„Individualisierung “, „Biographisierung der Lebensführung“, „De-Institutionalisierung des Lebenslaufs“ oder dramatischer: „der flexible Mensch“. Das sind nun schon seit zwei Dekaden zentrale Begriffe des soziologischen Outputs zur Frage, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft in der späten Moderne zu denken sei. Es geht um die Frage, wie sich Personen in komplexer gewordenen Institutionenlagen zurechtfinden (müssen) – mangels verlässlicher sozialer Orientierungsleistungen, die ein Leben im Spannungsfeld diffuser sozialer Anforderungen als Lebenszeit sinnvoll steuernde ‚Ablaufskripte’ zu ‚leiten’ in der Lage wären.
Biographie- und lebenslauftheoretische Fragen gewinnen vor diesem Hintergrund an gesellschaftstheoretischem Interesse. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass in Gesellschaften der späten Moderne Konzepten vom „Individuum“ oder „Subjekt“ besondere Bedeutung zukomme. Beim Versuch, dies gesellschaftstheoretisch genauer zu fassen, zerfließt dieser Konsens allerdings in eine Vielzahl unterschiedlicher und unterschiedlich präziser theoretischer Ansätze. Neben der sicherlich populärsten These von der „Individualisierung“ stehen weitere Ansätze aus den Feldern der Biographieforschung, der Systemtheorie, von den Theoretikern der ‚Post-Moderne‘ und nicht zuletzt figurationssoziologische Ansätze.
Die Arbeit gibt einen kurzen sensibilisierenden Überblick über dieses Themenfeld, um dann einen eigenen Entwurf vorzuschlagen, der im Kern biographietheoretische Überlegungen mit den Mitteln der Theorie autopoietischer Systeme reformuliert. Im Zentrum steht so gewissermaßen der Versuch einer systemtheoretisch inspirierten Phänomenologie biographischer Selbstvergegenwärtigung. Biographie wird dabei als ‚Schnittstelle‘ gedacht, die einerseits als Form und Grammatik sozial forciert wird, andererseits aber konsequent als eine elaborierte Form der Selbstbeschreibung selbstreferentieller Bewusstseine zu denken ist.
Ein weiteres Thema sind die trügerischen Freiheiten in spätmodernen Gesellschaften, die aus der Umstellung von sozialstruktureller Kontrolle auf biographische Selbstkontrolle der Bewusstseine als ‚soziales‘ Medium der Integration (in sozialwissenschaftlichen wie lebensweltlichen Diskursen) kommuniziert werden. Gibt es – um freilich ohne habermassche Theorie, aber in seinen Worten zu fragen – Sphären zur Formierung einer kommunikativen, ‚vernünftigen‘ Identität?
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Die (Vor-) Geschichte der Biographie - Eine historische und gesellschaftstheoretische Sensibilisierung zur Tragweite biographischer Fragen
- 1. LEBENSLAUF, INDIVIDUALISIERUNG UND BIOGRAPHISIERUNG
- 1.1 Institutionalisierung des Lebenslaufs: Verlagerung von,horizontaler' zu, temporaler' Integration und die Entdeckung des Individuums
- 1.2 Die Ambivalenz von Individualitätssemantik und Institutionalisierung individueller Verantwortung im Schema des Normallebenslaufs
- 1.3 De-Institutionalisierung der Normalbiographie und Biographisierung als neues institutionalisiertes Handlungsschema
- 2. INDIVIDUALISIERUNG UND DIE EROSION DES BIOGRAPHIESCHEMAS? ZUR VERINNERLICHUNG DES ENTSCHEIDUNGSZWANGES
- III. Biographische Identität und die Autopoiesis des Bewusstseins - Wie entsteht Identität?
- 1. IDENTITÄT DES BEWUSSTSEINS? IDENTITÄT UND SOZIALITÄT AUS DER PERSPEKTIVE DES BEWUSSTSEINS
- 1.1 Zeiterleben - Denken braucht nicht nur Zeit, es macht Zeit und kommt dadurch zu sich!
- 1.2 Erfahrung, Sinn und Identität: Umgänge mit der Paradoxie der Selbstthematisierung
- 2. SEMANTISCHE UND SOZIALSTRUKTURELLE KONTEXTE MODERNER, TEMPORALISIERTER SELBSTBESCHREIBUNG
- 2.1 Biographische Identität
- IV. Biographie und Gesellschaft
- 1. HOMOLOGIE VON, GELEBTEM' UND, ERZÄHLTEM LEBEN'?
- 1.1 Biographische Illusionen?
- 1.2 Sind narrative biographische Selbstdarstellungen, blind' für gelebtes Leben?
- 2. BIOGRAPHISCHE REFLEXIVITÄT, BIOGRAPHISCHES WISSEN UND IM OPERIEREN KONDENSIERTER SINN
- 2.1 Identität als „tacit continuity“
- 2.2 Selbstreferenz und Sozialität
- 2.3 Biographische Konstruktionen als reflexive Thematisierung von Identität: Wie aus vorreflexivem Kondensieren von Sinn reflexive Identität wird
- 3. ,KO-KONSTRUIEREN' BIOGRAPHISCHEN SINNS: BIOGRAPHIE DES BEWUSSTSEINS, BIOGRAPHISCHE KOMMUNIKATIONEN UND SOZIALE SINNHORIZONTE MÖGLICHER IDENTITÄT
- 3.1 Personale Identitäten als Identität im Präsens - Beschleunigung des Umgangs mit Individuen als, situative' Personen
- 3.2 Alltagsweltlicher Sinnhorizont biographischer Identität: Kommunikation biographischer Perspektiven
- 3.3 Wie kommen Personen in, Teilsystemen' vor? Identität unter dem Druck von Karrieremustern und Systemsemantik vs. Alltagsweltliche Sinnhorizonte möglicher Identität?
- V. Resümee und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Hausarbeit befasst sich mit dem komplexen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der späten Moderne und untersucht, wie sich „biographische Identitäten“ als Schnittstelle zwischen beiden Sphären konstituieren. Die Arbeit beleuchtet die Entwicklung des Lebenslaufs als „sozialweltliches Orientierungsmuster“ und analysiert, wie Individualisierung und Biographisierung den Umgang mit dem Entscheidungszwang prägen.
- Die Dynamik von Individualisierung und Biographisierung im Kontext der De-Institutionalisierung des Lebenslaufs
- Die Rolle des Bewusstseins bei der Konstruktion von biographischer Identität und die Prozesse der Selbstthematisierung
- Die Bedeutung von Erfahrung und Sinn im Kontext der biographischen Selbstbeschreibung
- Das Verhältnis von biographischen Konstruktionen zur Alltagserfahrung und die Funktion biographischer Kommunikationen
- Die Herausforderungen und Möglichkeiten der biographischen Identitätssicherung in einer komplexen Gesellschaft
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel II beleuchtet die Entwicklung des Konzepts der Biographie im historischen und gesellschaftstheoretischen Kontext. Die zentrale Argumentation ist, dass die Individualisierung und die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Moderne zur Entstehung des sozialen Konstruktes „Biographie“ als Form der Selbstbeschreibung und -verortung des Individuums geführt haben. Die Frage, wie die Individuen in einem komplex gewordenen Umfeld, das ihnen keine eindeutigen Orientierungspunkte bietet, ihr Leben sinnvoll gestalten können, wird hier erstmals thematisiert.
Kapitel III fokussiert auf die Frage, wie sich biographische Identität im Bewusstsein konstruiert. Dabei werden die Prozesse der Selbstthematisierung und die Rolle von Erfahrung und Sinn für das Entstehen von biographischen Selbstbeschreibungen beleuchtet. Der Sinnbegriff von Niklas Luhmann wird als zentrale analytische Kategorie herangezogen, um die Frage zu beantworten, wie sich die gesellschaftliche Struktur in den biographischen Konstruktionen des Individuums ausdrückt. Es wird argumentiert, dass Identitätsicherung in modernen Gesellschaften als biographische Leistung verstanden werden muss, die sowohl Aufschluss über die subjektiv verarbeitete soziale Realität liefert, als auch Erkenntnisse über die Verfassung moderner Gesellschaften selbst bietet.
Kapitel IV beschäftigt sich mit der Frage, wie biographische Konstruktionen zur Alltagserfahrung in Beziehung stehen, was unter biographischen Konstruktionen und biographischem Wissen verstanden wird und wie sich das Bewusstsein in die Gesellschaft übersetzt. Es werden die Begriffe biographische Reflexivität, biographisches Wissen und biographische Kommunikationen eingeführt und verschiedene Differenzierungsversuche unternommen, um das Zusammenspiel von individuellem Handeln und gesellschaftlicher Struktur zu analysieren.
Schlüsselwörter
Die Arbeit widmet sich den Themen Individualisierung, Biographisierung, De-Institutionalisierung des Lebenslaufs, biographische Identität, Autopoiesis des Bewusstseins, Selbstthematisierung, Erfahrung, Sinn, biographische Konstruktionen, biographisches Wissen, biographische Kommunikationen und die Interdependenzen zwischen individueller Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Strukturen. Die Arbeit greift auf Konzepte von Niklas Luhmann, Ulrich Beck, Hartmut Esser und anderen einflussreichen Soziologen zurück.
- Arbeit zitieren
- Thomas Göymen (Autor:in), 2004, Biographische Einblicke in die Gesellschaft - "Biographische Identitäten" als Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30748