Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Tod steckt im Detail: Irritationen und ‚Leerstellen’ im Nachsommer -Idyll
2.1 Die äußere Welt: Gesellschaft und Natur
2.2 Die Kunst und die innere Welt der Leidenschaft
2.3 Tote Handlung, tote Sprache – Harmonisierungsstrategien
3 Gegenentwurf zum Gegenentwurf: Risachs Leben
4 Zum Schluss: Was bleibt am Ende des Nachsommers
5 Bibliographie
1 Einleitung
Adalbert Stifters Nachsommer ist todlangweilig. Das, was gemeinhin als langweilige Erzählweise empfunden wird – Armut an konfliktreicher Handlung, spröde Dialoge, ‚aufgesetzte’ Sprache, endlose Landschaftsbeschreibungen – das findet sich im Nachsommer wieder und wird hier bewusst eingesetzt, um etwas zu schaffen, dass vielleicht nicht als langweilig, wohl aber als spannungsarm und ‚kurzweilig’ intendiert ist.
Das erste Gespräch zwischen den zukünftigen Eheleuten Natalie Tarona und Heinrich Drendorf dürfte für viele Leser an Ödnis kaum zu überbieten sein:
„[...] Die Gesträucher an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die Felder legen, ein Birkenwäldchen mit den kleinsten Dingen, die unter seinen Stämmen wachsen […] und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht heraufsehen, hat man unmittelbar vor Augen. […] Hier gerade ist so eine Schlucht, wie ich sprach.”
Wir blieben ein Weilchen stehen und sahen in die Schlucht hinab. Beide sprachen wir gar nichts. Endlich fragte ich sie, woher sie denn wisse, daß ich die spanische Sprache lerne. (355)[1]
Was passiert hier? Oberflächlich nicht viel, zwei Leute unterhalten sich über die Vorzüge der Gebirgslandschaft und ergehen sich in geteilter Kontemplation. Liest man diese Szene jedoch im Kontext der gesamten Erzählung, weiß man intuitiv um den außerordentlichen Ton, der hier mitschwingt: Das gemeinsame Starren in die Schlucht der zwei jungen verliebten Leute und die darauffolgende Sprachlosigkeit haben wenig mit der üblichen harmonischen Ruhe zu tun, die dem Text innewohnt. Hier machen sich buchstäblich Abgründe auf: Dort unten brodeln die äußerlich durch die Schlucht versinnbildlichten, unterdrückten Ängste, Triebe und Leidenschaften, die im Innern der Figuren und unter dem Konstrukt der ‚heilen Welt’ verschüttet liegen. In Szenen wie dieser erlaubt uns der Text ganz sacht einen tieferen Einblick. Was wir vorfinden, wird umso erschreckender, weil gerade an dieser glatten Oberfläche [der Rosenhaus-Welt], die dicht und ohne Unterbrechung zu sein hat, das Auge sich, durch die an ihr erlebten Langeweile, für die kleinsten Risse und Brüche, die sich bedrohlich und bodenlos zeigen, schärft. (Langenbacher 1987: 491)
Es sollen in dieser Arbeit diese Brüche, Risse, Irritationen, also ‚Leerstellen’ untersucht werden, welche die erzählte Welt des Nachsommers durchziehen. Sie geben Aufschluss darüber, was im Sumpf von Leidenschaft und Tod, über welchem die Nachsommer -Welt ihre wackeligen Pfähle baut, versenkt worden ist. Denn es sind diese Leerstellen, die dem Werk seine anhaltende Aktualität verleihen und sie sind es auch, die uns für die Langeweile ‚entschädigen’[2]. Ich möchte also zunächst versuchen, im Folgenden eine Sammlung und Analyse dieser Leerstellen zu unternehmen. Von dort ausgehend wird kurz auf den Lebensrückblick Risachs und dessen außerordentliche Rolle innerhalb der Erzählung einzugehen sein, um dann zum Schluss die Frage zu stellen, was von der idyllischen Konstruktion eigentlich bleibt am Ende der Erzählung, oder: Was kommt nach dem Nachsommer ?
2 Der Tod steckt im Detail: Irritationen und ‚Leerstellen’ im Nachsommer -Idyll
„Einfachheit, Halt und Bedeutung” (679) sind die programmatischen Schlussworte des Nachsommers und die Wegpfeiler zu diesem „größere[n] Glück” (679), wie es Stifter durch seinen Ich-Erzähler, Heinrich Drendorf, propagiert. Welche Eigenheiten muss nun eine Welt aufweisen und welche Maßnahmen müssen innerhalb dieser Welt getroffen werden, um die Grundlagen zu schaffen für dieses „reine Familienleben, wie es Risach verlangt” (679)? Denn die Familie und die Liebe – freilich „gereinigt von jeder Leidenschaft, von jedem erotischen Affekt, von jedem körperlichen Verlangen” (Matz 2005: 28) – sind es, welche die oben genannten biedermeierlichen Maximen garantieren sollen.
Es muss eine sterile, abgeschlossene Welt sein. Alle Handlungen müssen dahingehend orientiert sein, dass alles so bleibe, wie es ist; das heißt, sobald ein Idealzustand erreicht ist, darf Handlung nur noch in der exakten Wiederholung ihrer selbst stattfinden, da sich sonst Veränderungen und damit Konflikte einstellen können, welche die Welt ins Ungleichgewicht bringen würden. So funktioniert das Nachsommer -Idyll, wie vielerorts besprochen[3].
Wohl kaum ein zweiter >utopischer< Roman arbeitet mit solcher Akribie daran, die Spuren seiner auslösenden und grund-legenden Konflikte hinter sich zu verwischen. (Begemann 1995: 326)
Der Pädagoge Stifter kann allerdings nicht die gesamte Romanwelt als Idyll modellieren: Er braucht die verkommene Gesellschaft, braucht den tosenden Zeitgeist, um zu zeigen, dass sein Programm von Wert ist. Deshalb lässt er den Freiherrn von Risach eine Parallelwelt aufbauen, wo das Ideal vorgelebt werden kann, umringt vom Rest der Welt. Auf ihn kann durch Vorbildfunktion sanfter Einfluss genommen werden (z. B.: „’[...] Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein [...]’”, 113).
Stifter war der Auffassung, „daß er den Roman gegen seine Zeit geschrieben habe“ (Japp 2005: 756). Vordergründig wird dieses Konstrukt so zu einem Bollwerk gegen die von Stifter empfundene Dekadenz seiner Zeit. Hintergründig, oder besser ‚untergründig’, ist aber Stifters „Grauen vor dem Dunkel der Welt” (Matz 2005: 28), also das Grauen vor Chaos und Tod, die Triebfeder seiner literarischen ‚Exzesse.
Harmonie, aber um welchen Preis! Alles was im Menschenleben Konflikte und Widerspruch schafft, ist hier verbannt, nichts bleibt, was Störung bringen könnte. Die Versöhnung im Kunstwerk ist nur durch dessen völligen Realitätsverlust erreicht. (Matz 2005: 29)
Dass eine Utopie nicht originär ‚realistisch’, also wirklichkeitsgetreu sein kann, liegt wohl in ihrem Wesen. Hierdurch leidet der Text natürlich an Authentizität, insbesondere dann, wenn grundlegende Aspekte der Realität ausgespart bleiben, ohne ihre Abwesenheit zu begründen. Im Nachsommer werden alle negativen Affekte des menschlichen (Zusammen)Lebens getilgt: Krieg, Hass, Qual, Ausbeutung, Elend, Armut, Wahnsinn, Krankheit – all diese Elemente unserer Lebenswirklichkeit spielen nicht nur keine Rolle, sie scheinen gar nicht zu existieren[4].
Auch der Tod oder die Angst vor ihm findet keine ernsthafte Erwähnung. Niemand stirbt, es wird allerhöchstens darüber gesprochen, dass irgendwann einmal gestorben wird oder wurde. Dabei geht es fast immer um das daraus resultierende Erbe[5]. So tritt der Tod immer nur in floskelhafter Erscheinung auf und wird stets gekoppelt mit der tröstenden Idee der Weitergabe der eigenen Werte, Güter und Erfahrungen an die Kinder. Floskelhaft erscheint auch die Aussage Heinrichs, Natalie „in tausend Leben, die nach tausend Toden folgen mögen, immer lieben zu können” (466). Risach, auf die nötige Lebenserfahrung zurückgreifend, geht ein Wenig tiefer:
„’[...] Sie mögen nun bleiben, wie sie sind und wo sie sind, bis ich scheide. Selbst der Gedanke, daß ein Nachfolger die Bilder so lasse und sie ehre, wie sie hier sind, hat für mich etwas sehr Angenehmes, obwohl er töricht ist und ich ihm aus dem Wege gehe; denn darin besteht das Leben der Welt, daß ein Streben und Erringen und darum ein Wandel ist, welcher Wandel auch hier eintreten wird. [...]’” (325)
Auch hier geht es um „das Bündnis über die Generationsgrenzen hinweg und gegen die individuelle Vergänglichkeit […], [den] Trost im Bewußtsein der Erben” (Matz 2005: 32). Risach räumt jedoch ein, dass dieser Gedanke falsch sei, da die Welt im stetigen Wandel begriffen sei. Das ist erstaunlich, insbesondere weil von Wandel die Rede ist, in einer Welt die so angelegt ist, um eben diesen zu unterbinden: Natalie und Heinrich wurden nicht dazu erzogen, autonom Veränderungen herbeizuführen, auch nicht im Kleinsten (vgl. 677, wo die Frischvermählten angeben, „keine Veränderung in allem, wie es sich in dem Hause und in der Besitzung vorfindet, machen [zu] wollen”).
Der Tod wird also als Abstraktum beiseitegelassen. Die Bewohner der Rosenhauswelt befassen sich – wenn auch auf hochtheoretischem Niveau – eher mit handfesten Dingen: dem Kunsthandwerk, der Geologie, der Musik und so weiter. Da verwundert es nicht weiter, dass Philosophie und Theologie (die sich mit metaphysischen Fragen auseinandersetzen) nicht Teil dessen sind, wonach es als „Wissenschaftler im allgemeinen” (15 f.) zu forschen gilt. Das Wort ‚Philosophie’ taucht nur ein einziges Mal in einem Diskurs Risachs auf, wo er sogleich einer harten Kritik unterzogen wird[6]. Man erfährt auch wenig über die religiöse Einstellung der Figuren[7]. Oft wird auf Gott referiert als wohltätigen Schöpfer der Natur (vgl. 57) und Lenker des Schicksals (vgl. 17), aber auch er verbleibt in der Konstruktion der Rosenhauswelt in einer unscharfen Umrissenheit, die in Bezug auf den Tod keinen Halt zu geben vermag.
In seinem Werk gibt es keine Auferstehungsgewißheit gegen die Macht der ewigen Vergängnis […] und doch war sein ganzes Schaffen darauf gerichtet, ein System menschlicher Gemeinschaft zu konstruieren, aus dem alles verbannt wäre, was Teil des feindlichen Prinzips ist. (Matz 2005: 25)
Das ‚feindliche Prinzip’ lässt sich zwar aussparen. Doch aussperren lässt sich die Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens angesichts der einzigen unumstößlichen Konstante im menschlichen Dasein nicht. Man spürt, in allerletzter Konsequenz stellt Stifter mit dem Nachsommer immer auch die Theodizee-Frage – nicht weil er das will: Auch wenn der Text sich wehrt, sich krümmt und windet, am Ende bricht die idyllische Welt immer wieder auf. Der aufmerksame Leser kann mithilfe dieser Bruchstellen das Idyll ‚dekonstruieren’ und den Text so besser verstehen.
2.1 Die äußere Welt: Gesellschaft und Natur
Im Nachsommer sind alle konfliktträchtigen, interaktiven Kräfte des gesellschaftlichen Lebens gebannt. Ermöglicht wird das durch eine apolitische Einstellung, eine soziale Abgrenzung und die ökonomische Unabhängigkeit aller beteiligten Figuren. Die selbstgewählte gesellschaftliche Isolation spiegelt sich architektonisch in Risachs Landsitz wider: Fernab der Städte in den Bergen gelegen, „durch Hügellage exponiert und durch ein Gitter einerseits und eine verschließbare Planke andererseits ‚von der Umgebung getrennt’” (Begemann 1995: 327). Der versteckte Zugang ist eine „Tür, die dem Gitter so eingefügt war[], daß sie von demselben bei dem ersten Anblick nicht unterschieden werden konnte[]” (40).
[...]
[1] Alle Nachsommer -Zitate in dieser Arbeit stammen aus der Goldmann-Ausgabe von 1999 (Stifter 1999). Die zugehörigen Seitenzahlen werde ich in runden Klammern hinter dem Zitat angegeben.
[2] Zu dieser Ambivalenz zwischen Langeweile und Genuss siehe Wildbolz (1976: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination) und Langenbacher (1987: „Die Unlust am Text. Behagen und Unbehagen bei der Lektüre von Stifters ‚Nachsommer’”).
[3] Bei Begemann (1995: 323) findet sich eine Übersicht zu den verschiedenen Sekundärtexten, welche sich mit der Frage nach der ‚idyllischen’ bzw. ‚utopischen’ Komponente des Textes befassen.
[4] Bei diesen Ausführungen beziehe ich mich (wie im gesamten Kapitel 2) ausschließlich auf die Verfasstheit der Rosenhaus-Welt, soll heißen, die negativen Lebenserfahrungen Risachs werden hier nicht miteinbezogen. Diese werden im Kapitel 3 separat besprochen.
[5] „’Diese Kunstwerke […] werdet ihr […] nach unserem Tode […] empfangen […].’ Wir antworteten auf diese Rede nichts” (373); „In dieser Zeit starb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die Mutter erbte den Schmuck […], wir Kinder aber sein übriges Vermögen” (15); „’[...] Wenn ich sterbe oder freiwillig aus den Geschäften zurücktrete, so werdet ihr beide auch noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten [...]’” (30).
[6] „[Über die] Philosophie […] muß ich Euch sagen, [...] daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte [...]. Ich […] habe mich zu viel mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne gegebene Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar widerwärtig.”
[7] Eine Ausnahme ist hier Heinrichs „inbrünstiges Gebet zu Gott, dem ich alles und jedes, besonders mein Sein und mein Schicksal und das Schicksal der Meinigen, anheim stellte. / Dann entkleidete ich mich, schloß die Schlösser meiner Zimmer ab und begab mich zur Ruhe” (204). Es handelt sich hierbei um den Abschlusspunkt einer Reihe von Irritationen: Nach der ersten Begegnung mit Natalie scheint Heinrich sehr verändert. Er ist „sehr befangen und konnte kein Wort hervorbringen” (194) und am Ende des Tages sogar „sehr traurig” (203) – ein Unicum von Gefühlsäußerung im gesamten Text! Dort brodelt die Leidenschaft! Das macht Angst und gemahnt an die Vergänglichkeit. Deshalb das Gebet und das ungewöhnliche Abschließen der Tür.