Das Prinzip der Gegenseitigen Anerkennung in der Europäischen Union. Die Dienstleistungsrichtlinie und der Europäische Haftbefehl

Musterknabe oder Sorgenkind?


Bachelorarbeit, 2013

35 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Bedeutung nationaler Präferenzen für die europäische Gesetzgebung

3 Die Gegenüberstellung der Dienstleistungsrichtlinie und des Europäischen Haftbefehls
3.1 Interdependenz und Nutzenmaximierung initiieren Integration
3.2 Die Bedeutung nationaler Interessengruppen für die Präferenzbildung der Mitgliedstaaten
3.3 Die Unterstützung des Grundsatzes durch den mächtigsten Akteur ist entscheidend

4 Abschließende Betrachtungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (kurz „das Prinzip“), nachstehend auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (kurz „der Grundsatz“) genannt, fand in Europa Eingang in die Politik durch die Warenverkehrsfreiheit. Trotz der Abschaffung aller Zölle im europäischen Wirtschaftsraum bestanden Hindernisse für die vollständige Durchsetzung eines freien Warenverkehrs. Es gab verschiedene Sicherheits- und Verpackungsanforderungen oder auch Verwaltungsverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Barrieren galt es zu beseitigen, um eine europaweite Vermarktung von Produkten zu gewährleisten. Durch einen Präzedenzfall kam es 1979 zum „Cassis de Dijon“-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, welches die Grundlage für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bildet (Young 2010: 110-111). Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung muss seither jeder Mitgliedstaat Produkte, die rechtmäßig in einem anderen Mitgliedsland hergestellt und vertrieben werden, auf seinem eigenen Markt erlauben. Hier spricht man vom sogenannten Herkunftslandprinzip. Ausnahmeregelungen kommen nur bei der Gefährdung der Sicherheit, der Gesundheit, der Umwelt und des Verbrauchers zum Tragen (Pelkmans 2007: 702).

Mittlerweile wurde das Prinzip auch auf andere Politikfelder übertragen. Dort erfüllt es in der Regel andere Zwecke, weshalb eine allumfassende Definition des Grundsatzes schwierig ist. In allen Politikbereichen basiert die gegenseitige Anerkennung jedoch auf dem Herkunftslandprinzip und der Anerkennung der Legitimität verschiedener, aber gleichwertiger Regelsetzung in den Mitgliedstaaten. Damit unterscheidet sich die gegenseitige Anerkennung von der Rechtsangleichung beziehungsweise Harmonisierung nationaler Rechte (Heritier 2007: 801).

Die Forschungsgemeinschaft erörterte das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung vor allem im letzten Jahrzehnt, nachdem es neben dem Warenverkehr auch Eingang in andere Politikfelder gefunden hatte. Vielfach diskutiert wurde die Anwendung in der europäischen Justiz- und Innenpolitik sowie im Dienstleistungsverkehr. Bei letzterem wurden beispielsweise die rechtliche Seite der Dienstleistungsrichtlinie beleuchtet (Nicolaïdis/Schmidt 2007) und die politisch-ökonomischen Konsequenzen analysiert (Kostoris Padoa Schioppa 2007; Schmidt 2009; Höpner/Schäfer 2010). Die Dynamik im Europäischen Parlament (Lindberg 2008) sowie die Präferenzbildung in einzelnen Mitgliedstaaten waren ebenfalls Untersuchungsgegenstand (Miklin 2009). Im Politikbereich Justiz und Inneres schrieb man hauptsächlich über den Europäischen Haftbefehl. Dabei machten die Wissenschaftler vor allem auf die Konsequenzen sowohl für die Balance zwischen Menschenrechten und Sicherheitsinteressen (Alegre/Leaf 2004; Guild 2004), als auch für die Souveränität der Mitgliedstaaten aufmerksam (Fichera 2009).

Im Zusammenhang mit der Governanceforschung wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ebenfalls untersucht. Einen wichtigen Beitrag leistete die Sonderausgabe „Mutual Recognition as a New Mode of Governance“ (2007) des Journal of European Public Policy unter Edition von Susanne K. Schmidt. Ziel der Ausgabe war es zu klären, inwiefern das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Governancefunktionen erfüllt (Schmidt 2007: 670-671). Dazu wurde auf die Anwendung des Prinzips in verschiedenen Politikfeldern eingegangen. Neben den bereits genannten Politikfeldern (Lavenex 2007 für Justiz und Inneres; Nicolaïdis/Schmidt 2007; Kostoris Padoa Schioppa 2007 für die Dienstleistungsrichtlinie) wurde das Prinzip in der europäischen Warenverkehrsfreiheit (Pelkmans 2007) und Steuerpolitik (Genschel 2007) sowie in der Welthandelsorganisation (Trachtman 2007) besprochen. Zuletzt wurde das Prinzip auch in Zusammenhang zu anderen Formen der Anerkennung in den internationalen Beziehungen, der politischen Philosophie und der internationalen politischen Ökonomie gesetzt (Nicolaïdis 2007).

Der von Fiorella Kostoris Padoa Schioppa herausgegebene Sammelband „The Principle of Mutual Recognition in the European Integration Process“ (2005) behandelt das Thema gegenseitige Anerkennung in der Europäischen Union ebenfalls. Der Sammelband erörterte einige der bereits genannten Themen sowie die philosophischen, historischen und kulturellen Fundamente von gegenseitiger Anerkennung in Europa. Auf die Anwendung des Grundsatzes außerhalb des europäischen Binnenmarkts wurde allerdings nicht eingegangen. Ebenso wenig berücksichtigte der Band die Beziehung zwischen den westlichen Mitgliedstaaten und den zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten.

Bei vielen der genannten Studien handelt es sich um Einzelfallstudien zu einem speziellen Thema im Bereich der gegenseitigen Anerkennung. Häufig wird die Wichtigkeit dieses Prinzips betont, da es die europäische Integration fördert und trotzdem die Vielfalt Europas bewahrt (z.B. Möstl 2010: 405). Dennoch konzentrierte man sich wenig darauf, welche Rahmenbedingungen die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung fördern könnten. Deshalb stellt sich die Frage, welche Bedingungen einen Integrationsschritt in der Europäischen Union auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung begünstigen.

Um diese Forschungsfrage zu klären, betrachte ich sowohl einen erfolgreichen, als auch einen gescheiterten Fall der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Dabei stütze ich mich auf die beiden prominentesten Beispiele: den Europäischen Haftbefehl und die Dienstleistungsrichtlinie. Obwohl beide Fälle von der Forschung schon vielfach diskutiert wurden, ziehe ich diese dennoch heran, weil es sich hierbei um sogenannte „crucial cases“ (George/Bennett 2005: 120), also zwei besonders entscheidende Fälle handelt. Im Falle des Europäischen Haftbefehls war eine Einigung auf den Grundsatz sehr ungewöhnlich, da ein Politikbereich integriert wurde, der zu den staatlichen Kernfunktionen zählt. Nun stellt sich die Frage, warum die Mitgliedstaaten hier bereit waren, Souveränität an die supranationalen Institutionen abzugeben. Umgekehrt war ein Scheitern des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bei Aushandlung der Dienstleistungsrichtlinie überraschend, da es sich um die Integrationsvertiefung eines Wirtschaftssektors handelte, ein Kernbereich europäischer Integration.

Auch wenn man die Gesetzgebungsverfahren betrachtet, würde man eher ein entgegengesetztes Ergebnis erwarten. Der Europäische Haftbefehl basiert, wie in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten zu diesem Zeitpunkt üblich, auf einem Rahmenbeschluss (Rat der Europäischen Union 2002). Rahmenbeschlüsse sind für die Mitgliedstaaten bindend. Allerdings waren die Mitgliedstaaten frei bei der Umsetzung in nationales Recht. Rahmenbeschlüsse wurden nach dem Konsultationsverfahren ausgehandelt. Danach musste der Ministerrat das Europäische Parlament zwar anhören, bevor er ein Gesetz beschloss, aber er war nicht an seine Stellungnahme gebunden. Die Entscheidung im Ministerrat musste einstimmig gefällt werden (Schönberger 2007: 1116).

Die Dienstleistungsrichtlinie basiert, wie der Name schon verrät, auf einer Richtlinie (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 2006). Richtlinien sind typische Handlungsformen des Gemeinschaftssekundärrechts (von Danwitz 2008: 174). Obwohl vertraglich nicht vorgesehen, haben sie sich „weitgehend zu vollständigen Normsetzungsprogrammen entwickelt, die alle wesentlichen Aspekte einer Regelung bereits verbindlich vorgeben“ (von Danwitz 2008: 181). Bei Richtlinien wurde das Mitentscheidungsverfahren angewandt. Hier hat das Europäische Parlament bedeutend mehr Macht, denn Ministerrat und Parlament müssen einen Konsens über die inhaltliche Ausgestaltung des Gesetzesentwurfs bilden (Hix/Høyland 2011: 53). Im Ministerrat wurde mit qualifizierter Mehrheit entschieden, das heißt für die Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie musste der Gesetzesentwurf gleichzeitig von 72,3 Prozent der gewichteten Stimmen des Ministerrats, einer einfachen Mehrheit der Mitgliedstaaten und 62 Prozent der Gesamtbevölkerung getragen werden (Härtel 2006: 384, 388).

Während das Gesetzgebungsverfahren zur Dienstleistungsrichtlinie durch das Zwei-Kammern-System und die Mehrheitsentscheidung der nationalstaatlichen Gesetzgebung europäischer Länder sehr ähnlich war, hatte das Gesetzgebungsverfahren zum Europäischen Haftbefehl den Charakter von zwischenstaatlichen Verhandlungen. Wenn man dies beachtet, ist es verwunderlich, dass man sich beim Europäischen Haftbefehl auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung einigen konnte, bei der Dienstleistungsrichtlinie hingegen nicht.

Nachdem das empirische Puzzle ausreichend erörtert ist, lege ich nun das Untersuchungsziel näher dar. Die abhängige Variable dieser Untersuchung ist also die gegenseitige Anerkennung. Ziel der Arbeit ist es, die Varianz auf der abhängigen Variablen zu erklären, das heißt die Anwendung und die Ablehnung des Grundsatzes. Durch die Auswahl dieser beiden Fälle habe ich somit beide Ausprägungen der abhängigen Variablen abgedeckt. Mit Hilfe der Integrationstheorien versuche ich die kausalen Wirkungsfaktoren, die unabhängigen Variablen, zu identifizieren, die ausschlaggebend für das jeweilige Ergebnis waren. Es handelt sich daher um ein Y-zentriertes Forschungsdesign, das die beiden Fälle so vollständig wie möglich zu erklären versucht (Ganghof 2005: 77). Zwangsläufig erkläre ich dadurch auch, warum die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bei der Dienstleistungsrichtlinie scheiterte und warum das Prinzip beim Europäischen Haftbefehl erfolgreich in ein Gesetz integriert wurde. Allerdings versuche ich über diese Erklärungsstufe hinauszugehen und eine allgemeinere Schlussfolgerung bezüglich der Bedingungen für eine erfolgreiche Eingliederung des Prinzips zu treffen. Inwieweit eine Generalisierung möglich ist, wird sich bei der Auswertung der Ergebnisse zeigen.

Bevor überhaupt über den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung diskutiert werden kann, muss das grundlegende Konzept „Integration“ definiert werden. Denn die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung wird nur im Rahmen eines weiteren Integrationsschritts diskutiert. Danach werde ich die relevanten Integrationstheorien darlegen. Im Mittelpunkt steht dabei der Liberale Intergouvernementalismus. Es werden Erwartungen bezüglich der beiden Fälle aus dieser Theorie abgeleitet, die mögliche unabhängige Variablen identifizieren sollen. In diesem Zusammenhang wird erörtert, wie die Wirkung dieser unabhängigen Variablen zu prüfen ist. In der Analyse untersuche ich dafür die Vorgeschichte zum jeweiligen Fall und damit die zunehmende Vernetzung der Mitgliedstaaten. Danach wird analysiert, welcher Nutzen sich für die Mitgliedstaaten durch eine Integration und aus der Anwendung des Grundsatzes selbst ergibt. Desweiteren wird versucht zu klären, wie gewiss ein regelkonformes Verhalten der Mitgliedstaaten ist. In einem nächsten größeren Abschnitt werden die relevanten nationalen Interessengruppen und deren Einflussnahme auf die nationalen Präferenzbildungen herausgearbeitet. Zuletzt werden die Verhandlungen im Europäischen Parlament und im Ministerrat dargestellt. Daraus lässt sich die Beeinflussung der Mitgliedstaaten durch die nationalen Interessengruppen, die Interessenkonvergenz der Mitgliedstaaten und die Haltung des mächtigsten Akteurs zur Anwendung der gegenseitigen Anerkennung ableiten. Abschließend werden die Ergebnisse des strukturierten Fallvergleichs gesammelt und Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine mögliche Generalisierung gezogen.

2 Die Bedeutung nationaler Präferenzen für die europäische Gesetzgebung

Zuerst versuche ich den Erklärungsgegenstand dieser Arbeit, europäische Integration, zu definieren. Rittberger und Schimmelfennig (2005) sprechen von politischer Integration, „wenn politische Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf eine supranationale Ebene übertragen und damit der exklusiven Souveränität des Staates entzogen werden – unabhängig vom Ausmaß des Kompetenztransfers“ (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 20). Die politische Integration der Europäischen Union kann in drei Dimensionen betrachtet werden. Man unterscheidet allgemein die sektorale, vertikale und horizontale Integration. Eine sektorale Integration liegt vor, wenn ein neuer Politikbereich reguliert wird. Hier spricht man auch von einer Ausdehnung. Die vertikale Integration hingegen bezeichnet eine Vertiefung, welche entsteht, wenn die Nationalstaaten Kompetenzen an die Institutionen der Europäischen Union übertragen. Je größer der Souveränitätstransfer, desto tiefer ist die vertikale Integration. Auf der horizontalen Dimension wird der territoriale Geltungsbereich der Regulierung betrachtet. Dieser ist keineswegs für jede Integration auf dem gesamten EU-Gebiet gültig. Hier spricht man auch von Erweiterung (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 20-21).

Durch die Dienstleistungsrichtlinie fand eine Integrationsvertiefung statt, die allerdings zu Beginn wesentlich tiefer angedacht war, als sie es zuletzt wurde. Beim Europäischen Haftbefehl kann man von sektoraler Integration sprechen. Dieser Politikbereich wird sozusagen neu integriert, da die Auslieferung bisher nur durch zwischenstaatliche Verträge geregelt war.

Die Integrationstheorien erklären, „wie und unter welchen Bedingungen es zu einem Integrationswachstum kommt“ (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 22). Sie sind deshalb ein geeignetes Instrument, um die Beantwortung der Forschungsfrage zu unterstützen. Die Integrationstheorien lassen sich in zwei Denkschulen einteilen: den Intergouverne-mentalismus und den Supranationalismus (Rittberger/Schimmelfennig 2005: 22). Für die Analyse werde ich jedoch nur den Intergouvernementalismus, insbesondere den Liberalen Intergouvernementalismus von Andrew Moravcsik, heranziehen. Denn wie sich in der Analyse später noch ausführlicher zeigen wird, stehen die Interessen der Mitgliedstaaten im Mittelpunkt, welches ein zentraler Aspekt des Liberalen Intergou-vernementalismus ist. Der Supranationalismus verliert in beiden Fällen seine Berechtigung, da die Entscheidungsfindung in den EU-Organen von nationalstaatlichen Präferenzen dominiert wurde. Die Entscheidungsfindung im Ministerrat ist grundsätzlich von zwischenstaatlichen Verhandlungen geprägt. Im Fall der Dienstleistungsrichtlinie fand die Debatte im Europäischen Parlament nicht entlang von Parteilinien statt, sondern war ebenfalls von den nationalstaatlichen Präferenzen beeinflusst. Im Fall des Europäischen Haftbefehls hatte das Europäische Parlament nach geltendem EU-Recht nur eine beratende Funktion und hatte somit nur sehr begrenzten Einfluss auf die Entscheidungsfindung (Jensen/Nedergaard 2012: 853; O'Mahony 2007: 23).

Der Liberale Intergouvernementalismus wurde von Andrew Moravcsik als Theorie mittlerer Reichweite begründet. Dieser beansprucht für sich, fokussierter und trotzdem weitgehender generalisierbar zu sein als die großen Denkschulen (Moravcsik 1998: 19). Da ich ebenfalls diese Meinung vertrete, konzentriere ich mich auf diesen Denkansatz. Der Liberale Intergouvernementalismus baut auf rationalistischen Annahmen internationaler Kooperation auf und behauptet, dass europäische Integration am besten durch eine Abfolge von rationalen Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs erklärt werden kann (Moravcsik 1998: 18-19). Dabei kalkulieren die Akteure den Nutzen von Handlungsalternativen und entscheiden sich für diejenige, die unter den gegebenen Umständen ihren Nutzen maximiert. Durch die steigende Interdependenz der Staaten ergibt sich ein Nutzen aus einer Kooperation, denn die Staaten sind nicht imstande, ihre Sicherheits- oder Wohlfahrtsinteressen allein zu befriedigen (Leuffen/Rittberger/Schim-melfennig 2013: 42-43). Um zu erklären, warum souveräne Staaten in Europa sich wiederholt für eine Politikkoordination entschieden haben und souveräne Vorrechte an internationale Institutionen abgeben, entwickelt Moravcsik ein dreistufiges Modell. Staaten definieren zuerst Präferenzen, dann verhandeln sie bis stichhaltige Abkommen erreicht wurden und schließlich schaffen oder passen sie Institutionen an, um die Umsetzung dieser Ergebnisse sicher zu stellen. Dabei wird jede Phase einzeln betrachtet, auf die nun ausführlicher eingegangen wird (Moravcsik/Schimmelfennig 2009: 69).

Die nationalstaatlichen Präferenzen sind weder festgesetzt noch einheitlich und variieren zwischen Staaten und im Staat, sowohl im Laufe der Zeit, als auch über Themen hinweg. Der Staat wird als einheitlicher Akteur betrachtet, der das Kräfteverhältnis gesellschaftlicher Interessengruppen abbildet und innerstaatliche Interessen bündelt. „Vor allem klar umrissene Gruppen, die viel zu gewinnen und zu verlieren haben, üben den größten Einfluss auf Regierungshandeln aus“ (Schieder 2010: 204). Durch den Einfluss der Interessengruppen werden der Handlungsspielraum und die eigenen Interessen der Regierung begrenzt. Die Regierungspräferenzen sind also vordefiniert und werden nicht von internationalen Verhandlungen oder Institutionen beeinflusst (Moravcsik/Schim-melfennig 2009: 69-70; Knodt/Corcaci 2012: 44).

Im zweiten Schritt werden die Verhandlungen betrachtet, welche als zwischenstaatlich anzusehen sind. Die Mitgliedstaaten sind unterschiedlich durch die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit betroffen, das heißt nicht alle Mitgliedstaaten ziehen den gleichen Nutzen aus einer Kooperation. Eine Integrationsvertiefung findet also nur dann statt, wenn sich die nationalen Präferenzen einander angleichen. Dies geschieht zum Beispiel durch sogenannte Ausgleichszahlungen, das heißt den benachteiligten Mitgliedstaaten wird von den Mitgliedstaaten, die am meisten von einer Kooperation profitieren, ein Anreiz zur Kooperation geboten (Knodt/Corcaci 2012: 44-46). Akteure, die eine Veränderung des Status quo am wenigsten benötigen, haben die besten Verhandlungspositionen. Sie können anderen Staaten mit der Verweigerung zur Kooperation drohen und auf diese Weise Zugeständnisse einfordern (Moravcsik/Schimmelfennig 2009: 71).

Die Institutionen der EU stehen schließlich im Schatten der Entscheidungen der Mitgliedstaaten. Sie sind nicht autonom, fragil und den nationalstaatlichen Präferenzen ausgesetzt. Die Institutionen dienen als Steuerungsinstrument der Mitgliedstaaten, um die Integration zu fördern. Die Nationalstaaten schaffen glaubhafte Bindungen an die zuvor ausgehandelten Kooperationsverpflichtungen, indem sie ihre Souveränität an die Institutionen abgeben. Je mehr Vorteile sich für eine Regierung aus der Kooperation ergeben und je höher die Gefahr der Regelverletzung durch andere Mitgliedstaaten, desto größer ist die Bereitschaft Kompetenzen an die Institutionen der Europäischen Union abzugeben. Sind die Institutionen funktionsfähig, erhöht sich die Bindung zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Die Gefahr eines opportunistischen Verhaltens einzelner Regierungen wird dadurch vermindert. Denn die Institutionen helfen bei der Überwachung von Regelungen mittels der Kommission oder sanktionieren nonkonformes Verhalten mit Hilfe des Europäischen Gerichthofs. Zuletzt reduzieren sie Transaktionskosten (Moravcsik/Schimmelfennig 2009: 72-73; Schieder 2010: 205).

Aus dem liberalen Intergouvernementalismus ergeben sich folgende Erwartungen für die Forschungsarbeit:

Erwartung 1: Die Forderung nach Integration steigt mit der Stärke der gegenseitigen Abhängigkeit und dem Nutzen aus der Integration. Je unsicherer die Mitgliedstaaten über das regelkonforme Verhalten ihrer Kooperationspartner sind, desto eher sind sie bereit, die Entscheidungsfindung und Eingriffsbefugnisse an die Europäische Union abzugeben. Ob diese Forderung nach Integration auch darin endet, hängt von der Konstellation der Präferenzen, der Verhandlungsmacht der Akteure und der Verfügbarkeit von geeigneten Institutionen ab (Leuffen/Rittberger/Schimmelfennig 2013: 52).

Auf Grundlage dieser Erwartung wird untersucht, wie stark die Mitgliedstaaten im Bereich des Binnenmarkts und der Justiz mittlerweile voneinander abhängig sind. Daran schließt sich die Frage an, welcher Profit sich aus der Integration und der Anwendung der gegenseitigen Anerkennung ergibt. Zuletzt wird geklärt, wie gewiss ein regelkonformes Verhalten der Mitgliedstaaten ist. Meine ersten unabhängigen Variablen sind somit die „Interdependenz der Mitgliedstaaten“ (UV1), der „Nutzen für die Mitgliedstaaten durch die Integration“ (UV2a) und der „Nutzen durch die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung“ (UV2b) sowie die „Sicherheit des regelkonformen Verhaltens der Mitgliedstaaten“ (UV3). Zuerst soll ein historischer Abriss die zunehmende Vernetzung der Binnenmarkt- sowie Justiz- und Innenpolitik und den Nutzen aus der Integration aufzeigen. Daraus lassen sich auch die bisherigen, ungenügenden Absprachen unter den Mitgliedstaaten erkennen, die begründen, weshalb eine Übertragung an europäische Institutionen hilfreich ist. Zuletzt soll durch die Betrachtung erster Entwürfe für eine Integration Schlüsse gezogen werden, warum man die gegenseitige Anerkennung angewendet und welcher Nutzen darin gesehen wird.

Erwartung 2: Die Wahrscheinlichkeit einer Einigung der Mitgliedsstaaten auf eine Integrationsvertiefung steigt mit der Annäherung nationaler Präferenzen. Eine Einigung auf eine Integrationsvertiefung erfordert, dass alle Staaten Nettovorteile daraus ziehen, ansonsten werden sie von ihrem Vetorecht Gebrauch machen (Leuffen/Rittberger/ Schimmelfennig 2013: 53).

Um diese Erwartung zu untersuchen, muss zuerst die nationale Präferenzbildung der Staaten betrachtet werden. Wenn die nationalen Interessengruppen weniger Druck auf die Regierungen ausüben, haben diese einen größeren Handlungsspielraum, was eine zwischenstaatliche Übereinkunft erleichtert (Putnam 1988). Daraus ergeben sich die unabhängigen Variablen „Einflussnahme durch Interessengruppen“ (UV4) und „Interessenkonvergenz der Mitgliedstaaten“ (UV5). Um die Einflussnahme der Interessengruppen zu untersuchen, werde ich zuerst darlegen, was jeweils bei der Dienstleistungsrichtlinie und beim Europäischen Haftbefehl integriert wird und dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung unterliegt. Dadurch lassen sich die betroffenen Interessengruppen identifizieren, auf die die Integrationsvertiefung Auswirkungen hat. In einem zweiten Schritt wird dann untersucht, ob die Interessengruppen aktiv wurden und versucht haben, Einfluss zu nehmen. Dazu betrachte ich die Reaktion der Interessengruppen auf die Veröffentlichung des Entwurfs. Die tatsächliche Einflussnahme ist dann, ebenso wie die Interessenkonvergenz der Mitgliedstaaten, aus dem Verhandlungsprozess ersichtlich.

Erwartung 3: Die inhaltlichen Aspekte der Integration ergeben sich aus der Verteilung der Verhandlungsmacht. Der mächtigste Akteur bestimmt die Bedingungen der Integration nach seinen Interessen. Er kann erreichen, dass die anderen Akteure sein bevorzugtes Niveau der sektoralen Integration und der Zentralisierung akzeptieren (Leuffen/Ritt-berger/Schimmelfennig 2013: 53).

Sofern der mächtigste Verhandlungsteilnehmer also den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung unterstützt, wird dieses Mittel zur Integrationsvertiefung angewandt. Die letzte unabhängige Variable ist also die „Unterstützung des Prinzips durch den mächtigsten Akteur“ (UV6). Um den mächtigsten Akteur und dessen Präferenzen zu identifizieren, wird der Verhandlungsprozess zur Dienstleistungsrichtlinie und dem Europäischen Haftbefehl vor allem im Ministerrat dargelegt. Allerdings äußern sich das Kräfteverhältnis und die nationalen Präferenzen im Fall der Dienstleistungsrichtlinie auch im Europäischen Parlament, weshalb ich auf diese Debatten eingehen werde.

Im Folgenden werden die beiden Fälle nach dem eben dargelegten Forschungsdesign analysiert.

[...]

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Das Prinzip der Gegenseitigen Anerkennung in der Europäischen Union. Die Dienstleistungsrichtlinie und der Europäische Haftbefehl
Untertitel
Musterknabe oder Sorgenkind?
Hochschule
Universität Mannheim  (Fakultät für Sozialwissenschaften)
Note
1,7
Jahr
2013
Seiten
35
Katalognummer
V308187
ISBN (eBook)
9783668068056
ISBN (Buch)
9783668068063
Dateigröße
711 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
EU, Europäische Union, Regulierung, Europäische Integration, Gegenseitige Anerkennung, Mutual recognition, Dienstleistungsrichtlinie, Europäischer Haftbefehl
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Das Prinzip der Gegenseitigen Anerkennung in der Europäischen Union. Die Dienstleistungsrichtlinie und der Europäische Haftbefehl, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308187

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