Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Skandierung und Übersetzung
2.2 Metrische Analyse
2.2 Kommentierte Übersetzung
3 Interpretation
3.1 Einordnung und Vorgeschichte
3.2 Latonas Appell an die Bauern
3.3 Die Reaktion der Bauern
4 Die Lykischen Bauern als Metapher
4.1 Die Metapher auf die Dichtkunst
4.2 Die Metapher politischer Präferenzen
5 Schlussbetrachtung
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Im sechsten Buch seiner Metamorphosen berichtet Ovid vermehrt von menschlicher Hybris. Im Gegensatz zu vorhergehenden und nachfolgenden Protagonisten tun die Lykischen Bauern dies zwar ohne das Wissen, einer Gottheit gegenüberzustehen. Doch ihr Frevel wiegt umso schwerer, als sich die Bauern nicht in irgendeiner Form messen möchten, sondern sich offenbar grundlos und aus bloßer Böswilligkeit unmenschlich gegenüber einer Verzweifelten verhalten, indem sie ihr den Zugang zu Wasser verwehren, obwohl dies für diese offenkundig überlebenswichtig ist. Latona straft die Bauern nicht sofort, sondern bietet ihnen die Möglichkeit, zur Raison zu kommen; zu diesem Zweck schildert die Göttin, warum die Bauern ihr Verhalten überdenken sollten.
Die vorliegende Arbeit wird die Rede Latonas auf ihre Form und Struktur hin näher untersuchen. Dabei werden zuerst die metrische Analyse und eine kommentierte Übersetzung der betreffenden Verse vorgenommen. Im Anschluss daran wird auf den Aufbau sowie die Argumente Latonas und die intendierte Wirkung des Gesagten eingegangen; anschließend soll ein Bezug zwischen Stil und Inhalt hergestellt werden. Weiterhin wird der anschließende Effekt der Rede auf die Bauern beleuchtet. Im Vordergrund der Diskussion soll die Frage nach der Funktion der Rede sowohl innerhalb als auch außerhalb des Textes stehen. Deshalb erfolgt im Anschluss an die textliche Analyse eine Auseinandersetzung, die der Fragestellung nachgeht, wofür der Mythos außerhalb des Werkes stehen könnte.
Dabei wird eine nähere Reflektion der endgültigen Verwandlung ausgespart und lediglich auf das Handeln der Bauern in noch menschlicher Gestalt eingegangen, da dies einerseits unerheblich für die Fragestellung erscheint, andererseits dem vorgegeben Umfang der Arbeit nicht gerecht werden kann.
2 Skandierung und Übersetzung
2.2 Metrische Analyse
'quid prohibetis aquis? usus communis aquarum est. nec solem proprium natura nec aëra fecit 350 nec tenues undas: ad publica munera veni; quae tamen ut detis, supplex peto. non ego nostros abluere hic artus lassataque membra parabam, sed relevare sitim. caret os umore loquentis, et fauces arent, vixque est via vocis in illis. 355 haustus aquae mihi nectar erit, vitamque fatebor accepisse simul: vitam dederitis in unda. hi quoque vos moveant, qui nostro bracchia tendunt parva sinu,' et casu tendebant bracchia nati. quem non blanda deae potuissent verba movere? 360 hi tamen orantem perstant prohibere minasque, ni procul abscedat, conviciaque insuper addunt. nec satis est, ipsos etiam pedibusque manuque turbavere lacus imoque e gurgite mollem huc illuc limum saltu movere maligno. 365
2.2 Kommentierte Übersetzung (Met. 6,349-365)
„Was1 haltet ihr mich2 vom Wasser3 fern? Das Nutzen des Wassers ist ein allgemeines Recht4 ;350 die Natur machte weder die Sonne noch die Luft noch die klaren Wogen jemandem zu eigen5: Ich kam zu öffentlich zugänglichen Gaben; dennoch6 bitte ich kniefällig, dass ihr diese gebt. Ich beabsichtigte nicht hier unsere7 Gelenke und ermüdeten Glieder abzuwaschen, sondern den Durst zu stillen. Während ich spreche, hat mein Mund keine Feuchtigkeit,[355] die Kehlen8 liegen trocken und es gibt darin9 kaum einen Weg für die Stimme. Ein Schluck des Wassers wird für mich Nektar sein und ich werde gestehen, dass ich zugleich Leben empfangen habe: Ihr werdet Leben im Wasser geschenkt haben. Diese auch mögen euch rühren, die ihre kleinen Arme von meiner Brust ausstrecken.“ Und zufällig streckten die Kinder ihre Arme aus.360 Wen hätten die schmeichelnden Worte der Göttin nicht bewegen können?
Diese beharren dennoch darauf, sie trotz ihrer Bitten abzuhalten und sie fügen darüber hinaus Drohungen und Beschimpfungen hinzu, wenn sie nicht weit weggehe; und damit nicht genug, sogar mit Händen und Füßen trübten sie den See selbst10 und von ganz unten aus der Tiefe11 wühlten sie[365] hierhin und dorthin den weichen Schlamm durch boshaftes Springen auf.
3 Interpretation
3.1 Einordnung und Vorgeschichte
Die Episode der Lykischen Bauern schließt an die Versteinerung der Niobe an, für die Latona mitverantwortlich ist. Die Verwandlung der Bauern ist dieser innerhalb des Werkes zwar nachgestellt, geht ihr chronologisch aber voraus.
Ovid lässt den Mythos von einem Augenzeugen erzählen: Es wird berichtet, wie Latona, mit ihren Kindern noch immer auf der Flucht vor der zürnenden Hera, verzweifelt und durstig inmitten der Wüste Lykiens einen See entdeckt. Während sie im Begriff ist, dort ihren Durst zu stillen, verbietet ihr die arbeitende Bauernschar dies. Warum sie ihr den Zugang zum erlösenden Wasser verwehren, bleibt sowohl dem Leser als auch der Göttin verborgen. Dennoch versucht sie, den Bauern eine Chance einzuräumen, ihren Fehler wiedergutzumachen und legt ihnen dar, weshalb sie im Unrecht sind.
3.2 Latonas Appell an die Bauern (6,349-360)
Nachdem die Bauern Latona das Wasser des Sees verbieten, beginnt diese mit ihrer Argumentation: Auf die Frage, weshalb die Bauern dies tun, folgt sogleich ihre sachliche Erklärung, dass es sich bei Sonne, Luft und Wasser um von der Natur zur Verfügung gestellte Güter des öffentlichen Rechts handle12 und die Bauern somit nicht über die Berechtigung verfügen, ihr das Trinken aus dem See zu verbieten13. Dennoch müsse sie sich nunmehr auf dem Boden kniend rechtfertigen und darum bitten, ihren Durst stillen zu dürfen. Anstatt ihre Göttlichkeit zur Schau zu stellen und sich auf diese Weise ihr Recht auf Wasser einzufordern, ist sie weiterhin in menschlicher Gestalt darum bemüht, an Verstand und Menschlichkeit der Bauern zu appellieren. Da Latona bereits im Begriff war zu trinken, kniet sie vor dem See; auch als die Göttin zu den Bauern spricht, erhebt sie sich nicht, sondern betont diese Tatsache vielmehr. Das paradoxe Rollenbild der über der Göttin stehenden und ihr Schicksal bestimmenden Bauern wird dem Leser damit noch einmal vor Augen geführt und betont. Gleichzeitig dient dies der Verdeutlichung, wie absurd und falsche es ist, um Wasser aus einer frei zugänglichen Quelle bitten zu müssen.
[...]
1 Quid: I. S. v.: Warum haltet ihr mich vom Wasser fern?.
2 Ergänzt: me.
3 Aquis: Poet. Plural, hier im Singular übersetzt.
4 Communis: „öffentlich, allgemein“. Hier: Wasser als Grundrecht, daher „ius“ ergänzt. Hintergund vgl. Bömer, F. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar, Bd. 6/7, Heidelberg 1976, S. 101.
5 Proprium: als Eigentum.
6 Tamen: Obwohl Wasser als allgemeines Recht zur Verfügung steht, fleht die Göttin dennoch.
7 Nostros: Unklar, ob poet. Plural oder ob die Glieder der Göttin und ihrer Kinder gemeint sind.
8 Fauces: Vgl.: nostros, s. Fußnote 7.
9 In illis: Vgl. Fußnote 7.
10 Lacus ipsos: Poetischer Plural; im Singular übersetzt.
11 E gurgite: „Gurges“ ist hier und im Folgenden „Wasser“, da es in einem lacus mediocris aquae keinen Strudel gibt. Vgl. Bömer, S. 104.
12 Latona spricht hier von Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts. publica munera außerdem juristischer Terminus. Spätestens hier müsste den Bauern einleuchten, dass juristisch im Unrecht sind. (S. Bömer, S. 101)
13 Einer Person auf der Flucht stand „persönliche[r] bzw. ortsgebundene[r], staats- oder völkerrechtlich garantierte[r] Schutz“ zu. (Vgl. Chaniotis, A. Asylon in DNP) Latona wurde zuvor schon mehrfach das Recht auf Asyl verwehrt, was in der Antike eine erhebliche Menschenrechtsverletzung darstellte.