Der Richter, sein Urteil und sein Gewissen. Analyse des Grenzbegriffs in den Filmen Kieślowskis


Hausarbeit, 2012

65 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Krzysztof Kieślowski (vgl. Cummings 2003)
2.1 Biografie
2.2 Filmografie und Wandel Kieślowskis
2.3 Die Handschrift Kieślowskis

3 Bildungsdimension Grenzen

4 Gewissen

5 Hintergrundinformationen
5.1 Eine kurze Geschichte Polens
5.2 Die Bedeutung der Kirche in Polen

6 Filme von Kieślowski
6.1 Die Narbe
6.2 Dekalog, 2
6.3 Drei Farben: Rot

7 Der Blick auf Kieślowski
7.1 Zerstörte Ideale
7.2 Suchende Charaktere
7.3 Entscheidungssituationen
7.4 Grenzen
7.5 Offene Enden

8 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Filmindustrie boomt und bringt jedes Jahr unzählige neue Filme auf den Markt. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, wird der neue Titel häufig auch mit bereits erreichten Erfolgen beworben. Dadurch werden nicht nur die Schauspieler zu Stilikonen, auch der Regisseur wird dem potentiellen Publikum als Qualitätsmerkmal präsentiert („Vom Regisseur von ... !"). Wenn bereits die vorigen Filme des Regisseurs gefielen, dann wird der neue Titel also wahrscheinlich auch gesehen.

Diese Annahme ist möglich, weil Filmemacher einen eigenen Filmstil entwickeln. Während Schauspieler jedes Mal in eine andere Rolle „hineinschlüpfen" müssen und sich so allein durch ihre schauspielerische Ausdrucksart voneinander abheben können (wie z.B. Johnny Depp durch seine Bewegungen und schrulligen Charaktere berühmt ist), entwickeln Filmemacher, eher zu vergleichen mit einem Autor, einen eigenen Filmstil. Dieser Stil, die jeweils persönliche Handschrift eines Filmemachers, kennzeichnet sich durch ein Set von filmischen und stilistischen, unter anderem auch inhaltlichen Mitteln, welches sich von anderen Filmhandschriften unterscheidet. Anhand einer solchen Handschrift ist es also möglich, von einem Film auf den Filmemacher zu schließen. Im Folgenden möchte ich mich auf die Handschrift des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski konzentrieren, der erst durch sein spätes Werk international bekannt wurde, bevor er sich aus dem Filmgeschäft zurückzog. Dabei möchte ich mich insbesondere auf die in Kieślowskis Werken thematisierten Grenzen fokussieren, die sich in einem Wirkungskomplex mit dem Gewissen befinden, ein Begriff, der immer wieder in seinen Filmen auftaucht. Die Forschungsfrage für diese Arbeit lautet demnach wie folgt:

Während seines Filmschaffens hat Kieślowski eine einzigartige Handschrift entwickelt, die neben anderen Merkmalen auch die Thematik der Grenzen beinhaltet. Dabei stehen seine Charaktere stets vor schwierigen Entscheidungssituationen, die sie mit ihrem Gewissen zu vereinbaren haben. Mit welcher Art von Grenzen und Grenzsituationen sehen sie sich dabei konfrontiert?

Diese Arbeit entstand im Rahmen des Seminars „Die Handschrift der Filmemacher" von Prof. Dr. Marotzki an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Zu Beginn dieser Arbeit möchte ich einen sehr knappen Abriss über Kieślowski selbst geben (2), seine Bio- sowie Filmographie und seine weiteren handschriftlichen Merkmale beschreiben, bevor ich den Bildungsinhalt von Grenzen in Filmen nach Marotzki und Jörissen zusammenfassen werde (3). Danach werde ich einen kurzen Abriss über das Gewissen geben, ein Begriff, der in Zusammenhang mit den Grenzen von Bedeutung sein wird, sich aber hier vom üblichen Verständnis abhebt (4). Zur Vorbereitung auf die Filme, die im Anschluss genauer vorgestellt werden, gebe ich zunächst auch einige Hintergrundinformationen zur Geschichte und Kirche Polens zu Lebzeiten Kieślowskis (5). Schließlich werde ich drei Filme Kieślowskis, auf die ich mich in dieser Arbeit besonders konzentrieren und als Beispiele verwenden möchte, näher vorstellen und einen inhaltlichen Einstieg bieten (6). Dieses Wissen werde ich danach nutzen, um auf ein komplexes Gefüge von Idealen, Entscheidungen, Grenzen und Gewissen in Kieślowskis Filmen hinzuweisen (7). Eine Zusammenfassung der Erkenntnisse erfolgt schließlich in einem letzten Fazit (8).

2 Krzysztof Kieślowski (vgl. Cummings 2003)

2.1 Biografie

Krzysztof Kieślowski wurde am 27.6.1941 in Warschau geboren. Sein Vater, der an Tuberkulose litt, zwang die Familie durch seine stete Suche nach Heilung zu häufigen Umzügen, sodass Kieślowski seine Kindheit in verschiedenen Städten und Sanatorien des kommunistischen Polens verbrachte. Teilweise lebten Kieślowski und seine Schwester aufgrund finanzieller Schwierigkeiten der Eltern in Kindersanatorien, die freien Raum und Verpflegung zur Verfügung stellten. Seine Freizeit verbrachte der junge Kieślowski, der aufgrund einer Lungenschwäche häufig das Bett hüten musste, hauptsächlich mit Lesen. 1957 begann er auf Drängen seines Vaters eine Ausbildung als Feuerwehrmann, die er kurz danach aber bereits wieder abbrach, als Kieślowskis Vater im noch jungen Alter von 47 Jahren starb. Fortan studierte Kieślowski an der Warschauer Hochschule für Theaterwissenschaften, mit dessen Direktor er verwandt war. Sein eigentliches Ziel, Theaterregisseur, setzte dort allerdings ein vorhergehendes einschlägiges Studium voraus. Er bewarb sich an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater Łódź, um dort Filmregie zu studieren, worin er Ähnlichkeiten zur Theaterregie sah. Die auch heute noch berühmte Schule ist Ursprungsort von polnischen Filmgrößen wie z.B. Andrzej Wajda und Krzysztof Zanussi. Kieślowski wurde zwei Mal in Folge abgelehnt. Während dieser Zeit arbeitete er im Theater als Kostümschneider, hatte aber auch kleine Stellen in Büros, um Geld für die Familie zu verdienen. Um nicht zum Wehrdienst gerufen zu werden, hungerte Kieślowski sich herunter, gab sich als mental instabil aus und begann zusätzlich noch ein Studium in Kunst. Seine dritte Bewerbung in Łódź wurde schließlich angenommen. Kieślowski studierte dort von 1964 bis 1968, sagte sich dabei vom Theater los und konzentrierte sich auf den Film. 1968 heiratete er seine einzige Frau Marysia, Anfang des Jahres 1972 kam Tochter Marta zur Welt. Kieślowskis filmisches Schaffen begann mit zahlreichen Dokumentationen, die er aber später aufgab und zum Spielfilm überwechselte. 1985 starb Kieślowskis Mutter bei einem Autounfall. Nach der Fertigstellung seines letzten Films, „Drei Farben: Rot", zog Kieślowski sich im Alter von 52 offiziell aus dem Filmgeschäft zurück, zum einen aus Erschöpfung (Kieślowskis spätere Werke wie die Filme des Dekalogs und die Drei Farben-Trilogie wurden innerhalb eines sehr engen Zeitraums produziert) und zum anderen wegen einer Frustration bezüglich des Mediums Film, vergleichbar mit der, die ihn bereits zum Wechsel von Dokumentar- zu Spielfilmen trieb. Seine Zeit verbrachte er nun - trotz seines Rücktritts - mit dem Schreiben einer weiteren Filmtrilogie, die er aber niemals fertig stellen sollte. Am 13.3.1996 starb er kurz nach der Premiere seines letzten Films „Drei Farben: Rot" an einem Herzinfarkt.

2.2 Filmografie und Wandel Kieślowskis

Nach einem ersten Blick auf Kieślowskis umfangreiche Filmografie lässt sich sein Schaffen eindeutig in drei verschiedene Abschnitte untergliedern, die auch einen Wandel in Kieślowskis Filmschaffen demonstrieren: Dokumentationen, sowie die polnischen und die ausländisch produzierten Filme.

Mit seinem Studium an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater Łódź begann Kieślowskis dokumentarische Phase. Vor seinem Studiumsabschlussfilm „Z miasta Łodzi" (Aus der Stadt Łodz) (1968) drehte er bereits zwei weitere Dokumentationen, „Urząd" (Das Amt) (1966) und „Zdęcie" (Das Foto) (1968). Wie die Filme seiner Kollegen konzentrieren sich auch Kieślowskis Dokumentationen trotz harter Zensur des kommunistischen Regimes auf die soziale Realität in Polen und markieren somit eine Gegenposition zur Propaganda. Es folgten weitere Filme in Bezug auf die angespannte politische Situation Polens (vgl. Kapitel 5.1), wie die interviewträchtigen Dokumentationen „Byłem żołnierzem" (Ich war ein Soldat) (1970), „Fabryka" (Die Fabrik) (1970) oder auch „Robotnicy '71: Nic o nas bez nas" (Arbeiter '71: Nichts über uns ohne uns) (1971), von denen letzterer aufgrund der Zensur nie veröffentlicht wurde. Erwähnenswert sind außerdem noch „Pierwsza miłość" (Erste Liebe) (1974), in dem Kieślowski ein junges Ehepaar von Schwangerschaft bis kurz nach der Geburt begleitet, sowie „Życiorys" (Lebenslauf) (1975), ein Film über ein Parteitreffen. Kieślowski vermischte seine Dokumentation bereits hier mit Fiktion - in dem Treffen, in dem über die individuelle Position von einzelnen Parteianhängern diskutiert wurde, schickte er einen Schauspieler mit gefälschtem Lebenslauf. Weil der Film von der Partei später für ihre eigenen Zwecke benutzt wurde, musste Kieślowski sich viel Kritik seiner Kollegen anhören, leugnete aber jede Kollaboration mit den Kommunisten. Weitere Dokumentationen Kieślowskis sind unter anderem „Szpital" (Krankenhaus) (1976), „Z punktu widzenia nocnego portiera" (Aus der Perspektive eines Nachtwärters) (1977) oder auch „Dworzec" (Bahnhof) (1980).

„Dworzec" war Kieślowskis letzte Dokumentation. Während dieser ersten Filme beschäftigte sich er zunehmend damit, wie die dokumentarische Kamera in das private Leben der Leute eindringt (ein Gedanke, den er später wieder filmisch aufgreifen sollte). Ausschlaggebend für das vollständige Loslösen von Dokumentationen war schließlich, dass die Aufnahmen von „Dworzec" von der Polizei eingezogen wurden, in der Hoffnung, damit ein Verbrechen aufzuklären. Kieślowski zog sich nach diesem Vorfall aus der Dokumentation zurück und wandte sich der Fiktion zu. Kieślowskis einzige non-dokumentarischen Werke waren zu der Zeit „Tramwaj" (Die Straßenbahn) (1966), „Koncert życzeń" (Das Wunschkonzert) (1967) sowie „Przejście podziemne" (Unterführung) (1973). Sein erster Spielfilm war der sehr biografische Film „Personel" (Das Personal), in dem ein junger Mann beginnt, beim Theater als Kostümschneider zu arbeiten. Dem Film merkt man Kieślowskis stilistischen Ursprung aus der Dokumentation deutlich an, auch der politische Bezug bleibt bestehen. Seine nachfolgenden Werke wie etwa „Blizna" (Die Narbe) (1976), „Spokój" (Gefährliche Ruhe) (1976), „Amator" (Der Filmamateur) (1979), der Kieślowski das erste Mal auch internationale Aufmerksamkeit einbrachte, „Krótki dzień pracy" (Ein kurzer Arbeitstag) (1981) sowie „Przypadek" (Der Zufall möglicherweise) (1981), von dem ein großes Stück wieder unter die Zensur fiel, lassen sich alle dem Kino der moralischen Unruhe zuordnen (ca. 1975-1981), einer Vereinigung mit anderen namhaften Filmemachern wie unter anderem Wajda, Zanussi und Holland, deren Filme sich auf die sozialen Realitäten Polens und die emotionale Stimmung des Landes unter dem Kommunismus konzentrieren. Gleichzeitig entwickelt sich Kieślowski auch weiter, seine Filme rücken allmählich von dem noch trotz des fiktionalen Inhalts in „Personel" streng herrschenden filmisch-dokumentarischen Stil ab und werden zunehmend ästhetischer (besonders beeindruckend: die Einstiegsszene von „Przypadek"). Nachdem 1981 das Kriegsrecht in Polen ausgerufen wurde, erschwerte sich die Arbeit der Künstler in Polen erheblich. Kieślowskis nächster Film „Bez końca" (Ohne Ende) erschien erst 1985. Für diesen Film schloss er sich sowohl mit Krzysztof Piesiewicz, einem Anwalt, mit dessen Hilfe er das Skript zusammenstellte als auch mit Zbigniew Preisner, einem Komponisten, zusammen. Beide begleiteten ihn in seinem weiteren Schaffen, Preisners Filmpseudonym Van den Budenmayer zieht sich fortan wie eine Spur durch die Filme. Und obwohl „Bez końca" immer noch engeren politischen Bezug hat, wendet sich Kieślowski hier noch intensiver als in den Vorgängertiteln mit Hilfe von diversen Momentaufnahmen der inneren Lebenswelt der Charaktere zu.

Mit seinem nächsten Werk, dem „Dekalog" (1988/1989), ein Zusammenspiel aus zehn verschiedenen Filmen, verabschiedet sich Kieślowski von der politischen Thematik. Obwohl die Filme auf jeweils einem der Zehn Gebote basieren, sind es keineswegs religiöse oder belehrende, sondern primär dramatische Titel. Mit dem „Dekalog" erhielt Kieślowski auch erstmalig im Westen Beachtung. Aus „Dekalog, 5" und „Dekalog, 6" entstanden schließlich noch die um jeweils 30 Minuten erweiterten Fassungen „Ein kurzer Film über das Töten" und ein „Ein kurzer Film über die Liebe". Ursprünglich war auch eine längere Version des „Dekalog, 9" als „Ein kurzer Film über die Eifersucht" angedacht. Nachdem Gorbatschows Perestroika die polnische Solidarnosc wiederbelebte und Polen schließlich zu einem demokratischen Staat wurde, verlagerte Kieślowski seine Arbeit auf internationale Koproduktionen. Das erste Produkt dieser Zusammenarbeit ist der Film „La Double vie de la Véronique" (Die zwei Leben der Veronika) (1991). Kieślowskis dokumentarische Vorarbeit und seine politischen Bezüge sind an dieser Stelle wie vergessen und er konzentriert sich allein auf die Verbindungen der polnischen Weronika und der Französin Véronique. Seine letzten Filme bilden eine lose Trilogie, basierend auf den Idealen der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - „Drei Farben: Blau", „Drei Farben: Weiß" und „Drei Farben: Rot", die sich stilistisch an „Die zwei Leben der Veronika" orientieren. Nach seinem Rücktritt arbeitete Kieślowski bis zuletzt an einer auf Dantes Komödie basierenden Trilogie, „Himmel", „Hölle" und „Fegefeuer". Nach seinem Tod war allein das Drehbuch für „Himmel" abgeschlossen, inzwischen von Tom Tykwer unter dem Namen „Heaven" verfilmt. Piesiewicz stellte die beiden anderen Drehbücher fertig, aus „Hölle" wurde schließlich „Wie in der Hölle" von Danis Tanović und aus „Fegefeuer" „Hope" von Stanislaw Mucha.

Kieślowski hat in seinem Filmwerk also nicht nur einen Wandel vom Dokumentar- zum Spielfilm gemacht. Er wandte sich von politischen Themen ab hin zur inneren Lebenswelt seiner Figuren, konzentrierte sich dadurch zwangsläufig immer weniger auf die Gesellschaft, sondern auf das Individuum und entwickelte am Ende seiner Karriere, insbesondere durch „Drei Farben: Rot", einen Weg vom die frühen Filme prägenden Pessimismus zu einem ungeahnt optimistischen Weltbild. All diese Veränderungen vollziehen sich dabei in einem zunehmend ästhetischen Filmstil, der vom frühen dokumentarischen abweicht und zunehmend Detail- und Naheinstellungen, Kamerafahrten und Perspektiven enthält.

2.3 Die Handschrift Kieślowskis

Trotz und vielleicht auch gerade wegen dieser Wandlungen in Kieślowskis Filmen sticht seine Handschrift, d.h. Merkmale, die in einem Großteil seiner Filme vorzufinden sind, besonders hervor und sollen an dieser Stelle kurz aufgeführt werden. In dieser Betrachtung konzentriere ich mich allein auf die Spielfilme Kieślowskis und beginne damit erst 1975, als Kieślowski schon neun Jahre Dokumentationsfilme absolviert hatte.

In seiner Spielfilmzeit von 1975 bis zu seinem Rücktritt 1993 führte Kieślowski bei insgesamt 23 Filmen die Regie. Dennoch stehen sich diese Werke trotz Kieślowskis Veränderung bezüglich politischer Themen inhaltlich nahe. Wahrheit und Lüge, Gott, der Sinn des Lebens, Verantwortung, Einsamkeit und Trauer, Tod und Leben, Liebe und Sexualität, Keuschheit, Treue, Erinnerung und Vergessen sowie Begierde sind nur einige der zahlreichen in den Filmen angesprochenen Inhalte. Es handelt sich folglich um ethische und existenzielle Problematiken, in denen Kieślowski aber nie belehrend oder als Vertreter einer Moral auftritt, sondern als jemand, der Fragen aufwirft, diese beleuchtet, aber schlussendlich doch offen für den Zuschauer zurücklässt. Der Schwerpunkt des Films liegt stets auf den Dialogen der Charaktere, die sich mit eben diesen Thematiken konfrontiert sehen, darüber verhandeln, sich selbst Fragen stellen. In den späteren Werken erfolgen diese Gespräche mit sich selbst zunehmend stumm und sind über markante Detailaufnahmen wiedergegeben. Dabei filtert sich ein grobes Narrationsschema für die verschiedenen Filme heraus: In einem ersten Schritt erblickt einer der Charaktere etwas Fremdes und Unbekanntes, wobei es sich weniger um Gegenstände, sondern vielmehr um fremde Menschen oder auch fremde Ideen oder Prinzipien handelt. Im Laufe des Films wird die Distanz zwischen dem Eigenen und dem Fremden nach und nach überwunden, sodass das Fremde am Ende verstanden, wenn auch nicht zwangsläufig akzeptiert wird.

Ein weiteres Merkmal für Kieślowskis Filme ist die laute, auffallende Orchestermusik, die insbesondere seit der Zusammenarbeit mit Preisner immer markanter auftaucht und in „Drei Farben: Blau" ihren Höhepunkt erreicht.

Das sind selbstverständlich noch nicht alle Merkmale, die zu Kieślowskis Handschrift gezählt werden können. Im Laufe dieser Arbeit habe ich mich insbesondere mit den verschiedenen Grenzen in Kieślowskis Filmen beschäftigt, die insbesondere im „Dekalog" gut zu beobachten sind. Diese unterschiedlich typisierten Grenzen möchte ich im Folgenden als Grenzen, die Lebensweisen in Frage stellen, präsentieren. Diese Grenzen stehen in einem komplexen Wirkungsgeflecht, in dem zusätzlich die für die Kieślowskis typischen enttarnten Ideale (kommunistische Propaganda, die Zehn Gebote sowie die Tricolore), einsame und suchende Charaktere, teilweise durchaus kritische Entscheidungssituationen sowie die durchgängig offenen Enden, in denen die eigentliche Narration des Films zwar abgeschlossen ist, die Zukunft der Charaktere aber ungewiss bleibt, von Bedeutung sind. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zu einem differenzierenden Gewissen, dass in Kapitel 4 vorgestellt wird. Auf diese Merkmale möchte im Folgenden genauer eingehen, um ihre Wirkungsweise auf die Kieślowskischen Grenzen hervorzuheben. Zuvor soll allerdings allgemein erläutert werden, worin der Bildungsgehalt von Grenzen innerhalb von Filmen liegt.

3 Bildungsdimension Grenzen

(vgl. Jörissen, Marotzki 2009, S. 67ff.)

Jörissen und Marotkzi (2009) zeigen auf, wie Filme „hinsichtlich ihres Bildungswertes beurteilt werden, indem sie unter den vier verschiedenen Dimensionen (Wissens-, Handlungs-, Grenz- und Biographiebezug) betrachtet werden (können)" (S. 60). Ein Bildungsgehalt liegt folglich immer dann vor, wenn Reflexionen in diese Richtungen möglich sind (vgl. ebd.).

„Hinsichtlich der Reflexion auf Grenzen und Grenzüberschreitungen sind Filme dann bildungsmäßig wertvoll, wenn sie schwierige menschliche Grenzprobleme in ihrer Komplexität zur Geltung bringen, so dass das Bild dessen, was Menschsein bedeutet thematisiert wird" (ebd., S. 67). Es handelt sich dabei also um eine Differenz zwischen einem Sein, aber auch einem möglichen anderen Sein. Eine thematisch häufig angesprochene Grenze ist die zwischen Leben und Tod, oft auch in Bezug auf Sterbehilfe. Bekannte Filme über die Sterbehilfe sind beispielsweise „Das Meer in mir" (2004) von Alejandro Amenábar oder Clint Eastwoods „Million Dollar Baby" (2004), in dem eine junge, aber sehr erfolgreiche Boxerin nach einem Kampf um die Weltmeisterschaft durch einen unfairen Schlag fortan von Hals abwärts gelähmt ist und folglich nie mehr boxen kann. Sie bittet ihren Trainer, ihre Lebenserhaltungsgeräte abzuschalten, wozu er sich nach einem missglückten Selbstmordversuch der jungen Frau schließlich auch durchringt. Weitere Filme zur dieser Grenze sind beispielsweise auch Ingmar Bergmanns „Das siebente Siegel" (1956), in dem der Tod persönlich auftritt, oder auch Till Franzens „Die blaue Grenze" (2005). Die blaue Grenze scheint dabei ein Ort zu sein, in dem die Toten weilen. Der alten und schwerkranken Großmutter Lenes gelingt es dabei sogar, zwischen der „Welt" und der blauen Grenze hin- und herzuwechseln, so begegnet sie beispielsweise dem bereits vorher verstorbenen Vater des Protagonisten Momme und leitet seine warnenden Worte aus der blauen Grenze in die „Welt" weiter. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist demnach zwar aber da, scheinbar aber nicht unüberwindbar. Eine ähnliche Position findet man in Kieślowskis „Ohne Ende", in dem gleich zu Beginn ein junger Anwalt und Vater stirbt, allerdings in der „Realität" verbleibt, aber nicht mehr auf sie einwirken kann und somit nur bobachtet, wie die Zurückgebliebenen mit der neuen Situation umgehen. Nur einem Hund gelingt es dabei, den „Geist" des Anwalts wahrzunehmen. Eine weitere Perspektive bieten Filme über die Todesstrafe wie unter anderem „Dead Man Walking" (1995) von Tim Robbins oder auch Kieślowskis „Ein kurzer Film über das Töten" (1988) bzw. „Dekalog, 5" (1988).

Neben Grenzen, die den Tod tangieren, sind auch Filme über Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn häufiger vertreten, wie u.a. „Das weiße Rauschen" (2001) von Hans Weingartner, Ron Howards „A beautiful mind" (2001), Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest" (1975) oder auch Stanley Kubricks „Shining". In „Shining" nimmt Buchautor Jack eine Stelle als Hausmeister in einem luxuriösen, aber sehr abgeschiedenen Hotel an, um in Ruhe an seinem neuen Buch zu schreiben. Er, seine Frau und sein Sohn ziehen trotz der Warnung des Direktors, ein früherer Hausmeister hätte seine Familie und sich selbst in einem Anfall von Trapperfieber umgebracht, ein. Bald darauf beginnt der Wahnsinn: der Sohn Danny, der hellseherische Fähigkeiten besitzt, hat immer wieder Visionen der getöteten Kinder und blutgefüllter Fahrstühle, und auch Jack sieht häufiger überfüllte Hotelräume und den toten Hausmeister, der ihm schließlich befiehlt, seine Familie zu töten.

Zuletzt sei an dieser Stelle neben zahlreichen weiteren in Filmen thematisierten Grenzen die Grenze zwischen Natur und Technik bzw. zwischen Menschen und künstlichen Wesen erwähnt, wie beispielsweise in „Matrix" (1999) von Larry und Andy Wachowski, Steven Spielbergs „A.I. - Künstliche Intelligenz", oder auch „Edward mit den Scherenhänden" (1990) von Tim Burton.

4 Gewissen

Weil im Laufe dieser Arbeit immer wieder auf das Gewissen eingegangen wird, soll zuvor noch einmal ein Blick auf diese komplizierte Thematik geworfen werden. Was ist eigentlich das Gewissen? Bei „Gewissen" denkt man primär an das „schlechte Gewissen", dass wohl jeder Mensch in seinem Leben mehr oder weniger oft in sich wahrnimmt. Ein schlechtes Gewissen zu haben bedeutet, sich falsch entschieden zu haben, zu bereuen, etwas „Falsches" gemacht zu haben. Damit erscheint es auf den ersten Blick als eine Form von innerer Moral. Das Gewissen ist uns angeboren. Naturwissenschaftler haben gemessen, dass spezielle Hirnregionen bei moralischen Entscheidungen aktiv sind (vgl. Schockenhoff, Florin 2009, S. 9f.). Mit Hilfe von Internettests untersuchte der Psychologe Marc Hauser, ob sich das Gewissen über Altersgruppen, gesellschaftliche Klassen und die verschiedenen Kulturen hinwegsetzt. Die Testsituation stellte folgendes Problem: „Sie stehen neben einem Bahngleis an einer Weiche. Ein außer Kontrolle geratener Waggon rast auf fünf Eisenbahnarbeiter zu. Auf einem Seitengleis steht ein einziger Mann. Bleibt die Weiche unverändert, wird der Waggon die fünf Arbeiter töten. Legen die Testpersonen den Hebel um, werden die fünf gerettet, der Mann am Seitengleis stirbt" (vgl. ebd., S. 10). Die Frage ist also primär, ob einer oder mehrere Menschen sterben sollen. Tatsächlich entschieden sich ca. neun von zehn, die fünf zu retten auf Kosten des Einzelnen, was von Hauser als "'Moralinstinkt'" (ebd.) interpretiert wird (vgl. ebd.).

Unabhängig davon, ob das Gewissen nun tatsächlich wissenschaftlich nachweisbar ist, gilt doch vor allem eines: „Dieser entscheidende Helfer gehört zur menschlichen Grundausstattung, er ist unabhängig von Kultur, Bildung und Kontostand" (ebd., S. 9). Gewissen kommt immer dann ins Spiel, wenn es gilt eine Entscheidung zu treffen. Aber wer entscheidet, der kann auch Fehler begehen (vgl. ebd., 8) und eben daraus entwickelt sich ein schlechtes Gewissen. „Es gibt nur ein einziges Indiz für die Echtheit der Gewissensentscheidung, das ist die Bereitschaft des Betreffenden, eine unangenehme Alternative in Kauf zu nehmen" (Spaemann 1991, S. 84). Es geht dabei primär um die Verantwortung für das eigene Handeln. Gewissen und auch Gewissensentscheidungen sind außerdem im Gesetz verankert, es ist also durchaus möglich, mit seinem Gewissen zu argumentieren. Das Bundesverfassungsgericht formulierte in seinem Beschluss vom 20.12.1960 - 1 BvL 21/60 -: "Als eine Gewissensentscheidung ist jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von 'Gut' und 'Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte" (BVergG 12, 45, S. 55).

Die Meinungen über das, was das Gewissen eigentlich ist, teilen sich. Für Nietzsche ist es „die tiefste Erkrankung" (Aslam-Malik 1995, S. 9), für Sokrates „etwas Göttliches, eine Stimme, die dem Menschen von Jugend an innewohnt und ihn von Schlechten abhält" (ebd.), für Sumatra „eine kleine Trommel" (ebd.) und schließlich noch „die veränderlichste aller Normen" (ebd.) laut Marquis de Vauvenargues. Es gibt also philosophische, moraltheologische und auch juristische Ansätze (vgl. weiterführend Höver, Honnefelder 1993).

Rosseau erkennt das Gewissen als „unmittelbarer und emotionaler, jedoch indirekter Zugang zur Natur" (Weiß 2004, S. 70), Kant beschreibt es als einen inneren Gerichtshof, in dem der Mensch sich selber anklagt (vgl. ebd., S. 113), während Herbart überzeugt war: „'Das Gewissen geht mit in die Oper!'" (vgl. ebd., S. 135).

„Wenn Rosseaus instinktive Stimme der Natur verstanden wird als eine in der Person verortete Instanz; wenn Kants Aussage, dass das Gewissen nicht irren kann, derart interpretiert wird, dass es verlässliche Urteile über die Handlung erteilt; und wenn Herbarts ästhetische Urteile nicht nur für notwendig, sondern auch für verallgemeinbar gehalten werden, dann entsteht folgende Vorstellung: Gewissen sei eine innere Instanz, die mit absoluter Normativität klare Antworten, eindeutige Urteile und präzise Unterscheidungen zwischen gut und böse gibt und damit die Identität der Person bewahrt" (ebd., S. 197). Petzelt und später auch darauf aufbauend Schurr teilen diese Meinung nicht. Sie gehen davon aus, dass das Gewissen selbst Bildungsprozesse im Subjekt auslöst (vgl. ebd., 189). Weiß (2004) schlägt daraufhin vor, Gewissen als eine Art „'Platzhalter'" (S.191) zu denken, „der die Differenz im Subjekt offenhält" (ebd.). So gesehen steht dem Individuum also ein anderes Ich gegenüber, das alle Entscheidungen und Handlungen hinterfragt. Das Gewissen kennzeichnet sich in diesem Verständnis durch Skepsis, indem es Handlungen verhindert, „ohne zu wissen, was zu tun oder zu lassen ist" (ebd.). Jegliche Maßstäbe, Richtlinien und Orientierungen verlieren so an Bedeutung, das Gewissen ist demnach nicht an ein Handeln oder Wissen gebunden (vgl. ebd.). Stattdessen stellt das skeptische Gewissen Handlungen bzw. Handlungsoptionen, unter anderem auch die ganze Lebensweise in Frage, wodurch Bildungsprozesse initiiert werden (vgl. ebd.).

„Gewissen, versuchsweise gedacht als das Distanzierende, Differenzierende und Irritierende, das in skeptischer Manier Wissen hinterfragt, Gewissheiten aufbricht und von Handlungen zurückhält, gibt weder sichere Urteile noch hat es verlässliche Maßstäbe. Das Fraglichwerden von einzelnen Handlungen bis zur gesamten Lebensweise im Gewissen kann eine Öffnung zur Suche nach neuen Antworten zur Folge haben und damit Bildungsprozesse auslösen" (vgl. ebd., S 198). Dieses Verständnis von Gewissen wird im Zusammenhang mit der Handschrift Kieślowskis, insbesondere den Grenzen, wieder aufgegriffen werden.

5 Hintergrundinformationen

Weil Kieślowskis frühe Spielfilme sich eng auf die politisch-wirtschaftliche Situation in Polen beziehen, soll an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung sowohl über die Politik als auch über die Kirche in Polen gegeben werden. Gerade im Hinblick auf die in dieser Arbeit behandelten Filme sind diese Informationen interessant, so finden sich mehrere Parallelen zwischen der tatsächlichen Entwicklung im Land und der Situation in „Die Narbe" (Kapitel 6.1), und helfen so, den Film besser zu verstehen.

5.1 Eine kurze Geschichte Polens

(vgl. Siedlarz 1996; Hüber, Hüber 2008)

Kieślowski lebte von 1941 bis 1996, einer schwierigen Zeit für Polen, während nicht nur die Kriegserfahrungen verarbeitet werden mussten, sondern das Land zunehmend auch unter dem kommunistisch-sowjetischen Regime litt, vergleichbar mit der DDR. Dieses Kapitel soll diese umfangreiche Zeit kurz zusammenfassen, um hervorzuheben, in welchen Verhältnissen die frühen Spielfilme Kieślowskis entstanden.

Die Jahre 1944/45 bis 1947 sind primär durch die Nachkriegserfahrungen geprägt. Noch vor Kriegsende wurde die Grenzverschiebung Polens beschlossen, wodurch zahlreiche Menschen umsiedeln mussten. 1947 fand die erste Wahl für ein verfassungsgebendes Parlament statt. Der überwältigende Wahlsieg durch die Linkspartei PPR, die eine Minderheit im Land repräsentierte, war nur durch Verfälschung des Wahlergebnisses möglich. Mit den Machtbestrebungen dieser Partei löste sich Polen zunehmend vom Westen und wandte sich stattdessen der Sowjetunion und deren Verbündeten zu. Die Volksrepublik Polen wurde gegründet. Die Jahre 48 bis 56 kennzeichnen eine Phase des Stalinismus. Die 'Moskowiter' (d.h. die Moskautreuen) hatten führende Positionen in Wirtschaft, Staat und Armee inne und trieben somit die Stalinisierung weiter voran, die auch durch den Tod Stalins im März 1953 - im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten - keinen Abbruch fand. Erst als unter Chruschtschow 1956 Edward Ochab zum faktischen Staatsoberhaupt gewählt wurde, begann in Polen eine Phase der Entstalinisierung, die sich in personellen Veränderungen und Amnestie ausdrückte. Durch fehlende Neuerungen im Wirtschaftssystem sowie durch die mangelhafte Versorgungslage kam es dennoch circa ein halbes Jahr später zum „Posener Aufstand", der durch polnische und sowjetische Truppen blutig niedergeschlagen wurde. Die Jahre 1956 bis 1970 sind die Ära Gomułkas. Seit 1950 verzeichnete Polen einen extremen Bevölkerungszuwachs, was nicht nur zu einer hohen Arbeitslosenquote insbesondere unter den jungen Menschen, sondern auch zu Wohnungs- und Nahrungsmittelmangel führte. Insbesondere dem Fleischkonsum konnte die PZPR (die Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) nicht gerecht werden, was sich in Preiserhöhungen und damit in Unruhen in der Bevölkerung wiederspiegelte. 67/68 spitzte sich die Situation zu, als ein bekanntes Theaterstück überraschend nach wenigen Aufführungen abgesetzt wurde, da die polnische Führung dieses als antirussisch bezeichnete, obwohl sich die betroffenen Passagen auf den 1721 abgeschafften Zarismus bezogen, der dem Russischen Kaiserreich weichen musste. Im März kam es infolgedessen zu diversen Kundgebungen an Hochschulen, es gab zahlreiche Verhaftungen und Festnahmen. Gomułka, der sich vor allem durch seine Sparsamkeit auszeichnete, missachtete weiterhin die angespannte wirtschaftliche Lage und ignorierte die Konsumwünsche nach „Luxus", wie unter anderem Autos oder Fleisch. Die aufgeladene wirtschaftliche Situation zog immer wieder Ausschreitungen nach sich, in die teilweise sogar die Miliz eingreifen musste. Als Ende 1970 erneut die Preise für Nahrungsmittel erhöht wurden, kam es vermehrt zu Streiks, die auch Todesopfer forderten. Das Volk wurde angesichts dieser Hoffnungs- und Ausweglosigkeit zunehmend apathisch. Zu dieser Zeit wurde Gomułka von Giereck abgelöst, der von 1970 bis 1980 Parteichef war und neue Versprechungen an das Volk machte. Nach einer kurzen Pause wiegelte sich die Situation allerdings wieder auf, es folgten erneut Unruhen und Streiks, die die folgenden Jahre andauerten. Insbesondere der Nahrungsmittelmangel, allen voran bei Fleisch, war Grund für die Ausschreitungen. Die Jahre 80 bis 83 waren durch die Solidarność gekennzeichnet, die insbesondere an Bedeutung gewann, als 81 der Kriegszustand in Polen verhängt wurde. Die folgenden Demonstrationen im Jahr 82 mit ihren Toten bedeuteten vor allem Mitgliederverluste für die Partei. Die Streiks der Solidarność dagegen führten hauptsächlich dazu, dass sie im Land bekannter wurde. Schließlich sorgten die Unruhen dafür, dass 82 der Kriegszustand aufgehoben wurde, aber weiterhin spezielle Sondergesetze galten. Enttäuschung und Resignation machte sich unter der Bevölkerung breit. Mit der Aufhebung des Kriegszustands begann allerdings auch die Endphase des Kommunismus, die sich noch bis zum Jahr 1989 und der Gründung des Dritten Polnischen Reichs fortsetzte.

5.2 Die Bedeutung der Kirche in Polen

(vgl. Siedlarz 1996)

An dieser Stelle soll nun noch kurz die Rolle der Kirche im sozialistischen Polen erläutert werden, die insbesondere deswegen interessant ist, weil sie sich von der anderer Ostblockstaaten unterscheidet. Kieślowski selbst war kein religiöser Mensch, obwohl er - wie die große Mehrheit der Polen - katholisch erzogen wurde. Trotz der langen Geschichte des Katholizismus in Polen und dem kirchenverbundenen Volk, auch immun gegen Einflüsse aus der (russischen) Orthodoxie und den Protestantismus, wurde er nie die Staatsreligion. Vor allem die Grenzverschiebungen nach Kriegsende machten aus Polen wieder ein annähernd rein katholisches Land. Dennoch konnte sich die bedeutsame Kirche nicht auf die Unterstützung des Parteiregimes verlassen. Ihr materieller Wiederaufbau nach dem Krieg, der auch zahlreiche KZ-Opfer unter den Geistlichen gekostet hatte, ging allerdings dank der freiwilligen und unbezahlten Hilfe der Bevölkerung zügig vonstatten. In der Nachkriegszeit beschränkte die Kirche ihre Aufgaben auf caricative Hilfe für das Volk und die Ausbildung neuer Priester. Zusätzlich wurde der damalige Kardinalprimas Hlond vom Vatikan mit den notwendigen Rechten für eine Neuordnung der Kirche in Polen ausgestattet, um die neu hinzugenommenen Gebiete nach der Grenzverschiebung zusammenzufassen. Zur Zeit der Stalinisierung (1948 - 1956) spitzen sich die Maßnahmen des Staates gegen die Kirche dramatisch zu. Es kam infolgedessen zur Schließung katholischer Schulen, Verhaftungen von Geistlichen, die Verstaatlichung ihrer Druckereien und atheistischer Propaganda. Dennoch standen die Polen hinter der Kirche, und sie schloss mit der Volksrepublik zunächst ein Abkommen, dass ihr zumindest noch einige wenige Rechte sichern sollte, bevor sie wie die Kirchen anderer Ostblockstaaten in einen kulturellen Binnenraum vertrieben wurde. Das umstrittene Abkommen wurde später vom Staat gebrochen. In den Jahren 1951 bis 1953 kam es zur offenen Verfolgung von Geistlichen und Gläubigen, die weitere Verhaftungen mit sich zog. Die Kirche suchte vergeblich das Gespräch mit der sozialistischen Führung. In der Ära Gomułkas nahm die Bedeutung der Kirche für die Menschen weiter zu, als sie dennoch für Menschenrechte und Minderheiten trotz der Opposition des Staates einstand. Geistliche erhielten außerdem ihre Rechte wieder zurück, auch der verhaftete Primas wurde freigelassen, allerdings musste die Kirche von nun an Steuern zahlen, wodurch sie von Spenden der armen Bevölkerung abhängig war. Neue Kirchen durften nicht gebaut werden. Der Beginn der Regierungszeit Gierecks 1970 kennzeichnet eine Phase der Entspannung. Dabei entstand zwar kein Dialog zwischen Staat und Kirche, aber es kam auch nicht zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts. 1975 spitzten sich die auferlegten Regeln und damit die Konflikte erneut zu. Dennoch erhielt die katholische Kirche einen unerwarteten Aufschwung, als 1978 Johannes Paul II erster polnischer Papst wurde. Daraufhin wurden einige Forderungen der polnischen Kirche vom Staat erfüllt, es durften beispielsweise wieder neue Gotteshäuser gebaut werden. Die Kirche begann außerdem damit, sich nun öffentlich für die Opposition einzusetzen, rief aber immer wieder zu friedlichen Gesprächen auf. Die Konsequenzen spürte die Kirche insbesondere 1982, als sie vom Staat zur Beruhigung des Volks benutzt wurde, von der Bewegung der Solidarność dagegen als Sprachrohr für deren Forderungen. In der Endphase des Kommunismus 1983 bis 1989 nahmen die Konfrontationen zwischen Kirche und Staat beständig zu, indem wurden Kreuze in Schulen verboten und ein Geistlicher ermordet wurden. Die Kirche nahm so im Volk eine quasipolitische Position ein. Erst 1989 gelang der Durchbruch, als Kirche-Staat-Beziehungen durch ein Gesetz reguliert wurden und Polen sich so als erster kommunistischer Staat mit Religionsfreiheit etablierte.

6 Filme von Kieślowski

Im Folgenden sollen kurz drei Filme von Kieślowski vorgestellt werden, anhand derer ich im Anschluss das Gefüge aus Entscheidungen und Gewissen aufzeigen möchte. Die Auswahl der Filme erfolgte anhand der in ihnen vorgestellten Ideale (vgl. Kapitel 7.1), um von jedem Fall ein Muster zu haben. Gleichzeitig orientiert sich die Auswahl aber auch an bereits vorgestellten Arbeitsphasen Kieślowskis. Seine Dokumentationen sind aus dieser Arbeit zwar ausgeklammert, aber die Beispiele stammen aus der frühen („Die Narbe") und der späteren Phase („Dekalog, 2") seiner polnischen Spielfilme. Des Weiteren ist auch ein Exemplar der ausländischen Produktionen aufgenommen worden („Drei Farben: Rot"), sodass letzten Endes wieder drei Arbeitsphasen entstanden sind.

[...]

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Der Richter, sein Urteil und sein Gewissen. Analyse des Grenzbegriffs in den Filmen Kieślowskis
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Die Handschrift der Filmemacher
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
65
Katalognummer
V308276
ISBN (eBook)
9783668068155
ISBN (Buch)
9783668068162
Dateigröße
748 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
richter, urteil, gewissen, analyse, grenzbegriffs, filmen, kieślowskis
Arbeit zitieren
Ina Draijer (Autor:in), 2012, Der Richter, sein Urteil und sein Gewissen. Analyse des Grenzbegriffs in den Filmen Kieślowskis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308276

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