ergebnis erläutert er: „Mama kauft für 5 € die Socken, und dann kauft sie günstigere Socken für 2 €, somit sind die beim zweiten Mal billiger.“
Chris fällt es dabei schwer, gegebene Sachsituationen zu mathematisieren. Es hat den Anschein, als würde er sein erworbenes Wissen über Zahlen dazu verwenden, diese aus dem Text zu selegieren und anschließend willkürlich mit Rechenoperationen und Rechenverfahren zu versehen. Ein tief greifendes Verständnis von Zahlenmengen ist bei ihm nicht vorhanden, wie folgendes Beispiel zeigt: „An einem Lesewettbewerb nehmen 6 von 24 Kindern teil. Wie viele Kinder verbleiben in der Klasse?“ Chris geht bei der Berechnung folgendermaßen vor: 24 : 6 = 4. Er erläuterte sein Vorgehen damit, dass in dem Text „teilen“ gestanden habe; da habe er sofort gewusst, wie man rechnen müsse. Hierbei ließ sich Chris durch die der Satzstellung geschuldete Trennung des Verbs „teilnehmen“ in die Irre führen.
stellen in der Mathematik noch eine besondere Stellung dar, da hier die mathematische Orientierung beim analytischen Umgang mit Textinhalt gezielt geübt werden soll. Dabei geht es nicht vorrangig um das Rechnen, sondern die Identifikation von Zusammenhängen. Chris ist hierbei sehr stark ergebnisorientiert und versucht, durch Kombinationen von Zahlen zum Ergebnis zu kommen. Dies versucht er selbst bei Vorlage von sogenannten „Kapitänsaufgaben“: Er führt ein Ergebnis herbei, das es nach logischen Kriterien nicht geben dürfte. Hierbei wird eine Struktur und Beziehung angenommen, die nicht gegeben ist.
Mögliche Einflüsse auf die Ausbildung einer Rechenstörung nach Kaufmann (2002) können in allen Ursachenfeldern gefunden werden. Bei André selbst kommt ein verändertes Selbstkonzept aufgrund schlechter Leistungen im Fach Mathematik und somit einer abgeschwächten Leistungsmotivation hinzu. Dabei entwickelt Chris Blockaden durch die Angst, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Im familiären Umfeld erhält er Unterstützung durch seine Mutter, die externe Maßnahmen einleitet, jedoch sind die gegebenen Hilfen nicht auf eine Diagnose der Rechenstörung zugeschnitten. Auch die von der Mutter vorgelebte Leistungsorientierung wirkt sich negativ auf den psychischen Zustand des Kindes aus. Für die Mutter besteht vermutlich ein kausaler Zusammenhang zwischen Übungszeit und der entsprechenden Arbeitsleistung, die in Form von Bewertungen (Noten) honoriert wird. Sein schulisches Umfeld hat auf die Situation nur einen geringen Einfluss. Die Maßnahme, Chris in die zweite Klasse zurückzustufen, erscheint als untauglich, um adäquat auf die Diagnose Rechenstörung zu reagieren.
2.2.3 Fallbeispiel
Anna ist neun Jahre alt und besucht die dritte Klasse einer Grundschule in Unna. Sie kommt aus einer Akademiker-Familie, beide Eltern sind berufstätig. Dazu hat sie zwei große Brüder, die bereits zum Studium ausgezogen sind. Ihr Vater arbeitet als Bauingenieur und ist meistens viel mit seiner Arbeit beschäftigt. Annas Mutter ist Lehrerin, sie unterrichtet Deutsch und Englisch an einer Realschule.
Anna ist ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen und in ihrer Klasse sehr beliebt. Sie ist sehr ehrgeizig und zielstrebig, nur im Fach Mathematik hat sie ihre Schwierigkeiten. Ihr Zeugnis der dritten Klasse ist mit Ausnahme der Mathematik (Note: „mangelhaft“) im Zweier- und Einser-Bereich. Dies könnte als Indiz einer vorliegenden isolierten Rechenstörung gedeutet werden. Annas Mutter ist immer sehr bemüht, ihrem Kind bei den Hausaufgaben zu helfen, dabei ist sie manchmal etwas übereifrig und versucht, Anna in Eigenregie am Nachmittag zu unterrichten. Nach eigenen Angaben besitzt sie jedoch kaum Talent für das Fach. Aus diesem Grund holt Annas Mutter sich häufig Anregungen zum Üben von ihren Kollegen. Vieles hat sie schon mit Anna ausprobiert: Steckwürfel, Rechenplättchen, numerische Stangen, Mengenkreise, Klötze, Rechenstreifen, Zahlenstrahlen u. v. m. Nach eigenen Aussagen hat die Mutter wenig Geduld in diesem Fachbereich, deshalb ermutigte sie oft ihren, Mann mit Anna zu üben – was sich auch als wenig erfolgreich herausstellte. Ihre Hausarbeiten erledigt Anna immer gewissenhaft und sehr konzentriert. Im Bereich Sprache ist sie eine der Besten in der Klasse, sie schreibt gerne kreative Geschichten in ihr Wochenjournal und hilft gerne anderen Schüler(inne)n.
Der erste Rat der Lehrerin lautete, weiter fleißig mit Anna zu üben, um mathematische Routinen aufzubauen. Zu Hause berichtet Anna seit einiger Zeit allerdings, vor dem Matheunterricht immer mehr Angst zu bekommen. Wenn die Hausaufgaben besprochen werden, mag sie sich nicht mehr melden, weil sie die Begründungen für die erarbeiten Ergebnisse vergisst. Im Unterricht fällt es ihr auch in letzter Zeit zunehmend schwer, Aufgaben zu lösen, da sie Kopfschmerzen und Bauchschmerzen plagen. Am liebsten würde Anna während des Matheunterrichts fehlen oder etwas anderes machen. Dies sind Anzeichen für eine Resignation. Sie kann sich nicht mit ihren Fähigkeiten flexibel im Zahlenraum bis 20 bewegen, besondere Probleme hat sie beim Zehnerübergang, sowohl bei der Addition als auch bei den Subtraktionsaufgaben. Um Flexibilität zu kompensieren, rechnet sie einfachste Aufgaben noch mit den Fingern. Beispielsweise fällt es ihr schwer, Mengen zu erfassen, ohne diese vorher abzählen zu können. In einer Frage ging es darum, die Anzahl der Würfelseiten zu nennen, ohne diesen als konkretes Objekt in die Hand nehmen zu dürfen. Die Bestimmung der Seitenanzahl gelang ihr erst durch das einzelne Abzählen der Seiten. Mögliche Schwierigkeiten, die bei Anna in diesem Kontext zusammenhängend vorliegen könnten, sind eine Schwäche in der Raumerfahrung, eine Schwäche der bildhaften Vorstellung (ihre Eindrücke werden vermutlich auf sprachlicher anstatt auf numerischer Weise verarbeitet), eine Zähl- und Zahlbegriffsschwäche und eventuell eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und Mengenvorstellung.
Was die Ursachenfelder der Rechenstörung nach Kaufmann (2002) betrifft, so ist eine Einschätzung schwierig. Leichte Tendenzen können aus der Situation abgeleitet werden. Im individuellen Bereich haben die schlechten Leistungen in der Mathematik zu einer verminderten Leistungsmotivation geführt, die beschriebenen Kopf- und Bauchschmerzen können auf Versagensängste in diesem Fach zurückgeführt werden. Dieses Verhalten nennt sich auch psychoreaktive Störung: eine belastende Situation, die von körperlichen Erscheinungen begleitet wird. Dieses Leiden kann durch interventive Maßnahmen gelindert und verkürzt werden. Im Familienumfeld kann kritisiert werden, dass die Mutter mit ihrem engagierten Verhalten das psychische Wohlbefinden Annas beeinflusst; Aussagen wie „Wir haben doch schon so viel geübt – warum kannst du es immer noch nicht?“ verstärken diesen Druck. Positiv anzumerken ist, dass die Mutter dem Ratschlag der Lehrerin nachgegangen ist, und zwar mit allen ihr zur Verfügung gestellten Mitteln. Problematisch würde es werden, wenn die Eltern aufgrund der guten Noten in den anderen Fächern die Situation nicht als hinreichend virulent einschätzen würden. Schnell wird eine Schwäche in der Mathematik auf andere Faktoren abgeschoben und bagatellisiert: „Ich war auch schon immer schlecht in Mathe“, „Später braucht das keiner mehr“ und „Du hast ein sprachliches Talent – da ist das ganz normal“ sind typische Aussagen, die auftretende Störungen abwerten. Über das schulische Umfeld lässt sich hier aufgrund von wenigen Informationen keine Aussage treffen, jedoch sollte der Mathematiklehrerin ans Herz gelegt werden, ihrer Beratungspflicht nachzukommen, denn obwohl Anna eine intensive Betreuung durch ihre Mutter erhält, haben sich ihre Leistungen nicht verbessert. Hier sollte weiter interveniert werden, um eine Besserung zu erzielen.
2.2.4 Abschließende Bemerkung zu den Fallbeispielen
Die in dieser Arbeit angeführten Fallbeispiele stellen exemplarisch die Vielseitigkeit einer vorliegenden Rechenstörung dar und zeigen auf, dass es einen multikausalen Zusammenhang zwischen den individuellen, soziokulturellen, familiären und schulischen Faktoren gibt. Gaidoschik erwähnt in diesem Kontext:
„Eindeutige Ursachen für Rechenschwäche – ‚Immer wenn dies und das vorliegt, wird das Kind zwangsläufig rechenschwach werden‘ – liegen nach dem heutigen Stand der Forschung nicht vor“ (Graidoschik, 2011, S. 14).
3 Medien und Bildung
3.1 Medien und Medienangebot
Die Medien und das Medienangebot nehmen in unserer Gesellschaft einen immer wichtigeren Stellenwert ein, insbesondere als eine der wichtigsten Freizeitbeschäftigungen. Vor allem in einem digitalen und Informationszeitalter, in dem nach dem Agrar- und Industriezeitalter die zentrale Bedeutung von Informationen und die damit verbundenen Datenverarbeitungen und Wissensbestände eine wichtige Rolle spielen, ist eine ausgeprägte Kompetenz im Bereich der Medien unabdingbar. Eng verbunden ist dieses Verständnis mit der Wissensgesellschaft, einer Gesellschaftsform, in der die Organisation des Zusammenlebens durch individuelles und kollektives Wissen gekennzeichnet ist. Bereits der englische Philosoph Francis Bacon (1561–1626) stellt eindrucksvoll mit seinem geflügelten Wort „Wissen ist Macht“ die Grundpfeiler dieser Formen dar: Es geht darum, sich zu informieren, informiert zu sein, Informationen zu selegieren, auszutauschen, zu bewerten und zu interpretieren, um Entscheidungsprozesse in Gang zu setzen, die die Politik, Wirtschaft und die Umwelt, in der wir leben, betreffen. Begriffe wie „virtueller Marktplatz“, „elektronischer Handel“, „E-Democracy“ und „E-Learning“ verweisen auf den aktuellen Wandel in unserer Gesellschaft und zeigen, wie heute schon politische, wirtschaftliche und bildungsbezogene Prozesse von der digitalen Entwicklung erfasst werden. Über die Abgrenzung von Information und Wissen besteht in der Wissenschaft keine einheitliche Meinung, jedoch ist Bacons Feststellung noch immer aktuell relevant: Nur wer Informationen besitzt und über die Kompetenz verfügt, diese sachgerecht zu erwerben/bewerten, kann als mündiger Bürger an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt sein. In diesem Zusammenhang wird von „Medienkompetenz“, insbesondere „digitaler Medienkompetenz“, gesprochen.
Unsicherheit besteht bei Eltern und Pädagogen besonders dann, wenn es darum geht, die möglichen Auswirkungen dieser digitalen Entwicklungen zu beurteilen. Ebenso umstritten sind die möglichen Folgen, insbesondere beim Fernsehkonsum, die bei Kindern und Jugendlichen entstehen. Hierzu gibt es zahlreiche Untersuchungen. Im Alltag von Kindern, Jugendlichen und Erwachsen spielt Fernsehen eine wichtige Rolle. Die Intentionen sind dabei verschieden, beispielsweise sollen Nachrichten und neue Informationen erlangt werden, oder jemand schaut fern, um sich die Zeit zu vertreiben. Ob Fernsehen für die Kinder zu einem Problem wird oder ob sich sogar noch ein positiver Einfluss bescheinigen lässt, hängt von einem multikausalen Kontinuum ab. Einzelne Faktoren können benannt werden, müssen aber immer auf ihren Einfluss hin geprüft werden.
Familien mit sechs- bis 13-jährigen Kindern sind medial folgendermaßen ausgestattet: 100 % besitzen ein Fernsehgerät, 98 % ein Smartphone, einen Internetzugang 98 %, einen Computer 97 %, ein Radio 91 % usw. (vgl. KIM-Studie, 2014, S. 8). Diese Zahlen gehen aus einer Untersuchung mit einer Stichprobenmenge von n = 1 209 Befragten hervor, wobei es sich hierbei um die Haupterziehenden in einer Familie handelt. Unter der Annahme, dass Kindern und Jugendliche dieser entsprechenden Haushalte Zugang zu diesen Medien gewährt wird, stellt sich insbesondere das Fernsehgerät als meistvorhandenes Medium heraus.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird insbesondere das Medium „Fernsehen“ aus der Fülle neuer Medien aufgrund seiner Ausstattungshäufigkeit in den Haushalten wie auch einer weitreichenden geschichtlichen Veränderung, die technologisch neueren Geräten (Mobiltelefonen etc.) nicht abgesprochen werden soll, jedoch nicht im Kontext dieser Arbeit umfassend berücksichtigt werden kann, herausgehoben.
Zunächst sollen hier die theoretischen Grundlagen des Fernsehkonsums kurz dargestellt werden, um zu verstehen, welchen Anforderungen und auch Spezialisierungen diese Form der Medien unterliegt. Um sich mit dem Medium Fernsehen zu beschäftigen, ist es zunächst sinnvoll, die geschichtliche Entwicklung kurz zu skizzieren. Im 19. Jahrhundert entwickelten Ferdinand Braun und Jonathan Zennecke die sogenannte „Braun’sche Röhre“. Hierbei konnten Bildpunkte mit einer elektrostatischen Ablenkplatte auf eine beschichte Glasschreibe projiziert werden. Die Idee des Fernsehens war es, ein audiovisuelles Kommunikationsmittel zu schaffen, das, bildlich gesprochen, das Radio zu Bild werden lassen sollte. Startschuss in Deutschland war der 22. März 1935, es begann das erste öffentliche regelmäßige Fernsehprogramm der Welt. Im Zweiten Weltkrieg erlebte das Fernsehen seine Hochkonjunktur in der Nachrichtentechnik und eignete sich hervorragend als Propagandainstrument. In der Nachkriegszeit war der Fernseher ein Luxusgut und in der breiten Masse der Bevölkerung eine Randerscheinung. In den 60iger-Jahren etablierte sich das Fernsehen durch den Wirtschaftswunderaufschwung zunehmend, besonders zur Fußballweltmeisterschaft wurde es attraktiver. Ab 1984 etablierte sich zum öffentlichen-rechtlichen Rundfunk auch das Privatfernsehen (vgl. Klaus, 2004, S. 26). Jedoch bleibt zu erwähnen, dass die Braun’sche Röhre inzwischen überholt ist, da diese durch HD-fähige Flachbildschirme usw. abgelöst wurde. Wie auch in Druckmedien fehlt es dem Rundfunk und dem Fernsehen an der Möglichkeit, sich mit den Rezipienten abzustimmen. Der Kommunikationsweg ist also einseitig in Richtung Rezipienten ausgerichtet. Die über die Massenmedien verwendete Sprache muss daher von allen verstanden werden können. Vereinfacht ausgedrückt, verwenden Medien unterschiedliche Elemente: Druckmedien greifen als Medium auf Schriftzeichen zurück, diese übermitteln eine Information, während beim Rundfunk auf akustische Eindrücke zurückgegriffen wird. Beim Medium Fernsehen werden diese beiden Elemente verknüpft und mit zusätzlichen bewegten visuellen Bildern versehen (audiovisuelle Sinneswahrnehmung). Hierbei wird „eine zusätzliche Interpretationsebene geschaffen, was in der Regel zur Folge hat, dass Fernsehen leichter und müheloser als andere Medien rezipiert werden kann“ (Plake, 2004, S. 33). Hier stellt sich insbesondere die Frage der Konsistenz der dargebotenen Informationen. Denn bei einer „Überlastung des Rezipienten“ weichen die eingegangenen Informationen auf den sensorischen Kanälen sehr voneinander ab, sodass Verwirrung entsteht. Die Bezeichnung des Fernsehens als Medium deutet darauf hin, dass es sich hierbei um eine technische und soziale Apparatur handelt, die als Bindeglied zwischen dem Sender und dem Empfänger fungiert (vgl. Plake, 2004, S. 35). Durch das einseitige Kommunikationsmuster entsteht eine asymmetrische Situation: Die Mitteilungsrichtung verläuft zum Zeitpunkt der Übertragung in eine Richtung. Dies kann durch indirekte Weise durch Produzenten, Publikum, Telefonanrufe in Liveübertragungen gegebenenfalls beeinflusst werden – so gibt es einen wissenschaftlichen Bereich, der sich mit Zuschauerforschung beschäftigt. Hierbei befassen sich (vor allem in der Werbung) Institute mit der Frage, wie sich der Zuschauer erreichen lässt; dazu sind Daten über Einstellungen, Bedürfnisse, Wünsche sowie das Konsumverhalten notwendig. Die wichtigste Währung im Medienbereich ist die „Sehbeteiligung“ (Plake, 2004, S. 36), diese wird auch Zuschauerquote genannt. An dieser werden das weitere inhaltliche Vorgehen und die finanziellen Mittel ausgerichtet.
Neben den kommunikativen Aspekten des Fernsehkonsums müssen auch die emotionalen Valenzen berücksichtigt werden. Weiß (2001) nennt diese Komponente „Das Fernsehen als Universalapparatur der ideellen Selbstbehauptung“ (Weiß, 2001, S. 178). Fernsehen kann die Lebens-auffassung und -weise einer Person widerspiegeln, indem einzelne Sendungen oder Genres präferiert werden, die einen Teil der Persönlichkeit darstellen, oder einen zur eigenen Identität komplementären Bereich erschließen, der durch geheimes Verlangen oder Wünsche gekennzeichnet ist. Ohne dem Zwang der klassischen Face-to-Face-Kommunikation ausgesetzt zu sein, kann je nach Übereinstimmung und Ablehnung in eine Welt abgetaucht werden, die die Rezipienten dabei unterstützt, durch ihre freie Entscheidung ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sich so, zumindest theoretisch, der Welt gegenüber zu behaupten. Weiß (2001) stellt die Komponente der Präferenz im folgenden Zitat dar: