Der Skandal in Michel Houellebecqs Roman „Soumission“. Analyse von Aspekten und Stilmerkmalen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Literaturskandal
2.1 Der Literaturskandal als Abweichung von der allgemeingültigen Norm
2.2 Beispiele zu Auslösern für einen Literaturskandal
2.3 Literaturvermittlung und ihre zunehmende Inszenierung

3. Literaturskandale um Michel Houellebecq
3.1 Michel Houellebecq als Gesellschaftsanalytiker, Soziologe und Moralist
3.2 Michel Houellebecq als Philosoph
3.3 Houellebecqs Romane als Thesenromane
3.4 Provokation und Skandal
3.5 Houellebecqs wichtigste Thesen, Theorien und wiederkehrende Motive im Überblick

4. Houellebecqs Roman Soumission
4.1 Zum Inhalt des Romans Soumission
4.2 Skandalverdächtiger Stil Houellebecqs in Soumission
4.3 Eine gegenwartsbezogene Analyse zur gesellschaftlichen und politischen Situation im Frankreich des 21. Jahrhunderts
4.3.1 Thesen und Theorien in Soumission
4.3.2 Lösungsmöglichkeiten für die Probleme der westlichen Gesellschaft
4.4 Auslöser des Skandals

5. Résumé

6. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Rezensionen und Interviews

1. Einleitung

Am 7. Januar 2015 erschien der neueste Roman des französischen Skandalautors Michel Houellebecq mit dem Titel Soumission (deutsch: Unterwerfung). Dieser erzählt die Geschichte von dem Pariser Literaturwissenschaftler François im Jahre 2022, der die anstehende Präsidentschaftswahl verfolgt, bei dem schließlich ein muslimischer Präsident gewählt wird. Daraufhin beginnt sich das öffentliche und private Leben in Frankreich zu verändern. Bereits vor dem Erscheinungstermin in Deutschland hat das Buch heftige Debatten ausgelöst. Am gleichen Tag des Erscheinungstermins in Frankreich eröffnen Islamisten das Feuer auf die Redaktionsmitglieder des Pariser Satiremagazins Charlie Hebdo, das an diesem Tag eine Karikatur über Michel Houellebecq zu seinem neuesten Roman auf dem Titelblatt zeigt.

Ziel der vorliegenden Arbeit soll es sein, die mögliche Ursache des Skandals in Houellebecqs Roman Soumission herzuleiten. Dabei sollen unter anderem skandalverdächtige Aspekte und Stilmerkmale hinsichtlich ihrer Skandalträchtigkeit näher untersucht werden. Als Grundlage zur näheren Betrachtung des Skandals in Soumission sollen zunächst Literaturskandale um Houellebecqs frühere Werke herangezogen werden. Dabei soll die öffentliche Wahrnehmung und die Rezeption seiner Werke besonders berücksichtigt werden. Zunächst soll der Begriff des Literaturskandals erklärt werden, um im Anschluss daran aufzuzeigen, wodurch ein Literaturskandal ausgelöst werden kann.

2. Der Literaturskandal

Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, was sich hinter dem Begriff des Literaturskandals verbirgt und mit welchen Merkmalen sich ein Literaturskandal definieren lässt. Darüber hinaus soll geklärt werden, was geschehen muss, damit Literatur einen Skandal auslöst. Im Anschluss daran soll aufgezeigt werden, welche Zwecke der Literaturskandal erfüllt oder erfüllen kann.

2.1 Der Literaturskandal als Abweichung von der allgemeingültigen Norm

Allgemein ist von einem Skandal die Rede, wenn Regeln gebrochen oder Gesetze übertreten werden oder wenn von einer allgemeingültigen Norm abgewichen wird (vgl. Neuhaus, Sperrbezirk 41). Wer Skandalöses tue, der verstoße gegen die Normen und Konventionen des gesellschaftlich Anerkannten, so Rainer Moritz (vgl. Moritz, Marketing 54). Dabei komme es vor allem auf den Standpunkt der öffentlichen Meinung an, der „mehr oder weniger aus gesellschaftlichen Regeln ableit- und fixierbar“ sei (Neuhaus, Sperrbezirk 42). Wer einen Skandal auslöse, müsse mitunter damit rechnen, „moralischen oder finanziellen Schaden zu erleiden“ (ibid.). Literaturskandale können entstehen, wenn ein literarischer Text „nicht kodifizierte Regeln […] von sozialen Teilgruppen verletzt“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 75). Dies kann beispielsweise Konventionen, Moralvorstellungen oder Identitätssymbole betreffen (vgl. ibid.). Literaturskandale „drehen sich oft um zentrale Werte unserer Gesellschaft“ und betreffen „moralische Fragen“ (ibid.). Folglich gehe die Skandalisierung mit einer Moralisierung einher, so Dürr und Zembylas (vgl. ibid.). Stefan Neuhaus führt an, dass Normverstöße nicht stattfänden, sondern von den Medien erzeugt werden würden (vgl. Neuhaus, Sperrbezirk 42). Sie seien typische Selektoren für Nachrichten, die durch die Medien zum Skandal gemacht werden (vgl. ibid.). Ohne größere Verbreitung durch die Medien gäbe es keinen Skandal, denn durch die massenmediale Berichterstattung wird ein Normverstoß zum Skandal. Des Weiteren führt Volker Ladenthin an, dass Skandale oft auch aus „Kategoriefehlern beim Publikum“ entstünden (Ladenthin, Lit. als Skandal 26). Dabei verwechseln sie „Fiktion mit Wirklichkeit, eine ästhetische Darstellung mit einer Meinung“ (ibid.). Das, was ästhetisch gemeint sei, beurteilt das Publikum moralisch (vgl. ibid.). Ladenthin behauptet, dies gelte besonders „für jene, die sich in einem ästhetischen Produkt dargestellt glauben“, und die darin nun eine „Verletzung von Persönlichkeits- oder Urheberrechten“ sehen (ibid.).

2.2 Beispiele zu Auslösern für einen Literaturskandal

Claudia Dürr und Tasos Zembylas versuchen sich an der Formulierung einer Typologie von Literaturskandalen. Literatur sollte unter anderem nicht für „politische Zwecke“ instrumentalisiert werden; Literatur darf nicht „im Dienste der Obrigkeit stehen“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 76). Ein Verstoß wird als moralische Verfehlung bewertet und Dürr und Zembylas typisieren dies als einen Skandal, welcher Literatur und politische Instanzen betrifft (vgl. Dürr/Zembylas, Konfliktherde 76). Weiterhin kann ein Skandal dadurch ausgelöst werden, dass in Literatur „Inhalte“ ausgesprochen werden, die „auf geringe soziale Akzeptanz stoßen“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 78). Jede Gesellschaft habe bestimmte Auffassungen, die ihr heilig seien und „die wesentlich zur sozialen Kohäsion beitragen“ (ibid.). Diese „zentralen Einstellungen und Werte einer gesellschaftlichen Ordnung“ bezeichnen Dürr und Zembylas hier als „‘hegemonialen kulturellen Konsens‘“, da sie „weitgehend eine unbedingte Zustimmung fordern“ (ibid.). Dürr und Zembylas führen hier als Beispiele des europäischen Kulturkreises die „Verurteilung der nationalsozialistischen Gräuel“ oder die „Ablehnung jeder Form von sexueller Gewalt und Ausbeutung“ sowie „das Bekenntnis zur Demokratie als legitimer Herrschaftsform“ an (ibid.). Mit der Behandlung gewisser Themen können Autoren oder Autorinnen Tabus brechen und eine Gesellschaftskritik äußern, die als deviantes Denken wahrgenommen wird (vgl. ibid.). Bei dieser Art des Literaturskandals wird der Skandal durch Literatur als Gesellschaftskritik wider den hegemonialen Konsens ausgelöst (vgl. ibid.). Darüber hinaus gelten für bestimmte Berufsgruppen höhere soziale Erwartungen als für andere, so zum Beispiel für Intellektuelle und Autoren und Autorinnen aufgrund der „historisch gewachsenen Rolle […] als soziales Gewissen“ und als „Seismografen des Zeitgeists“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 79-80). Wird die „Wahrhaftigkeit“ ihrer „Behauptungen“ angezweifelt, löst dies einen Skandal aus, denn von ihnen wird Wahrheit und Gewissenhaftigkeit erwartet (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 80). Eine Übertretung kann es beispielsweise darstellen, wenn ein Autor oder eine Autorin den Inhalt eines literarischen Werks als volle Wahrheit ausgibt, sich dieser dann allerdings als Fiktion herausstellt (vgl. ibid.). Außerdem kann ein Literaturskandal ausgelöst werden, wenn in einem literarischen Werk gegen Grundrechte wie beispielsweise das Persönlichkeitsrecht verstoßen wird (vgl. Dürr/Zembylas, Konfliktherde 81). Dies trifft unter anderem dann zu, wenn sich reale Personen in fiktiven Romanfiguren wiederzuerkennen glauben und sich in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt fühlen (vgl. ibid.). Des Weiteren kann Antagonismus im Literaturbetrieb in manchen Fällen zu einem Skandal führen. Dies betrifft nicht unbedingt den Inhalt eines literarischen Werkes an sich, sondern betrifft einen Streitfall zwischen Akteuren des Literaturbetriebs um ein literarisches Werk und „die Austragungsform bzw. das Konfliktverhalten“ der streitenden Akteure, welche als „moralisch inakzeptabel wahrgenommen werden“ können (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 83). Literaturskandale können aber auch absichtlich inszeniert sein und als „Mittel für Publizität“ dienen und um den Umsatz zu maximieren (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 85). Der inszenierte Skandal „dient in erster Linie der Erhöhung des Bekanntheitsgrads“ des Autors oder der Autorin, der oder die sich dabei „außerliterarischer, medienstrategischer Methoden“ bedient, um einen „Verstoß gegen Benimm-Regeln“ zu inszenieren (ibid.). Schließlich soll damit die Aufmerksamkeit auf das beworbene Buch gelenkt werden (vgl. ibid.).

2.3 Literaturvermittlung und ihre zunehmende Inszenierung

Dennoch stellt sich die Frage, weshalb ein Autor oder eine Autorin es als wünschenswert empfindet, im Mittelpunkt eines Skandals zu stehen, denn schließlich hat ein Skandal meist negative Folgen für das skandalisierte Individuum (vgl. Neuhaus, Sperrbezirk 42). Rainer Moritz führt an, dass es „in den meisten Fällen“ absurd scheint, dass jemand einen Skandal auslöst, um davon zu profitieren (Moritz, Marketing 54). Gleichwohl unterstellt er Verlagen „und manchmal auch Autoren“ eine „absichtsvolle Inszenierung von Skandalen“ (Moritz, Marketing 55). Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss zunächst die Vorgehensweise der Literaturvermittlung und ihre zunehmende Inszenierung erläutert werden.

Literaturvermittlung lässt sich als Summe von Kommunikationsangeboten definieren, die ein literarisches Werk „auf dem Weg seiner Rezeption begleiten“ (Reichwein, Lit.Vermittlung 89). Dabei entstehen Begleittexte beziehungsweise Sekundärtexte, auch „Paratexte“ genannt (Reichwein, Lit.Vermittlung 89). Diese werden von den Autoren oder von der Marketingkommunikation der Verlage verfasst und herausgegeben ebenso wie von der Literaturberichterstattung in den Medien (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 89). Es sind „Texte der Vermittlung“, die die „Wahrnehmung, Einordnung, Interpretation und den Verkauf von Büchern“ beeinflussen und die somit für die Außenwirkung und Rezeption von einem literarischen Werk verantwortlich sind (Reichwein, Lit.Vermittlung 89-90). Sie entscheiden also, ob ein literarisches Werk als „interessant, lesenswert oder […] skandalös“ empfunden wird (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 90). Marc Reichwein behauptet demnach, ein Literaturskandal sei eine paratextuelle Kommunikation, die einen literarischen Text betrifft und umgibt und die dabei von einem Skandal spricht (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 90). Es gibt „kommunikative Schemata der Medien, die für eine Literaturvermittlung stehen, die zunehmend […] Paratexte inszeniert, um öffentliche Aufmerksamkeit für Literatur herzustellen“ (Reichwein, Lit.Vermittlung 89). Die Inszenierung von Paratexten soll also für eine verstärkte Aufmerksamkeit auf ein literarisches Werk sorgen. Marc Reichwein stellt darüber hinaus fest, dass die Inszenierung von Skandalen in den Medien verstärkt zugenommen hat (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 90). Diese Entwicklung begründet er zum einen mit der Weiterentwicklung des Gesamtmedienkomplexes und der einhergehenden „Vervielfachung der Kommunikation“, zum anderen mit qualitativen Veränderungen und einer „Zunahme von inszenatorischen Berichterstattungsmustern“, wodurch die „Skandalkommunikation“ zunimmt (Reichwein, Lit.Vermittlung 90). In der Ökonomie der Aufmerksamkeit unterliege die Formung von Medieninhalten immer stärker dem Gebot der Popularisierung, so Reichwein (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 90). Um im Wettbewerb der Aufmerksamkeit Schritt halten zu können, muss verstärkt Aufmerksamkeit erzeugt werden. Inszenierungsschemata wie Personalisierung, Emotionalisierung oder Skandalisierung wollen die Attraktivität von Medieninhalten steigern und ihre Rezeption gezielt motivieren (vgl. Reichwein, Lit.Vermittlung 91). Diese Inszenierungsschemata kommen auch im Literaturbetrieb, „im Feuilleton und in der Literaturberichterstattung“ zum Einsatz (Reichwein, Lit.Vermittlung 91). Ein solches Inszenierungsverfahren umfasst zum Beispiel das Verfahren der „Personalisierung als gezielte Sichtbarmachung der Person des Autors“ (Reichwein, Lit.Vermittlung 92). Neben den herkömmlichen Informationen über die Person des Autors wie Name, Alter oder Beruf wird die Person gezielt in Szene gesetzt, um dem Autoren ein Image zu geben und somit „eine unverwechselbare Autoren-Marke im Literaturbetrieb“ zu schaffen (Reichwein, Lit.Vermittlung 91). Durch einen Skandal um die Person des Autors gerät dieser verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit. Auslöser für einen Skandal können ein „Auftritt, ein Bericht oder eine gezielt platzierte Auskunft sein“, führen Dürr und Zembylas an (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 85). Nur selten genüge allein der Text, um einen Skandal auszulösen (vgl. ibid.). Darüber hinaus gibt es die „visuelle Variante der Personalisierung“ (Reichwein, Lit.Vermittlung 93). Dazu zählt die „professionelle Ausgestaltung von Autorenfotos“ als Inszenierung eines visuellen Paratextes um „Aufmerksamkeit und Interesse zu erregen“ und um einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines Kultstatus zu leisten (ibid.).

Skandale werden also oftmals inszeniert, um die Aufmerksamkeit auf einen Autor beziehungsweise auf das skandalisierte Buch zu lenken. Trotz des Risikos, welches ein Skandal mit sich bringt, haben Autoren und Verlage ein Interesse daran und inszenieren Skandale oftmals sogar gezielt, um ihn zwecks Steigerung des öffentlichen Interesses an Autor und Buch und schließlich zwecks Gewinnmaximierung für sich zu nutzen. Ein inszenierter Literaturskandal stellt eine Marketingstrategie dar.

Obwohl sich Skandale voraussehen ließen, entstehen die meisten Skandale heute doch eher zufällig, behauptet Rainer Moritz (vgl. Moritz, Marketing 58). Denn Literaturskandale verletzen heute keine Tabus mehr, da es in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum noch Tabus gibt (vgl. Moritz, Marketing 59). Allerdings können Literaturskandale Tabus verletzen, indem sie Wahrheit vortäuschen (vgl. ibid.). Häufig sei ein literarischer Text jedoch „nur Auslöser für den Ausbruch und die Sichtbarmachung bereits bestehender Konflikte“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 86). Somit sei „Konflikt- und Skandalanalyse […] eine Form der Gesellschaftsanalyse“ (Dürr/Zembylas, Konfliktherde 87).

3. Literaturskandale um Michel Houellebecq

Michel Houellebecq gilt als Skandalautor. Nicht nur der erst kürzlich erschienene Roman Soumission ist in den Fokus der Öffentlichkeit geraten und hat eine skandalträchtige Debatte entfacht. Bereits um andere Werke Houellebecqs haben öffentliche Diskussionen stattgefunden, die schließlich zum Skandal führten. Um festzustellen, wodurch der Skandal um Soumission ausgelöst worden ist, sollen zunächst die Literaturskandale um Houellebecqs frühere Werke näher betrachtet werden. Dazu sollen die öffentliche Wahrnehmung und die Rezeption seiner Werke aufgezeigt werden. Darüber hinaus sollen wiederkehrende Motive in den Romanen des Skandalautors festgestellt werden ebenso wie darin erkennbare Thesen und Theorien. Im Folgenden sollen zunächst verschiedene Arten der Rezeption des Autors und seiner Werke vorgestellt werden: Michel Houellebecq als Gesellschaftsanalytiker, Soziologe, Moralist, Philosoph, Theoretiker und Provokateur.

3.1 Michel Houellebecq als Gesellschaftsanalytiker, Soziologe und Moralist

Michel Houellebecq ist Soziologe und Moralist, da er in seinen Romanen Gesellschaftsanalyse betreibt. Das „moralistische Schreiben“ gründe auf der „Beobachtung menschlicher Gewohnheiten“, führt Jutta Weiser in ihrem 2011 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Posthumane Menschenprüfer. Michel Houellebecqs La possibilité d’une île und die Moralistik an (Weiser, Menschenprüfer 71). Aufgrund Houellebecqs Beobachtungen zum Zustand der Gesellschaft, die bereits seinen 1994 erschienenen Erstlingsroman Extension du domaine de la lutte prägten, indem durch den Ich-Erzähler als Beobachter unter anderem „die Sehnsüchte des Menschen angesichts des zunehmenden Werte- und Emotionsverlustes“ offen gelegt werden, bezeichnet Jutta Weiser den Autoren als Moralisten (ibid.). Houellebecq nimmt in seinen Romanen eine „gegenwartsbezogene Analyse des Menschen und der Gesellschaft“ vor, womit er „im Trend der unter dem Stichwort des retour au réel zusammengefassten Tendenzen der französischen Gegenwartsliteratur“ läge (Weiser, Menschenprüfer 71). Der Autor setze sich in seinen Romanen kritisch mit der Lebenswirklichkeit heutiger Menschen auseinander, bestätigt Susanna Frings (vgl. Frings, Ethik 17). So wurde beispielsweise Houellebecqs zweiter Roman Les particules élémentaires aus dem Jahre 1998 von zahlreichen Rezensenten und Literaturkritikern als soziologische Untersuchung beziehungsweise als soziologische Studie empfunden (vgl. Horst, Philosoph 9). Des Weiteren lässt Dietmar Horst in seinem Essay Houellebecq der Philosoph den von ihm bezeichneten „unbestechliche[n] Wissenschaftler […] Dirk Naguschewski“ von der Freien Universität Berlin zu Wort kommen, der „in aller Nüchternheit“ Houellebecqs Roman Les particules élémentaires „als ‘ eine großangelegte Gesellschaftsanalyse ‘“ bezeichnet, „in deren Nebeneinander von Handlung und These man den gelernten Informatiker zu erkennen glaube“ (Horst, Philosoph 9). Houellebecq schildere in seinen Romanen „zeittypische Grenzsituationen und Krisenerfahrungen“ und er sehe sich als „Zeitdiagnostiker, der die zunehmende Isolation und das Unbehagen an der Singlegesellschaft dokumentiert“, behauptet Annette Simonis in ihrem Beitrag Michel Houellebecq – ein Existentialist der Postmoderne? (Simonis, Existentialist 293).

3.2 Michel Houellebecq als Philosoph

Michel Houellebecq wird von einigen seiner Leser und anderen Personen, die sich mit dem Romanwerk des Schriftstellers näher auseinandersetzen, auch als Philosoph wahrgenommen. In seinem 2006 veröffentlichten Essay Houellebecq der Philosoph weist Dietmar Horst darauf hin, dass sich Houellebecq stets als „Dichter- und Schriftstellerphilosoph“ definiert haben soll, da er in zahlreichen Interviews auf seine geistigen Vorbilder hinweist, die auf eine „‘totale Erkenntnis‘ im Sinn einer umfassenden Weltdeutung“ abzielen (Horst, Philosoph 8). Bereits in seinem Erstlingsroman Extension du domaine de la lutte weist Houellebecq zu Beginn auf ein mit diesem Roman verfolgtes Ziel hin, welches ein philosophisches sei (vgl. ibid.). Dieses Ziel, so Dietmar Horst, läge darin, „den Zustand der modernen westlichen Gesellschaften zu hinterfragen“ (ibid.). Für Houellebecq sei der Roman der natürliche Ort, um philosophische Debatten auszutragen oder philosophische Zerrissenheit zum Ausdruck zu bringen, so Dietmar Horst (vgl. Horst, Philosoph 29). Somit vertrete der Autor die Auffassung von der Untrennbarkeit von Literatur und Wissenschaft sowie von Roman und Philosophie (vgl. ibid.).

In Rezensionen werden seine Romane unter anderem mit denen von Schriftstellerphilosophen wie Albert Camus verglichen, wie beispielsweise in einer Literaturkritik über Les particules élémentaires von Norbert Niemann in DIE ZEIT aus dem Jahre 1999, als Niemann das als Fragment vorliegende Werk Der erste Mensch von Albert Camus als Vorbild für Houellebecqs Les particules élémentaires zu erkennen glaubte (Niemann, Korrekturen). Michel Houellebecq werde „eben nicht nur als ‚Skandalautor‘ wahrgenommen“, sondern „auch als ernstzunehmender Philosoph der Gesellschaft, als akribischer Diagnostiker der Gegenwart“ (Horst, Philosoph 10). Auch Rita Schober erkennt Houellebecqs Weltbild als ein philosophisches an, welches hinsichtlich Raum, Zeit, Realität, Bewusstsein, Freiheit und Wahrheit „von den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen“ geprägt sei (Schober, Weltsicht 184).

Schließlich könne der französische Schriftstellerphilosoph Michel Houellebecq als „Verkünder von unangenehmen Wahrheiten“ betrachtet werden, „deren Geltungsbereich die westlichen Gesellschaften an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung sind“ (Horst, Philosoph 86).

3.3 Houellebecqs Romane als Thesenromane

In seinem 2003 erschienenen Aufsatz Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals behauptet Jochen Mecke, dass die Romane des französischen Autors Michel Houellebecq Thesenromane seien, in denen er Theorien aufstellt, die die gegenwärtige Gesellschaft betreffen (vgl. Mecke, Funktionen 196). Aus seiner Sicht haben Houellebecqs Romane „unbestreitbar Thesencharakter“ (ibid.). Eine zentrale These meint Mecke bereits in Houellebecqs erstem Roman Extension du domaine de la lutte aus dem Jahr 1994 festzumachen (vgl. ibid.). So stelle der sexuelle Liberalismus die sogenannte „Ausweitung der Kampfzone“ dar, die zu einem zweiten Hierarchisierungssystem unabhängig vom Kapital geführt haben soll (vgl. ibid.). Erotische Attraktivität, einhergehend mit Schönheit und Jugendlichkeit, ist Voraussetzung für einen hohen gesellschaftlichen Wert des Individuums. Ein Individuum, welches diese Kriterien nicht erfüllt, wird ausgegrenzt. Diese Theorie würde in seinem zweiten Roman Les particules élémentaires aus dem Jahr 1998 fortgeführt und erweitert durch die Feststellung, dass „Sexualität, Individualismus und die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft“ die „Ursachen allen Leidens“ seien (Mecke, Funktionen 196). Zahlreiche theoretische Exkurse der Romane haben „die Funktion, die Geschichte der Figuren und die Welt, in der sie leben, durch historische, soziologische, philosophische und gentechnische Diskurse zu erklären“ (Mecke, Funktionen 208). Mecke stellt die Behauptung auf, dass die Figuren und die Geschichten die Funktion haben, „die Thesen des Autors zu belegen“ (ibid.). Die Figuren dienen im Roman zum einen als Sprecher, zum anderen als Übermittler der Ideen Houellebecqs (vgl. ibid.).

3.4 Provokation und Skandal

Jochen Mecke behauptet darüber hinaus, dass Michel Houellebecq mit den in seinen Romanen präsentierten Thesen die Absicht der Provokation verfolgt (Mecke, Funktionen 196). Bei der Untersuchung der Literaturskandale um Houellebecq bezieht er zudem die Analyse der Romanform mit ein. Diese Vorgehensweise begründet er damit, dass es nicht die provokanten Thesen Houellebecqs allein gewesen seien, die den Skandal ausgelöst hätten, sondern es sei „die explosive Mischung aus diesen Thesen und der literarischen Form, in der sie präsentiert wurden, welche den Skandal auslösten“ (Mecke, Funktionen 195). Mecke stellt die Behauptung auf, dass Houellebecq eine Strategie anwendet, um sich eine größere Leserschaft zu erschließen, indem er gezielt Literaturskandale auslöst (Mecke, Funktionen 212).

Um sein Anliegen, etwas „über die Atmosphäre und die Gesellschaft seiner Zeit zu sagen“, zu realisieren, bedient Houellebecq sich „eines Realismus“ (Asholt, Rückkehr 102). Neben „direkten Verweisen auf die Wirklichkeit“ bedient er sich einer „Reihe von literarischen Techniken“, die dafür sorgen, „dass die Grenzen zwischen fiktiven und realen Aussageobjekten“ verschwimmen (Mecke, Funktionen 208). Dabei stellt er „einen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit“ her (Mecke, Funktionen 198). Dies erreicht er unter anderem dadurch, dass er reale Orte, reale Straßennamen und Stadtteile sowie Markennamen real existierender, gängiger Produkte verschiedenster Unternehmen oder die Namen real existierender Personen in seinen Romanen verwendet. So tauchen beispielsweise in seinem 2010 erschienenen Roman La carte et le territoire Namen von real existierenden Unternehmen wie der Fast-Food-Restaurantkette McDonald’s (Houellebecq, Carte 45), der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas (Houellebecq, Carte 359) oder Michelin (Houellebecq, Carte 51) auf, wobei die beiden zuletzt genannten eine entscheidende Rolle im Roman spielen. Darüber hinaus verwendet Houellebecq in La carte et le territoire Namen von real existierenden Persönlichkeiten wie Jeff Koons und Damien Hirst (vgl. Houellebecq, Carte 28) oder François Hollande (vgl. Houellebecq, Carte 97). Mit einigen lässt Houellebecq seinen Protagonisten Jed Martin sogar interagieren, wie beispielsweise mit dem Autoren Frédéric Beigbeder (vgl. Houellebecq, Carte 72). Besonders kurios stellt sich die Tatsache dar, dass der Autor selbst als reale Persönlichkeit in seinem Roman auftaucht, indem der real existierende Romanautor Michel Houellebecq mit dem fiktiven Protagonisten Jed Martin interagiert, sich zunächst sogar eine Freundschaft anbahnt und der Autor letztendlich den Mord an sich selbst darstellt (Houellebecq, Carte 329).

[...]

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Der Skandal in Michel Houellebecqs Roman „Soumission“. Analyse von Aspekten und Stilmerkmalen
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Romanische Sprachen und Literaturen)
Veranstaltung
Die Ästhetik des Bösen in der französischen und italienischen Moderne und Postmoderne
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
30
Katalognummer
V306159
ISBN (eBook)
9783668039650
ISBN (Buch)
9783668039667
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Skandal, Literaturskandal, Houellebecq, Soumission, Unterwerfung, Politik, Frankreich, Islamophobie, Charlie Hebdo
Arbeit zitieren
Sara Fischer (Autor:in), 2015, Der Skandal in Michel Houellebecqs Roman „Soumission“. Analyse von Aspekten und Stilmerkmalen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306159

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