Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erinnerte Bewegung
Archivierter Tanz
Die Rekonstruktion
Das Reenactment
„50 ans de danse – 50 years of dance“
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Ich hebe einen Arm. Eine ganz schlichte Bewegung. Doch was passiert wenn ich versuche mich der Bewegung zu erinnern und sie zu wiederholen oder sie sogar an eine zweite Person weitergeben will? Wie kann ich sie beschreiben oder dokumentieren und wie vor allem geht diese Person mit dem Material um, das ich Ihr vermittle? Wie steht die von Ihr daraufhin produzierte Bewegung zu meiner? Wie steht ein Arm zum Anderen? Ein Körper zum Anderen?
Das sind Fragen die unweigerlich bei der Beschäftigung mit tänzerischen Reenactments auftauchen. Annemarie Matzke schreibt hierüber: „Es ist die Geste des Bewahrens selbst, die immer etwas anderes hervorbringt, als das was bewahrt werden soll, die hier zur Aufführung kommt.“[1]
Diese „Geste des Bewahrens“ sowie das daraus resultierende Ergebnis sollen hier anhand von Beispielen untersucht werden. Von dem Akt der Erinnerung einer Bewegung, sowie deren versuchte Archivierung zu einem (Neu-)Tanzen hin.
Ausgehend von der Untersuchung wie Bewegung erinnert wird, werde ich, anhand der Derra de Moroda Dance Archives, ein Tanzarchiv vorstellen.
In der Betrachtung des (Neu-)Tanzens möchte ich die Unterscheidung zwischen der Rekonstruktion und des Reenactments herausarbeiten, um das Reenactment, ein schwer zu fassender Begriff, besser definieren zu können.
Hierbei verwende ich die Begriffe der Rekonstruktion und des Reenactments nach Annemarie Matzke, worauf ich noch genauer eingehen werde.[2]
Darüber hinaus möchte ich, anhand der Arbeit „50 ans de danse – 50 years of dance“ von Boris Charmatz, die Herausforderungen im tänzerischen Reenactment im Umgang mit archivarischen Material, die durch die Schwierigkeiten im Umgang mit der Flüchtigkeit der Bewegung einhergehen, erläutern.
Wenn ich in dieser Arbeit von „Tanz“ schreibe, so meine ich nicht nur den klassischen Kunsttanz oder Tanz, der auf die Bühne gebracht wird, sondern den Körper in Bewegung, ganz gleich in welcher Form.
Erinnerte Bewegung
In der Antike galt das Erinnern als eine Kunst. Die damals entwickelte Ars Memoriae, eine Mnemotechnik, funktioniert über visuelle Erinnerung. Hierbei werden Erinnerungen an Zeichen, Orte, Bilder oder Dinge geknüpft um das Erinnern zu erleichtern. Das heißt, zusätzlich zu dem natürlichen internen Gedächtnisvorgang, einen externen Gedächtnisort zu schaffen, über welchen sich erinnert werden kann.[3]
Unter den Begriff des externen Speichermediums fallen also nicht nur nicht-organische Speichermedien, wie Computer, schriftliche Aufzeichnungen und Bilder sondern auch künstlich hergestellte, an Orte/ Dinge gekoppelte, Erinnerungen.
Doch wie sieht es mit dem erinnern von Bewegung aus? Was passiert beim Tanzen einer Choreografie? Oder beim schlichten wiederholen einer alltäglichen Bewegung?
Stephan Brinkmann, der viele Jahre beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch tanzte und sich in seiner Dissertation mit Gedächtnisformen im Tanz beschäftigt, schreibt, dass Bewegung nicht im künstlichen Gedächtnis gespeichert werden kann, da sie nicht an Orte oder statische Bilder gekoppelt ist.[4]
Bewegungen finden immer zwischen den Orten statt. Sie sind nie an einen festen Ort gebunden oder als Bild greifbar, sondern immer flüchtig, also nie eine rein visuelle Erinnerung.
Somit fällt der Erinnerungsprozess im Tanz in den Bereich des natürlichen internen Gedächtnisses welches nicht erlernt und sowohl geistig als auch motorisch ist.
Die Bewegung wird vor allem über den Körper erinnert, gespeichert und wiedergegeben. Der Körper (intern) ist hier das Speichermedium. Somit wird der Tanz selbst zum „Akt des Gedächtnisses“[5]. Hierbei spielen räumliche Vorstellung und zeiltlich-dynamisches Erleben die Hauptrolle, was nicht durch ein externes Gedächtnismedium gespeichert werden kann.
Wenn es nun um die Tradition oder Re-Konstruktion im Tanz geht so wird dieses Bewegungsgedächtnis zum Problem. Denn, wird über den Körper erinnert, so ist diese Erinnerung an einen individuellen Körper geknüpft und kann nicht technisch kopiert werden.[6] Der Körper ist das Archiv der Bewegung. Verändert sich der Körper der TänzerInnen, so verändert sich die erinnerte Bewegung. Stirbt der Körper, der hier Ort des Gedächtnisses ist, so nimmt er die Bewegung mit.
Doch was passiert, wenn man eine Bewegung auf einen anderen Körper überträgt? Oder nach dem Tod einer Choreografin oder eines Choreografen das immaterielle Erbe verwaltet?
Im Vergleich zu externen Gedächtnisspeichern bei welchen die Informationen weitgehend unverändert bleiben ist das Bewegungswissen in permanenter Veränderung. So stellt sich sie Frage ob es überhaupt möglich ist, dieses Wissen zu speichern und damit zu arbeiten.
Dieser Herausforderung, den Umgang mit flüchtigem Bewegungswissen, den Versuch Bewegung über externe Medien zu speichern und zu bewahren, haben sich die Tanzarchive angenommen, welche oftmals Ausgangspunkt für ein (Neu-)Tanzen und (Neu-)Denken sind.
Archivierter Tanz
Die Tanzwissenschaft bewegt sich immer zwischen Theorie und Praxis. So sind auch Tanzarchive nicht mit dem gängigen Begriff des starren Archivs zu vergleichen, sondern, allein schon durch das Thema der Betrachtung, bewegt. Tanz als performative Kunstform, als bewegte Kunstform, und wissenschaftliche Archivierung erzeugen eher eine Spannung als einen Widerspruch.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die Derra de Moroda Dance Archives in Salzbung. In diesem Archiv, gegründet von der Tänzerin und Sammlerin Friderica Derra de Moroda (1897-1978), sind Informationen in unterschiedlichster Form zum Thema „Körper in Bewegung“ gesammelt. Was es von den meisten anderen Tanzarchiven unterscheidet, ist die chronologische Ordnung nach Erwerbsdatum.[7]
Somit findet keine Ausgrenzung oder Wertung von verschiedenen Themengebieten statt. Es gibt keine Trennung von Neu und Alt oder von Ballett und Ausdruckstanz und der Bewegung des Körpers im Allgemeinen.
Es wird keine lineare Tanzgeschichte des Kunsttanzes aufgezeichnet, wie es oft in solchen Archiven passiert, sondern Material, was weitestgehend mit Bewegung zu tun hat, kommt an einem Ort, in einer fast willkürlichen Ordnung, zusammen.
[...]
[1] Vgl.: Matzke, Annemarie: „Bilder in Bewegung bringen. Zum Reenactment als politischer und choreografischer Praxis“, in: Roselt, Jens / Otto, Ulf (Hg.): „Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven“, Bielefeld 2012, S.136.
[2] Vgl.: Ebd., S.128ff.
[3] Vgl.: Brinkmann, Stephan: „Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz“, (Diss. Hamburg 2013) Bielefeld 2013, S.8f.
[4] Ebd., S.9.
[5] Ebd., S.11.
[6] Matzke 2012, S.126.
[7] Vgl.: Backoefer, Andreas: „Beyond Reproduction. Körper-Bewegung-Kritik“, in: Backoefer, Andreas / Haitzinger, Nicole / Jeschke, Claudia (Hg.): „Tanz und Archiv: ForschungsReisen. Reenactment“, Heft 1, München 2009, S.13.