Der Gemeinschaftsbegriff als Grundlage des Antiziganismus in Deutschland


Hausarbeit, 2012

17 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Aufbau

2. Vom soziologischen Begriff zur politischen Formel
2.1. Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies
2.1.1. Theorie der Gemeinschaft
2.1.2. Theorie der Gesellschaft
2.2. Politisierung des Gemeinschaftsbegriffes

3. Antiziganistische Ideologie
3.1. Historischer Einblick in die Diskriminierung von Sinti und Roma in Europa
3.2. Begriff des Antiziganismus
3.3. „Zigeuner“ als Symbol der Gemeinschaft?

4. Zusammenfassung

5. Bibliographie

1. Einleitung:

1.1. Problemstellung:

Der Antiziganismus ist eine vor allem im europäischen Raum weit verbreitete Ideologie, die trotz der schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen kaum öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland gewinnt. Auch Wenn der Begriff in jüngster Zeit auch in der Forschung immer mehr an Bedeutung gewinnt, scheint die mediale Berichterstattung darüber nur marginal zuzunehmen. So meint auch Markus End, dass „Antiziganismus (…) gegenwärtig (…) nur von einer kleinen Gruppe wissenschaftlich und politisch Interessierter verwendet wird (…) [und, D.D.] für die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung (…) noch gänzlich unbekannt ist.“1 Das macht es umso schwieriger und gleichzeitig interessanter das Thema zu bearbeiten.

Die antiziganistische Diskriminierung mündet meist in sehr schlechten Lebensbedingungen für die verschiedenen Gruppen in Europa. Besonders im osteuropäischen Raum findet die Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung von als „Zigeunern“ stigmatisierten Menschen ein höheres Maß als in westeuropäischen Ländern: Viele Sinti und Roma leben in Arbeitslosigkeit, da sie wegen der großen Zahl an Vorurteilen gegen sie starke Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Ebenso beherrschen die schlechte Bildungs- und Gesundheitssituation das Leben dieser Menschen im östlichen Europa. Oft wird ihnen auch hier das Recht zur Niederlassung verweigert.2 Pogrome, Mordanschläge und körperliche Angriffe auf Angehörige der Roma sind in osteuropäischen Ländern wie Ungarn, Slowakei und Tschechien keine Seltenheit. Auch in Deutschland ist die Situation vieler Sinti und Roma prekär. Hier sind eine schlechtere Bildungssituation im Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung und die damit einhergehende erhöhte Arbeitslosenquote zu bemerken. Die meisten Konflikte entstehen aufgrund zahlreicher Vorurteile, wodurch häufig eine Verleugnung der Herkunft sowie soziale Distanz zu anderen entstehen.3 Nach Ende des zweiten Weltkrieges gab es innerhalb des deutschen Beamtenwesens mehrere Versuche, Sinti und Roma nicht als NS-Verfolgte anzuerkennen, wodurch ausstehende Entschädigungen blockiert wurden.4 Während der Zeit des zweiten Weltkrieges waren die Umstände für die Sinti und Roma im Europäischen Raum am fatalsten. „So wurden Ausgangssperren verhängt, durften Roma nur zu festgesetzten Zeiten Städte betreten, wurden sie auf abgelegene Siedlungsplätze verwiesen, zur Zwangsarbeit verpflichtet und zwangsweise umgesiedelt. (…) In Polen, Böhmen und Mähren und später auf dem Balkan wurden Roma systematisch eliminiert. Viele wurden (…) erschossen, andere in Vernichtungslager deportiert.“5 Während des nationalsozialistischen Herrschaft kamen in Europa um die 500.000 Sinti und Roma zu Tode.6 Doch wie konnte es gerade in Deutschland zu einem solchen Massenmord an Sinti und Roma kommen?

Das Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie“ von Ferdinand Tönnies bot bereits 1887 eine klare wissenschaftliche Abgrenzung der Be- griffe Gemeinschaft und Gesellschaft, welche in einem Dualismus zueinander stehen. Er schien die Meinung vieler seiner Zeitgenossen zu teilen, da er in seiner Schrift eine Höherwertigkeit der Gemeinschaft suggerierte. Mit der zunehmenden Politisierung bei- der Begriffe zusammen mit der Entstehung des Mythos von 1914 nahm auch immer mehr die Annahme unter der deutschen Bevölkerung zu, dass zu einer Formierung der erwünschten „Volksgemeinschaft“ die Exklusion des Volksfremden notwendig sei.7 Als volksfremd zählten damals unter anderem auch die Sinti und Roma. Da ebenfalls fast alle zugeschriebenen Stereotypen gegenüber diesen Gruppen als klares Gegenbild zur Zivilisation und modernen Gesellschaft erscheinen, lässt sich folgende Fragen aufstel- len: Wird beim Antiziganismus in Verbindung mit dem Gemeinschaftsideal das eigene anstrebte Modell des sozialen Zusammenlebens als fremd gedeutet? Haben deshalb die suggerierte Höherwertigkeit der Gemeinschaft bei Tönnies und die darauffolgende Politisierung des Begriffs die Grundlagen für den heutigen Antiziganismus in Deutsch- land gelegt?

1.2. Aufbau

Um die oben genannten Fragen zu beantworten, werden zuerst die Begriffe, nach denen das Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies benannt wurde, de- finiert. Danach wird kurz darauf eingegangen, wie der Ruf nach der Bildung einer Ge- meinschaft zur Parole fast aller politischen Kräfte in der Weimarer Republik wurde. Um dieses Gemeinschaftsideal zu erreichen, waren viele Theoretiker der festen Überzeu- gung, dass ein charismatischer Führer, sowie ein gemeinsamer Feind, welcher die Nega- tion des Eigenen darstellt, notwendig sind. Letzteres ist für die Beantwortung der Fra- gen sehr zentral, weshalb auch kurz auf das „Freund-Feind-Denken“ eingegangen wird.

Anschließend folgt eine Begriffsbestimmung des Antiziganismus. Zuvor ist eine historische Betrachtung unumgänglich, da die dahintersteckenden Stereotype größtenteils mehr als fünf Jahrhunderte alt sind. Fortführend wird der Begriff der Gemeinschaft mit dem Zigeunerbild ins Verhältnis gesetzt und verglichen. Dabei wird auf die Frage eingegangen, warum bei den Vertretern der konservativen Revolution gerade das angestrebte Gemeinschaftsideal zur Negation des eigenen Bewusstseins verstanden wurde und damit das Gemeinschaftsgefühl erlebbarer machte. Am Schluss untersucht diese Hausarbeit, ob es einen spezifisch deutschen Antiziganismus gibt.

2. Gemeinschaft: Vom soziologischen Begriff zur politischen Formel

Der 1855 in Humus geborene Ferdinand Tönnies zählt neben Max Weber und Georg Simmel zu den Begründern der deutschen Soziologie. Mit seinem 1887 erschienenen Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ formulierte er einen der zentralsten klassischen Ansätze innerhalb der soziologischen Wissenschaft. Erst mit der Veröffentlichung der 2. Auflage seines Werkes gewann er die Anerkennung als einer der Begründer der Sozio- logie.8

2.1. Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnis

„Tönnies konzipierte die Begriffe der Gemeinschaft und der Gesellschaft als einander entgegengesetzte Konstrukte (…).“9 Beide stehen jeweils für eine geschichtliche Epoche, welche durch gegensätzliche Prinzipien gekennzeichnet sind.10

2.1.1. Theorie der Gemeinschaft

„Die Theorie der Gemeinschaft [ist dadurch charakterisiert, D.D.], daß menschliche Willen (…) durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden sind und blei- ben, oder notwendigerweise werden.“11 Diese Verbundenheit findet in drei Urverhältnis- sen ihre höchste Form der gegenseitigen Befürwortung: als erstes das zwischen Kind und Mutter, das Verhältnis zwischen Frau und Mann in der Form von Ehe und als letz- tes das Verhältnis zwischen den Geschwistern.12 Weiter stellte er die These auf, dass alle ferneren Verhältnisse an diese anknüpfen. Ihre Vollendung manifestiert sich dabei in der Beziehung zwischen Kind und leiblichen Vater. Diese Bindung sei durch die natürliche Ungleichheit des Wesens und der Kräfte entstanden, wodurch der Vater als natürlicher Herrscher erscheint. Dabei kann der Vater die „Vollendung der Erzeugung“ mittels der Lehre und Erziehung erreichen. Eine weitere natürliche Ungleichheit der Kräfte ist durch die Differenzen zwischen männlich und weiblich begründet. Folgend muss eine Teilung der Arbeit vorhanden sein: als natürlich männliche Arbeiten gelten der Schutz der Familie und des Besitzes, sowie die Beschaffung von Nahrung; als natürlich weibli- che Arbeiten gelten geistige und leichtere Tätigkeiten. Durch dieses Ungleichgewicht der Kräfte entsteht ein Ungleichgewicht bei der Verrichtung von Arbeit, wonach dem männlichen Part eigentlich ein höheres Maß an Genuss zustehen müsse. Dieses Un- gleichgewicht wird durch „das Gefühl der Überlegenheit“ beim Stärkeren und dem da- mit einhergehenden Gefühl der Inferiorität beim Schwächeren kompensiert.13 Demnach ist die Gemeinschaft nach Ferdinand Tönnies in ihrer Urform patriarchalisch.

„Auch in größeren Gruppen [ist, D.D.] die Einheit des Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhanden. (…) [Die Einheit findet ihren Ausdruck in der, D.D.] Allgemeinheit gemeinsamer Sprache (…) , gemeinsamen Brauch und gemeinsamen Glauben.“14 Diese Gruppen (Klan, Gau, Dorf, Stadt) entstanden durch das gemeinsame bebauen und Wohnen am selben Ort, wodurch eine zweifache Bindung an das Land entstand.15 Da die einzelnen Familien in einer notwendigen Abhängigkeit zueinander leben, spricht Tönnies von einem „gemeinschaftlich lebenden Organismus“16, welcher über Generationen hinweg immer wieder denselben Charakter und dieselbe Denkungsart hervorbringt.

Weiter führt er aus, dass der soziale Typ des gemeinschaftlichen Zusammenlebens mit dem „Wesenswille(n), ein tief-organischer Ausdruck der Natur selbst, dessen drei Formen (…) ‚Gefallen‘, ‚Gewohnheit‘, ‚Gedächtnis‘ (…) in dem Zweck und Mittel unlöslich verbunden sind“17, charakterisiert ist. Er gründet sich im Prinzip der Bildung einer Einheit des menschlichen Lebens. Zudem wird dem „Volk“ als einheitliches Gebilde, den Frauen und Kindern der Wesenswille zugeschrieben. Dieser bezieht sich im Allgemeinen auf Vergangenes, woraus sich das Werdende ergibt.18

2.1.2. Theorie der Gesellschaft

Im Gegensatz zur Theorie der Gemeinschaft ist die der Gesellschaft dadurch gekenn- zeichnet, dass die in ihr lebenden Subjekte im Wesentlichen voneinander getrennt sind, auch wenn sie in Form von Warenhandel kurzzeitig in eine Bindung eingehen. Während des Transaktionsaktes herrscht zwischen den einzelnen Individuen eine Feindseligkeit, welche zwar als eine „negative“ Haltung charakterisiert wird, aber zum Normalzustand gehört. Der Tausch selbst ist als ein rein gesellschaftlicher Akt zu begreifen.19

[...]


1 End, Markus: Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus, In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 22- 23/2011, Berlin 2011, S.15.

2 Vgl. Matter, Max: Zur Lage der Roma im östlichen Europa, In: Matter, Max (Hrsg.): Beiträge der Akademie für Migration und Integration. Die Situation der Roma und Sinti nach der EU-Osterweiterung, Heft 9, S.11-28, Göttingen 2005, S.11-13.

3 Vgl. Meueler, Erhard / Papenbrok, Marion: Kulturzentren in der Kultur- und Sozialarbeit von Sinti und Roma. Ein interkultureller Vergleich, Beltz 1987, S.109.

4 Vgl. Gilad, Margalit: Die deutsche Politik gegenüber Sinti und Roma nach 1945, In: Matras, Yaron / Winterberg, Hans / Zimmermann, Michael (Hrsg.): Sinti, Roma, Gypsies. Sprache - Geschichte - Gegenwart, Berlin 2003, S.155-160.

5 Matter, Max: Zur Lage der Roma im östlichen Europa, In: Matter, Max (Hrsg.): Beiträge der Akademie für Migration und Integration. Die Situation der Roma und Sinti nach der EU-Osterweiterung, Heft 9, S.11-28, Göttingen 2005, S.18

6 Vgl. Ebd. S.19.

7 Vgl. Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, S.346-355.

8 Vgl. Milke-Horke, Getraude: Gesellschaft als Wille und Vorstellung: Ferdinand Tönnies, In: s. Hrsg.: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, 6. Auflage, Oldenbourg 2002, S.100-101.

9 Ebd. S.102.

10 Vgl. Weymann, Ansgar: Gemeinschaft und Gesellschaft, In: Papcke, Sven / Oesterdieckhoff, Georg W. (Hrsg.): Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001, S.488.

11 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1887, S.7.

12 Vgl. Ebd. S.7.

13 Vgl. Ebd. S.10-12.

14 Ebd. S.19.

15 Vgl. Ebd. S.21.

16 Vgl. Ebd. S.31.

17 Aron, Raymond: Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken, Stuttgart 1953, S.17.

18 Vgl. Milke-Horke, Getraude: Gesellschaft als Wille und Vorstellung: Ferdinand Tönnies, In: s. Hrsg.: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, 6. Auflage, Oldenbourg 2002, S.103.

19 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1887, S.34-35.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Gemeinschaftsbegriff als Grundlage des Antiziganismus in Deutschland
Hochschule
Technische Universität Chemnitz  (politische Theorien und Ideengeschichte)
Veranstaltung
Allgemeine Forschungsfragen der politischen Theorie und Ideengeschichte
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
17
Katalognummer
V306110
ISBN (eBook)
9783668040380
ISBN (Buch)
9783668040397
Dateigröße
567 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antiziganismus, Tönnies, Gemeinschaft, Deutschland
Arbeit zitieren
Daniel Drescher (Autor:in), 2012, Der Gemeinschaftsbegriff als Grundlage des Antiziganismus in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306110

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