"An keinen Gegenstand hängen". Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" als fiktionale Fiktionalitätstheorie


Hausarbeit, 2012

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Verwirrung ohne Ende

2. In jenen unglücklichen Tagen

3. Erzählen nach 1789

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

1795 erscheint im 10. Stück der Horen ein Text von Goethe, der seine darin fortgesetzt publizierten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten abschließt: Das Mährchen.1 Dieser Text lässt sich aufgrund seines wahrhaft märchenhaften Inhalts unschwer als fiktional identifizieren: Eine sprechende Schlange verwandelt sich in eine Brücke, ein Mops in einen Edelstein und ein Riese in eine große Säule. Solche und andere nicht minder phantastische Figuren sowie nahezu sämtliche ihrer Handlungen kommen in unserer als real ausgezeichneten Welt nicht vor. Wie aber ist es um das Verhältnis dieses zweifelsfrei fiktionalen Textes zur Realität bestellt?

Für fiktionalitätstheoretische Überlegungen interessant wird dieser Text vor allem durch die von ihm hervorgerufenen Reaktionen: Goethes Mährchen wurde von seinen zeitgenössischen Lesern überwiegend als ‘Schlüsseltext’ wahrgenommen. Schlüsseltexte neueren Datums sind bereits begrifflich aufs Engste mit einer bestimmten literarischen Gattung verbunden, die einen beachtlichen Siegeszug seit Veröffentlichung des Mährchens vorzuweisen hat: der Roman. Dass wir es mit unterschiedlichen Gattungen/Genres vermeintlich verschlüsselnder Schreibweisen zu tun haben, zeigen bereits die unterschiedlichen Reaktionen. Heutzutage sorgen vermeintliche Schlüsselromane hauptsächlich durch Gerichtsprozesse für Aufsehen, freilich insbesondere dann, wenn diese in einem vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich bestätigten Publikationsverbot enden.2 Als Kläger treten meist private Personen auf, die sich in einer Figur wiedererkennen zu können glauben und zugleich meinen, diffamierend verzerrt dargstellt worden zu sein. Im Gegensatz dazu reizte – und reizt – Goethes Märchen, „indem es Bilder, Ideen und Begriffe durcheinander schlingt“3, die verschiedenen Figuren, Artefakte und Handlungsstränge in allegorischer Weise zu entschlüsseln und ähnelt darin eher jenen klassischen Schlüsseltexten vom Typ des 1621 erstveröffentlichten Staatsromans Argenis.4 Was beide Textsorten miteinander verbindet, ist eine Lesehaltung ihnen gegenüber, die eine verschleierte bzw. verschlüsselte Aussage über reale Personen oder Institutionen unterstellt. Ganz im Gegensatz zu ihren modernen Namensvettern scheinen sich diese Texte jedoch gerade dadurch auszuzeichnen, dass sich vor allem die Figuren, aber auch andere Bestandteile der fiktiven Welt zu sehr verselbständigt bzw. von der Realität emanzipiert haben, als dass sich von einer breiten Leserschaft oder persönlich betroffenen Lesern eine eindeutige Referenzialisierung und damit Dechiffrierung der ‘eigentlichen’ Botschaft vornehmen ließe. Während also hier geklagt wird, weil dem Autor bzw. dem Text eine allzu offensichtliche Bezugnahme auf Außerliterarisches vorgeworfen wird, werden dort Entschlüsselungsbemühungen beim Leser in Gang gesetzt, sämtliche Elemente der fiktiven Welt mit der realen in Deckung zu bringen bzw. auf eine konsistente Gesamtaussage zu schließen.

Dies mag einer der Gründe sein, weshalb im Anschluss an die Veröffentlichung des Mährchens in Weimar, soweit überliefert, keine Lektürelisten kursierten.5 Vielmehr gestaltet sich die Entschlüsselung derart diffizil, dass die um Auslegung bemühten Leser sich in ihrer wachsenden Verzweiflung an den Autor selbst wenden als die einzige Instanz, die die eigenen Dechiffrierungen bestätigen oder als unzutreffend zurückweisen könnte.6 Wir Heutigen sind nicht mehr in der Lage, Goethe um Auskunft über sein Werk zu bitten. Nichtsdestotrotz befinden wir uns in einer privilegierten Stellung: Zum einen hat Goethe seinen herumrätselnden Bittstellern keineswegs den Gefallen getan, sie mit einer Auflösung zu erlösen, zum anderen sind jene vertraulicheren Mitteilungen auf die Nachwelt gekommen, in denen sich Goethe weniger über das Mährchen selbst äußert als vielmehr, für uns nicht minder erhellend, derartige Anfragen kommentiert und beantwortet.

Doch diese metafiktionalen Äußerungen sollen nur den kleineren Teil der nachfolgenden Untersuchung bilden. Denn grundsätzlich gilt für das Märchen, was für fiktionale Welten ganz allgemein gilt: sie sind „ univial, d.h. zuerst einmal durch die sie realisierende Darstellungsgesamtheit und deren Interpretation zugänglich.“7 Das entscheidende Wort in diesem Zusammenhang lautet Darstellungs gesamtheit: Das Mährchen erschien zwar im 10. Stück der Horen getrennt vom Rest der Unterhaltungen (die ebenfalls gestückelt in Fortsetzung erschienen), als einzige Binnenerzählung mit einem Titel überschrieben und seltsam isoliert, indem die Rahmenhandlung anschließend nicht wieder aufgegriffen wird. Doch als Schlusserzählung steht das Mährchen nicht nur am Ende der Unterhaltungen, es bildet den geplanten Abschluss derselben, seine separierte Stellung sollte folglich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein Text in einem Text bleibt.8 Was die abgerückte Platzierung des Mährchens motiviert haben könnte, gilt es erst im Zuge der Interpretation zu erörtern. Im Hauptteil der vorliegenden Arbeit soll also in den Unterhaltungen nach Hinweisen gesucht werden, die den Status des Mährchens näher zu bestimmten helfen: Handelt es sich bei Goethes Mährchen um einen Schlüsseltext, der ein geheimes Wissen, einen verdeckten Kommentar zum Zeitgeschehen oder eine verschlüsselte Botschaft an einen bestimmten Adressatenkreis enthält?9 Falls nicht: Worum handelt es sich dann? Welches wäre eine angemessene Lektürehaltung gegenüber dieser fiktiven Welt? Oder mit anderen Worten: Enthält die Erzählung womöglich einen (historischen) Beitrag zur Fiktionalitätstheorie?

1. Verwirrung ohne Ende

Dass es sich bei Goethes Mährchen um einen Text handelt, zu dem es genau einen Schlüssel gibt, erscheint angesichts der bereits angesprochenen Quellenlage höchst fraglich. Goethe weiß um die allgemeine Ratlosigkeit, die sein Mährchen bei der Leserschaft hinterlassen hat, und er weiß um die Erwartung und Hoffnung, dass er selbst sich erklärend äußere. Geplant ist ein zweites Märchen für die Horen, zu dem er nicht glaubt übergehen zu dürfen, „ ohne etwas auf eine oder andere Weise über die Auslegung des ersten gesagt zu haben“.10 Doch scheint ihm eine solche Selbstdeutung seines eigenen Werks zu widerstreben, denn schon kurz darauf äußert er zu Schiller, er hoffe nun doch beim zweiten Märchen „mit einem kleinen Eingang über die Auslegung des ersten wegschlüpfen“ zu können.11 Noch bezeichnender jedoch ist die Art und Weise, wie er in der privaten Korrespondenz über eine Auslegung seines Mährchens ‘hinwegschlüpft’: Als „Freundin Charlotte“ (von Kalb) ihm eine Erklärung der Figuren schickt, bittet er kurzerhand Schiller, „doch geschwind eine andere Erklärung dagegen“ zu schicken, die er ihr mitteilen könne.12

In einer Antwort an Wilhelm v. Humboldt heißt es:

Es war freilich eine schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos [sic!] zu sein. Ich habe noch ein anderes [Märchen] im Sinne, das aber, gerade umgekehrt, ganz allegorisch werden soll, und das also ein sehr subordinirtes Kunstwerk geben müßte, wenn ich nicht hoffte, durch eine sehr lebhafte Darstellung die Erinnerung an die Allegorie in jedem Augenblick zu tilgen.13

Dieser hatte ihm zuvor in einem Brief eine regelrechte Theorie der gesamten Gattung geschickt, wovon das Mährchen „das erste Muster […] in unserer Literatur“ darstelle. Weiter heißt es dort, dass Humboldt denjenigen, bei denen er – wohl aufgrund literarischer Bildung im Besonderen oder intellektueller Begabung im Allgemeinen – auf Verständnis habe hoffen können, versucht habe klarzumachen, dass es eine Erklärung des Mährchens nicht gebe, bzw. treffender: „daß es keiner bedürfe.“14

Dass allerdings überhaupt nach einem solchen Schlüssel gesucht wurde (und wird), war vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt: „Daß dieses [d.i. das Mährchen ] seine Wirkung nicht verfehlt, sehen Sie aus beyliegendem Briefe des Prinzen.“15 Bei jenem Brief des Prinzen August von Gotha handelt es sich um eine nicht ganz ernst gemeinte Auslegung des Mährchens, die darin eine geheime Offenbarungsschrift des Johannes sieht.16 Der Brief wird, ebenso wie die bereits erwähnte Deutung Charlotte von Kalbs, an den Freund Schiller weitergeleitet. Dass dieser ebenfalls seinen Spaß am gemeinsamen Verwirrspiel hat, lässt sich seiner Erwiderung entnehmen: „Hoffentlich laßen Sie ihn eine Weile zappeln: ja wenn Sie es auch nicht thäten, er glaubte Ihnen auf Ihr eigenes Wort nicht, daß er keine gute Nase gehabt habe.“17

Überdies gilt es zu beachten, in welchem literarhistorischen Kontext Goethes Text zu verorten ist: Sein Mährchen knüpft an sogenannte „‘philosophische[] Märchenrätsel“ an, „ein in damaliger Zeit beliebtes und in der Weimarer Gesellschaft gepflegtes Gesellschaftsspiel“.[18] Dabei handelte es sich um Märchen, die in verschiedenen Journalen oder in eignen Anthologien erschienen und die es in eben jener allegorischen Weise zu entschlüsseln galt – mit dem Unterschied freilich, das im nächsten Heft die Auflösung folgte. Da diese Märchenrätsel vorwiegend kombinatorischen Scharfsinn erfordern, sind sie wohl heutigen Denksportaufgaben wie den „Sudokus“ vergleichbar und somit schwerlich jemals mehr als „ein sehr subordinirtes Kunstwerk“.

Wenn Goethes Mährchen kein Schlüsseltext in Form einer künstlerisch minderwertigen Allegorese ist – was ist es dann? Was bezweckt Goethe mit diesem Text? Ganz offensichtlich, das zeigt der Blick in die Briefe, hatte Goethe seine Freude an diesem allgemeinen Rätselraten, zumindest erachtete er es nicht für nötig, ihm durch Absagen oder eine definitive Auflösung – so es sie denn überhaupt gab oder jemals geben kann – Einhalt zu gebieten.19 Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass dies Goethes Hauptabsicht gewesen sein soll, sich im Stillen über notwendig scheiternde Entschlüsselungsversuche seiner Leser zu amüsieren. Zum einen ist fraglich, dass es genau einen Schlüssel zu Goethes Mährchen gibt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob sich die Intention eines Textes nur von dem Befund her befriedigend erklären lässt, dass er spekulative sowie höchst disparate Auslegungen en masse provoziert hat, ohne dass diese allein am Text hinreichend dingfest zu machen wären. Im Folgenden werde ich deshalb untersuchen, inwieweit die vorangehenden Novellen und deren Kommentierung in den Unterhaltungen entweder einen Schlüssel zum Verständnis des Mährchens enthalten oder aber dem Leser ein Rezeptionsverhalten ihm gegenüber nahe legen, das ihn nach einem solchen Schlüssel gar nicht erst suchen lässt.

2. In jenen unglücklichen Tagen

Konzentrieren wir uns zunächst auf die Ausgangslage und die Begleitumstände, unter denen sich die Erzählgemeinschaft der deutschen Ausgewanderten formiert: Mit dem ersten Satz, der in Ablehnung und Verurteilung der politischen Ereignisse deutlicher kaum hätte ausfallen können, führt uns der Erzähler der Unterhaltungen in eine Situation ein, in der sich alles Folgende abspielen wird: „In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen […].“ (125) Dem zeitgenössischen Leser dürfte sich sofort erschlossen haben, welches realweltliche Ereignis der jüngeren Vergangenheit gemeint ist: der Einmarsch französischer Truppen ins Rheinland als Auftakt des Ersten Koalitionskrieges 1792. Die dadurch zur Flucht gezwungene adlige Familie setzt sich zusammen aus der verwitweten Baronesse von C., ihren Kindern Luise und Friedrich, ihrem Neffen Karl sowie einem alten Geistlicher, seit langem ein enger Freund der Familie. Als sich im Jahr darauf das Blatt wendet und die Alliierten gegen Mainz vorrücken, eilt die Familie zu einem Gut am rechten Rheinufer zurück, in der Hoffnung, bald in ihre Wohnhäuser im Linksrheinischen zurückkehren zu können. Nachbarn, alte Bekannte und Freunde eilen herbei, darunter der Geheimerat von S. und seine Ehefrau, eine enge Jugendfreundin der Baronesse. Freude über Heimkehr und Wiedersehen werden schon bald getrübt durch politische Diskussionen, die sich wegen der täglich neuen Nachrichten nicht vermeiden lassen. Insbesondere der jugendlich ungestüme Karl, Sympathisant der Revolution, und der betagte Geheimrat, Fürsprecher der alten Ordnung, geraten als idealtypische Repräsentanten der beiden politischen Lager aneinander. Als sich die Ereignisse mit der Belagerung von Mainz zuspitzen, erhitzen sich die Gemüter noch mehr als sonst, sodass es infolge gegenseitigen Hochschaukelns beiderseits zu sehr drastischen Äußerungen und persönlichen Beleidigungen kommt – der Geheimerat hoffe die „Klubbisten“ (131) „alle gehangen zu sehen“ (133), Karl hingegen hofft, „daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Ernte finden“ (133) werde –, was zur sofortigen Abreise des Geheimrates und seiner Gemahlin führt.

Schiller gefiel dieser Beginn der Unterhaltungen ganz und gar nicht. Seinen Freund Körner ließ er wissen, dieser Beitrag Goethes habe seine „Erwartungen keineswegs befriedigt.“20 Weshalb aber wurde dieser „Anfang einer Reyhe von Erzählungen“21 so ungünstig aufgenommen? Sollte das Missfallen in der absoluten Enthaltsamkeit in politischen Angelegenheiten begründet liegen, die Schiller im Vorwort der Horen seinen Lesern vollmundig angekündigt hatte?22 Darin heißt es gleich im ersten Satz: „Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meynungen und Interessen diesen Krieg beynahe in jedem Zirkel erneuert, und nur allzuoft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatscritik Rettung ist“, will sich diese Zeitschrift zur Zerstreuung der Leser einer „heitern und leidenschaftfreyen Unterhaltung “ widmen.23 Es ist schon einigermaßen verblüffend, wie genau dies die Ausgangslage in den Unterhaltungen beschreibt – bzw. wie genau Goethe umgekehrt Schiller beim Wort nimmt, bis hin zum „Geräusch des Kriegs“, das bei ihm zum „Donner der Kanonen“ wird, „den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm“ (130) und womit das Politische am Horizont bedrohlich präsent bleibt. Die Flüchtlinge um die Baronesse bilden jenen „Zirkel“, wie der Geistliche wörtlich sagt (141), in dem sich der Krieg infolge der eskalierenden politischen Debatte erneuert. Das Zerwürfnis mit dem Geheimerat wiederholt im Kleinen die Katastrophe im Großen: Feindschaft, Verbitterung, Vertreibung. Goethe holt ihn nicht, wie Schiller es gerne gehabt hätte, in die Gemeinschaft zurück.24 Vermutlich war es ihm darum zu tun, zunächst einmal die Problemlage in ihrem vollen Gewicht zu exponieren, um an diesem für die Baronesse so überaus schmerzlichen Bruch die Dringlichkeit von Problemlösungen illustrieren zu können. Denn handlungslogisch stellt sich ja erst im Anschluss an diesen Vorfall die Frage nach einem Lösungskonzept, wie sich derartige Eskalationen als Folge der allgemeinen Politisierung vermeiden lassen. Zum anderen knüpft Goethe im Folgenden an die Struktur von Schillers Vorwort an (das seinerseits dem Grundgedanken seiner Ästhetischen Briefe folgt): Damit sich der Krieg nicht bis in die persönlich zwischenmenschlichen Beziehungen hinein fortsetze und durch das Aufeinanderprallen unversöhnlicher politischer Meinungen noch zusätzlichen Schaden anrichte, wolle man „sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen“.25

[...]


1 Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe (künftig: HA), textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Erich Trunz und Benno v. Wiese. Bd. 6, 5. Aufl. Hamburg, 1963, 125-241. Zitate werden im laufenden Text mit Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.

2 Am berühmtesten sicherlich und noch für heutige ähnlich gelagerte Verbotsverfahren (wie im Fall von Maxim Billers Roman Esra) maßgeblich: Klaus Manns „Roman einer Karriere“Mephisto, 1971 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Vgl. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin/New York, 2008, 230ff., hier: 233.

3 Johann Wolfgang Goethe: Auslegungen des Märchens. 24. Juni 1816. Erstmals publiziert durch Julius Wahle in: Goethe-Jahrbuch 25, 1904, 37-44, hier: 37.

4 Vgl. Klausnitzer: Literatur und Wissen, a.a.O., 235ff.

5 Ganz anders als in Lübeck als Reaktion auf Thomas Manns Die Buddenbrooks, vgl. Klausnitzer: Literatur und Wissen, a.a.O., 212. Zu berücksichtigen wären allerdings auch die gesellschaftlichen Zustände um 1800 im allgemeinen sowie der Adressatenkreis einer publizistischen Unternehmung wie der Horen im besonderen: Genauso wie sich die Erzählgemeinschaft in der Rahmenhandlung der Unterhaltungen im Kern aus einer adligen Familie zusammensetzt, während die zahlreichen Bediensteten für das gegenseitige Geschichtenerzählen keinerlei Rolle spielen, handelte es sich beim Lesepublikum, in dessen Reihen das Entschlüsselungsfieber grassierte, höchstwahrscheinlich um einen elitären Zirkel. Überliefert sind beispielsweise Deutungen Charlotte v. Kalbs, des Prinzen August v. Gotha oder Wilhelm v. Humboldts, siehe Kapitel 1 dieser Arbeit.

6 Oder man wendet sich, da der Autor nicht für Jedermann erreichbar ist, Hilfe suchend an vergleichbare bzw. mit ihm im Kontakt stehende Autoritäten wie Wilhelm v. Humboldt: „Die meisten Leser, deren Urteile mir hier zu Ohren gekommen sind, haben sich über die Maßen zerquält, einen philosophischen Sinn heraus- oder wenigstens hineinzudeuteln, und […] mehrere [wandten sich] deshalb an mich, als müßte gerade ich ganz eigne Offenbarungen darüber haben“. An Goethe, 9.2.1796 (HA 1, 218)

7 Klausnitzer: Literatur und Wissen, a.a.O., 224.

8 Dies scheint Konsens in der neueren Forschung zu sein, vgl. Günter Oesterle: Die „schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos“ sowie „an nichts und alles erinnert“ zu sein. Bild- und Rätselstrukturen in Goethes „Das Märchen“ (13.06.2005). In: Goethezeitportal. URL:

<http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/maerchen_oesterle.pdf> (15.02.2012), S. 1.

9 Unter den zahlreichen Interpretationen fehlen in der Tat nicht solche, die im Mährchen eine exklusiv an Schiller adressierte Botschaft in Form einer verdeckten Kritik oder Aufforderung erkennen wollen, so etwa Katharina Mommsen: Bilde Künstler! Rede nicht! Goethes Botschaft an Schiller im Märchen. In: Theatrum Eurpaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota, hrsg. von Richard Brinkmann u.a. München 1982, 491-516. Ähnlich Bernd Witte: Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und im Märchen. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Wilfried Barner u.a. Stuttgart, 1984, 461-484.

10 Goethe an Schiller, 21.11.1795. Schillers Werke. Nationalausgabe (künftig: NA). Hg. von Julius Petersen u.a. Weimar 1943ff., Bd. 36, 29.

11 Goethe an Schiller, 15.12.1795 (NA 36, 50).

12 Goethe an Schiller, 23.12.1795. (NA 36, 63)

13 Goethe an W. v. Humboldt, 27.05.1796 [Entwurf]. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Karl Eibl u.a. Frankfurt a.M., 1998, Bd. 31 (1794-1799), 188f., Hervorhebung R.F.

14 W. v. Humboldt an Goethe, 9.2.1796 (HA 1, 218). Interessanterweise hat er gegenüber denjenigen, die er nicht in dieser Weise ‘bekehren’ zu können glaubte, dieselbe Strategie gewählt wie Goethe gegenüber Charlotte v. Kalb, indem er „aus dem Stegreif eine eigne Erklärung“ machte und dagegensetzte. Gleichermaßen mit einer Vielzahl an Dechiffrierungen des Mährchens konfrontiert, offenbart sich ihm deren Beliebigkeit und Austauschbarkeit, indem sie sich nirgends am Text dingfest machen lassen und somit letztlich immer auf Spekulation beruhen müssen. Vgl. auch Hartmut Reinhardt: Lizenz zum Spielen. Goethes Märchen in seiner dialogischen Verbindung mit Schillers ästhetischen Schriften. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), 99- 122, hier: 103.

15 Goethe an Schiller, 15.12.1795 (NA 36, 50).

16 Vgl. Julius Wahle, a.a.O., 40ff.

17 Schiller an Goethe, 17.12.95 (NA 28, 132). Goethe lässt ihn noch ziemlich lange zappeln, denn er wolle mit einer eigenen Auslegung nicht herausrücken, bis er 99 Vorgänger vor sich sehen werde. Vgl. Goethe an Prinz August v. Gotha, 21.12.1795. In: Hans Gerhard Gräf (Hg.): Goethe über seine Dichtungen. Bd. 1. Frankfurt, 1901, 340.

18 Vgl. Oesterle: Bild- und Rätselstrukturen, a.a.O., 9f. In diesem Sinne auch Goethe an Schiller, 26.9.1795 (NA 35, 355): „Ich hoffe die 18 Figuren dieses Dramatis sollen, als soviel Rätzel, dem Räzelliebenden willkommen seyn.“

19 Man möchte allerdings bezweifeln, dass Goethe auch dann auf eine „Richtigstellung“ verzichtet hätte, wenn er die Auswüchse der Auslegungssucht hätte voraussehen können: Als bekanntestes Beispiel sei hier nur Rudolf Steiner genannt, dessen „anthroposophische Lehre“ maßgeblich auf dessen ‘Interpretation’ des Goetheschen Märchens fußt. Ders.: Mein Lebensgang. In: Gesamtausgabe, Bd. 28, 2000, 292f.

20 Schiller an Körner, 5.12.1794 (NA 27, 98). Vgl. auch Reinhardt: Ästhetische Geselligkeit, a.a.O., 19ff.

21 Im 1. Stück der Horen waren die Unterhaltungen bis kurz vor die erste Geschichte, die vom Geistlichen erzählte Antonelli-Novelle, erschienen – gerade die von Schiller angekündigte apolitische Unterhaltung blieb somit vorerst aus.

22 Darauf zumindest lassen die, nach grundsätzlicher Zustimmung, vorsichtig geäußerten Besserungsvorschläge schließen, siehe Schillers Brief vom 29.11.1794 (NA 27, 93ff.): „Weil ich mich in meiner Annonce an das Publikum auf unsere Keuschheit in politischen Urtheilen berufen werde, so gebe ich Ihnen zu bedenken, ob an dem, was Sie dem Gehrath in den Mund legen, eine Partey des Publikums, und nicht die am wenigsten zahlreiche, nicht vielleicht Anstoß nehmen dürfte? […] Als bloßer Leser würde ich ein Vorwort für den Gehrath einlegen, daß Sie ihn doch durch den hitzigen Karl, wenn er sein Unrecht eingesehen, möchten zurückhohlen und in unserer Gesellschaft bleiben lassen.“ – Das wäre aber insofern seltsam, als es sich dabei, wie Hartmut Reinhardt zutreffend identifiziert, um die genau gleiche „Ausholbewegung“ wie in Schillers Briefen über eine ästhetische Erziehung des Menschen handelt: Die Französische Revolution ist das Symptom einer Krise, deren Ursachen mithilfe der Kunst bekämpft werden sollen. Vgl. Ders.: Ästhetische Geselligkeit, a.a.O., 15.

23 NA 22, 106 (Hervorhebung R.F).

24 Vgl. Anm. 22.

25 NA 22, 106. In den Unterhaltungen wird diese Verabredung zur Verbannung alles Politischen aus der geselligen Kommunikation freilich sehr viel ausführlicher und dramatischer in Szene gesetzt. Überhaupt fällt an den Unterhaltungen im Vergleich mit anderen Geschichtensammlungen des gleichen Typs, also Rahmenerzählungen mit eingelassenen Binnenerzählungen, auf, dass die Rahmenhandlung sehr detailliert und raumgreifend ausgestaltet ist. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb manch einer in dieser Form geselliger Bildung – Selbstbeherrschung, Mäßigung, Entsagung, Schonung des Anderen – Goethes eigentlichen Schwerpunkt erblickte. So etwa Ulrich Gaier: Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der Unterhaltungen als satirische Antithese zu Schillers Ästhetischen Briefen I-IX. In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Hg. von Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch. Stuttgart, 1987, 207-272. Sowie Bernd Witte: Das Opfer der Schlange, a.a.O.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
"An keinen Gegenstand hängen". Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" als fiktionale Fiktionalitätstheorie
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Veranstaltung
Regeln der Simulation. Fiktionalitätstheorien.
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
17
Katalognummer
V308103
ISBN (eBook)
9783668065437
ISBN (Buch)
9783668065444
Dateigröße
420 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gegenstand, goethes, unterhaltungen, ausgewanderten, fiktionalitätstheorie
Arbeit zitieren
R. Fehl (Autor:in), 2012, "An keinen Gegenstand hängen". Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" als fiktionale Fiktionalitätstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308103

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