Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Zweck und Aufbau
2. Sprachliche und inhaltliche Textanalyse
2.1. Sprache
2.1.1. Attribute und Vulgärsprache
2.1.2. Präsuppositionen
2.1.3. Wortfelder
2.2.3. Die Dreiecksbeziehung
3. Bolanos „2666“ als kosmische Novelle
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung : Zweck und Aufbau
Das erste Buch „La parte de los críticos” des Romans „2666“ von Roberto Bolaño ist größtenteils von der Satire geprägt, eine Textgattung, deren Spektrum die Register spielerisch witzig bis hin zu aggressiv pathetisch abdeckt. Mit der Satire wird die Kritik an der Gesellschaft oder an utopischen bzw. bestehenden Idealen mittels Indirektheit durch Allegorie, Ironie oder Übertriebenheit hervorgehoben (vgl. Schweikle, 2007: 678).
Im Zentrum des ersten Buches stehen die vier Hauptcharaktere, Literaturwissenschaftler verschiedener Nationalitäten, die auf der Suche nach dem deutschen Autor Benno von Archimboldi sind. Sowohl die Literaturkritiker als auch ihre Tätigkeit als Wissenschaftler ist hierbei einer der wesentlichen satirischen Angriffspunkte Bolaños. Den Kontrast zum größtenteils heiteren Verlauf der Geschichte bildet die ausgewählte Textstelle über den Angriff der Kritiker auf einen pakistanischen Taxifahrer (Bolaño, 2004: 101-105). Sie könnte im Vergleich zum restlichen ersten Buch nicht gegensätzlicher sein. Dennoch, und dies macht für mich den Reiz dieser Textpassage aus, schlägt sie auf eine ungewöhnliche Art und Weise die Brücke zum heiteren, satirischen Teil des „La parte de los críticos“. Zentrale Thematiken werden hier in abgewandelter Form neu aufgegriffen und nicht mehr unter dem anfänglichen Aspekt der Unterhaltsamkeit und des Humors behandelt, sondern der Ernsthaftigkeit und der Infragestellung von kulturellen und klassenbedingten Werten.
Um die Attacke auf den Taxifahrer als eines von vielen Puzzlestücken in das große Ganze einfügen zu können, werden neben der ausgesuchten Textstelle weitere verwandte Diskursstränge in „La parte de los críticos“ aufgezeigt. Diese stehen im Zusammenhang mit dem einmaligen Gewalt verherrlichendem Ereignis und werden in den Gesamtkontext eingebettet. Wesentlich für die Textanalyse ist neben Thema und Lexik auch die Sprache, die bezüglich des Gebrauchs von Adjektiven und Adverbien eingehend geprüft wird.
Die Textanalyse erfolgt nach dem Modell von Kirsten Adamzik (Adamzik, 2005) und geht neben der thematischen Dimension näher auf die situative, funktionale und sprachliche Dimension des Textes ein. Zentrale Fragestellungen sind hierbei unter anderem die Frage nach den allgemeinen sprachlichen Besonderheiten sowie den diversen Wortfeldern.
Der Schluss der Arbeit nimmt Bezug auf einen Artikel von Rodrigo Fresán in der spanischen Tageszeitung El País, der auf dem Internetauftritt der Anagrama Verlagsseite online zur Verfügung steht.
2. Sprachliche und inhaltliche Textanalyse
2.1. Sprache
2.1.1. Attribute und Vulgärsprache
Im Rahmen der Textanalyse fällt auf, dass die drei Hauptcharaktere Espinoza, Pelletier und Norton, die nach einem heiteren gemeinsamen Abend eine Taxifahrt durch London unternehmen, mit diversen Attributen (Eigenschaften) belegt werden. Gleiches gilt auch für den pakistanischen Taxifahrer. Diese sollen im Folgenden eingehend untersucht werden. Bolaño nutzt des Weiteren mehrere Ausdrücke der Vulgärsprache, um die Aufgebrachtheit und Wut des Taxifahrers gegenüber den drei Kritikern zu untermalen. Eine Analyse der Wortfelder, semantisch verwandte Lexeme, bildet die Brücke zwischen dem sprachlichen und dem inhaltlichen Teil der Analyse in Kapitel 2.2. Unter „Lexeme“ fallen jene Wörter, die unter einem gemeinsamen Oberbegriff stehen und die sich in ihrer Bedeutung gegenseitig begrenzen (vgl. Adamzik, 2008: 335).
Die Kritiker als auch der Taxifahrer werden anhand von drei ausgewählten Attributen im Anschluss hieran auf ihr Wesen und ihren momentanen (Gefühls-) Zustand geprüft. Dabei zeigen „felices como niños“, „paralizado“ und „triturado“ auf, inwiefern die anfangs ausgelassene Stimmung allmählich in den Hintergrund gerät und im Laufe des verbalen und handgreiflichen Angriffs auf den Taxifahrer die Ernsthaftigkeit der Situation und die Brutalität zunehmen. Kurz vor der Taxifahrt mit dem pakistanischen Fahrer verbringen die Literaturwissenschaftler einen geselligen Abend miteinander und gehen in einer Lokalität essen. Roberto Bolaño beschreibt die drei Kritiker hier mit „felices como niños“ (Bolaño, 2004: 101), das auf Deutsch etwa „glücklich wie die kleinen Kinder“ lauten könnte. Dies mag zum einen an der vorherigen Aussprache zwischen den zwei Liebhabern Espinoza und Pelletier mit Liz Norton über ihre Gefühle bezüglich eines möglichen dritten Nebenbuhlers liegen, „[…] le preguntaron a Norton […], si esta, […] amaba o quería a Pritchard.“ (Bolaño, 2004: 101). Zum anderen amüsieren sich die drei Kritiker wohl auch aufgrund ihres hohen Alkoholkonsums, der an diesem Abend bemerkenswert hoch ist, „y los tres bebieron más de la cuenta“ (Bolaño, 2004: 101).
Auf der Taxifahrt durch London kommt es schließlich zum Disput zwischen den drei angeheiterten Kritikern und dem pakistanischen Taxifahrer, die sich in Folge dessen verbal attackieren. Die Beleidigungen des Pakistani wie „Norton, carecía de decencia y de dignidad“ oder „perra o zorra o cerda“ (Bolaño, 2004: 102) überraschen Norton und auch Pelletier so sehr, dass sie vor Erstaunung nahezu gelähmt sind, „tal vez aún paralizados por la injuriosa sorpresa” (Bolaño, 2004: 101).
Dieser Zustand der Perplexität ist nicht von langer Dauer, denn kurz darauf folgt bereits der gewalttätige Übergriff auf den Pakistani, der den Männern in Überzahl, Espinoza und Pelletier, hilflos ausgesetzt ist. Auf Seite 105 erhält der Taxifahrer den Zusatz „triturado“ (zermalmt), der ausdrückt, wie brutal sich die Attacke auf den blutenden und halb bewusstlosen Mann abgespielt haben muss. Dies verdeutlicht auch „hasta dejarlo inconsciente y sangrando por todos los orificios de la cabeza“ (Bolaño, 2004: 103), wo von blutenden Körperöffnungen die Rede ist.
Während die Literaturwissenschaftler ihren Intellekt durch eine bedachte Wortwahl wie „tropo“ (Bolaño, 2004: 102) oder „su asqueroso vehículo“ (ebd.) ausdrücken, nutzt der Taxifahrer die gesamte Bandbreite an vulgären Ausdrücken, um sich gegenüber Liz und ihren beiden Liebhabern zu behaupten. Er bezeichnet Liz Norton als „puta“ und auch als „perra o zorra o cerda“ (Bolaño, 2004: 102). Die beiden Männer vergleicht er mit „chulos o macarras o macrós o cafiches“ (ebd.). Diese Reihe von derben und ordinären Ausdrücken reflektiert nicht nur die Wut auf die Intellektuellen, sie ist des Weiteren auch Zeichen der unterschiedlichen Herkunft des Taxifahrers und der Kritiker. Bolaño nutzt die abweichenden Sprachregister als Abbildung sozialer Beziehungen, indem er die Europäer Norton, Espinoza und Pelletier mit ihren Fachbegriffen auf eine andere Sprachebene stellt als den Taxifahrer „en su lengua incomprensible“ (Bolaño, 2004: 102).
2.1.2. Präsuppositionen
Der Extremfall des logisch Implizierten, die Präsupposition, definiert sich als eine Aussage, auf deren Gültigkeit sich der Sprecher festlegt, ohne sie explizit geäußert zu haben (vgl. Adamzik, 2008: 238). Dieser sprachlichen Besonderheit bedient sich auch Bolaño des Öfteren, um den Intellekt und die extreme Belesenheit der Kritiker hervorzuheben. Allein auf den Seiten 101 bis 105 findet eine Vielzahl von Namen wie Borges, Dickens, Stevenson, Salman Rushdie oder Valerie Solanas Erwähnung. Diese werden nicht näher erläutert oder in den Kontext mit der Gesamtsituation gestellt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Leser ohne großes Literatur- und Allgemeinwissen ohne weiteres die Eigennamen miteinander in Verbindung bringen kann. Dafür ist Wissen nötig, das letztendlich auch den Gesamtkontext des Romans „2666“ besser erschließen ließe. In der ausgewählten Textpassage ist die Rede von „el laberinto que era Londres había conseguido desorientarlo“ (Bolaño, 2004: 102). Der Vergleich Londons mit einem Labyrinth ist hier keine neue Metapher, sondern beruht auf Dickens und Stevenson sowie Borges, die London aufgrund des Straßenwirrwarrs mit einem Labyrinth gleichstellten. Die Präsupposition wird jedoch geschwächt, da der Erzähler über die Charaktere Espinoza und Norton den Leser bereits darauf aufmerksam macht, inwiefern Borges und das Labyrinth London im Zusammenhang miteinander stehen, „[…] coño, claro, había citado a Borges, que una vez comparó Londres con un laberinto“ (Bolaño, 2004: 102).
Anders sieht es auf Seite 103 aus, wo Espinoza und Pelletier im Akt der Gewaltekstase dem Taxifahrer einen Hieb für Salman Rushdie und einen weiteren vom Geiste Valerie Solanas austeilen. Rushdie als „autor que ambos, por otra parte, consideraban más bien malo, pero cuya mención les parecío pertinente” (Bolaño, 2004: 103) erhält zwar einen Zusatz in Klammern, dieser erklärt jedoch die Beziehung der beiden Kritiker zum Schriftsteller und nicht die Person selbst. Um in Erfahrung zu bringen, dass es sich bei Salman Rushdie um einen indischen Schriftsteller handelt, der wegen angeblich blasphemischer Passagen über den Propheten Mohammad in seinem Roman „Satanic Verses“ (vgl. Der Spiegel, 1989) weltweit zur Verfolgung ausgerufen wurde, muss sich der Leser auf eigene Informationensuche begeben. Der Name Valerie Solanas wird ohne eine weitere Erläuterung in den Raum gestellt. Somit erwartet Bolaño auch hier ein gewisses Maß an Vorwissen bezüglich des Männerhasses von Solanas und ihrem SCUM Manifest zur Vernichtung der Männer aus dem Jahr 1967 (vgl. König / Jung, 2003).
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