Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung: Entgegen besseren Wissens ... 3
B. Die theoretischen Grundlagen einer politischen Bewusstseinbildung
... 4
I. Die vorpolitische Sozialisation in der Kindheit ... 4
II. Die politische Sozialisation und Identitätsbildung in der Adoleszenz
... 5
1. Moralische Entwicklung und politische Sozialisation ... 5
2. Politische Identitätsbildung als Entwicklungsaufgabe ... 6
3. Instanzen politischer Sozialisation im Jugendalter
... 6
3.1 Die Familie ... 6
3.2 Die Gleichaltrigen ... 7
3.3 Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden wichtigen Instanzen
... 8
4. Soziale Ungleichheit und politische Sozialisation ... 8
C. Herausforderungen der politischen Bildung in der Bundesrepublik ...
9
I. Anspruch der Demokratie an die politische Sozialisation ... 9
II. Gesellschaftliche Entwicklungen und Wertewandel ... 10
1. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik
... 10
2. Die Wiedervereinigung ... 12
3. Aktuelle Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung
... 13
III. Konsequenzen für die politische Bildung ... 13
D. Resümee: Politische Bildung als Gegenmittel für Demokratieverdrossenheit ... 15
Literaturverzeichnis ... 16
A. Einleitung: Entgegen besseren Wissens
Den Rückzug der Politik und die Abkehr vieler Einzelner, insbesondere der Jugendlichen, von ihrer Verantwortung für das politische System, hatte Gerhard Schröder, damaliger Bundeskanzler der Bundesrepublik, bereits im Jahr 2000 öffentlich beklagt. Er forderte daraufhin die notwendigen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fähigkeiten zu fördern, weil für eine freiheitlich demokratische Ordnung die Eigenverantwortung ihrer Bürger und deren aktive Teilnahme am politischen Geschehen maßgeblich wären.[1]
Nicht erst seit dem Jahr 2000 ist Politikverdrossenheit in aller Munde. Neu und alarmierend ist jedoch, dass dieser Politikverdrossenheit neuerdings eine Demokratieverdrossenheit, also eine Unzufriedenheit mit dem System, zugrunde liegt, wie das jüngste Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zeigt. [2] Diese Systemverdrossenheit lässt sich unter anderem auf einen Mangel an politischer Bildung zurückführen. Trotz der Kenntnis dieser Tatsache ist es bei politischen Lippenbekenntnissen und der Forderung nach politischer Bildung geblieben, ohne diese jedoch tatsächlich zu fördern. Im Gegenteil, insbesondere nach den Ergebnissen der PISA-Studien wurde die politische Bildung zugunsten der Förderung naturwissenschaftlichen Fächer weiter zurückgedrängt.
Dabei könnte sich gerade die Systemverdrossenheit, aufgrund eines Informationsmangels über das System und die für das System essenzielle Notwendigkeit der politischen Partizipation als Chance für die Politik erweisen. Falls dies nämlich der Fall sein sollte, könnte die Politik mit einer wiedereingeführten politischen Bildung, im Sinne von Werteerziehung, dagegen steuern. Sollte sich die Politikverdrossenheit dagegen als Ergebnis einer tiefergehenden, bewusst reflektierten Systemunzufriedenheit herausstellen, wird es die Politik ungleich schwerer haben diese Systemkritik durch Abwesenheit politischer Beteiligung zu beheben.
Diese Arbeit zeichnet nun in einem ersten Schritt die theoretischen Grundlagen der politischen Sozialisation nach. In einem zweiten Schritt werden die Herausforderungen der politischen Bildung im Kontext des Werte- und Gesellschaftswandels analysiert. Abschließend werden die sich aus der Analyse ergebenden Konsequenzen für die politische Bildung erörtert, welche zu einer Überwindung der Systemverdrossenheit beitragen könnten.
B. Die theoretischen Grundlagen einer politischen Bewusstseinbildung
I. Die vorpolitische Sozialisation in der Kindheit
Eines der Zentren jeder gesellschaftlichen und politischen Ordnung liegt in der Familie, weil sie die erste Instanz moralischer Sozialisation und das Umfeld der prägenden Kindheit darstellt. Seelisch ist der Mensch nämlich das, was er an wesentlichen Beziehungen in den ersten drei bis sechs Lebensjahren, der sogenannten psychogenetischen Zeit, erlebt und verinnerlicht hat. Diese Kindheitserfahrungen, die im alltäglichen sozialen Umgang von Kindern und Erwachsenen entstehen, erzeugen nicht nur vorpolitische Dispositionen, sondern sie beeinflussen auch explizit die politische Einstellung von Jugendlichen. [3]
Neben der Familie bildet die Gruppe der Gleichaltrigen ein unverzichtbares Lernfeld für egalitäre und selbstbestimmte Beziehungen, weil unter Gleichrangigen andere Kompetenzen erforderlich sind, als in den asymmetrischen Beziehungen von Erwachsenen und Kindern. Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einem Volk von Einzelkindern, mit allen Folgen der Geschwisterlosigkeit, kommt der Kinderkultur in den Kindergärten eine noch größere Bedeutung in der Lebensentwicklung des Kindes und der familiären Kindererziehung zu als früher. Kinder regen sich untereinander viel mehr an, als Erwachsene dies mit Kindern tun können und auch Auseinandersetzungen sind notwendige soziale Erfahrungen. Gleichrangige müssen sich die Anerkennung der anderen erst verdienen; sie müssen eigene Interessen einbringen und sowohl Kompromisse schließen als sich auch wehren können, ohne gleich die Mitgliedschaft in Frage zu stellen. Dieser Erwerb "öffentlicher Kompetenzen" und Rollen politischen Handelns stellen einen wichtigen Teilaspekt der politischen Sozialisation dar, insbesondere in einer pluralistischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland. [4]
Die politische Sozialisation und der Erwerb sozialer Kompetenzen beginnen also bereits im frühesten Kindheitsalter.
II. Die politische Sozialisation und Identitätsbildung in der Adoleszenz
Als entscheidende Jahre für das Entstehen politischen Denkens werden in der Forschung zweifelsfrei die Jahre der frühen Adoleszenz, von zwölf bis sechzehn, gewertet, weil in dieser Zeit ein qualitativer Sprung im Denken und Sprechen über Politik nachgewiesen werden kann. Erst nach diesem Übergang, am Ende der frühen Adoleszenz, kann von einem politischen Verständnis gesprochen werden kann. Dieser relativ späten Veränderung im kognitiven Verständnis politischer Prozesse gehen emotionale Veränderungen in der frühen Adoleszenz voraus. Sofern Kindern im Grundschulalter eine starke emotionale Bindung an politische Autoritätspersonen und nationale Symbole entwickelt haben, geht dieser emotionale "Vertrauensvorschuss" für Politik ab Beginn der Vorpubertät langfristig zurück, während das politische Interesse stetig ansteigt. [5]
1. Moralische Entwicklung und politische Sozialisation
Moralische Entwicklung bezeichnet die Bildung innerer Standards, die das Verhalten auch in Situationen kontrollieren, in denen es keine Überwachung oder Strafe gibt. Diese kognitive Verarbeitung gegebener gesellschaftlicher Verhaltensanforderungen, wie sie in allen sozialen Systemen vorkommen, bezeichnet man als "Moralisches Urteil".
Lawrence Kohlberg teilt in seiner Theorie der kognitiven und moralischen Entwicklung das moralische Urteilsvermögen von Kindern und Jugendlichen anhand moralischer Dilemmata, das heißt dem Konflikt zwischen zwei moralischen Normen, in drei Niveaus, mit jeweils zwei Stufen ein. Dabei wird die Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens als ein auf früheren Stufen aufbauender Prozess verstanden. Für die Einstufung von Probanden auf einer bestimmten Stufe ist nicht die inhaltliche Entscheidung im jeweiligen moralischen Dilemmata entscheidend, sondern die Art der Begründung des moralischen Urteils. Auf das vormoralische Niveau der Kindheit, welches durch die Orientierung an Strafe und Gehorsam gekennzeichnet ist, folgt im frühen Jugendalter das konventionelle Niveau, in dem für das moralische Bewusstsein die übernommenen Wertungen und der Erhalt wichtiger Sozialbeziehungen leitend sind. Auf dem postkonventionellen Niveau sind dann verallgemeinerungsfähige Prinzipien, wie zum Beispiel der kant'sche Imperativ, für die Beurteilung konkreter Normen ausschlaggebend. Die durch gesellschaftliche Autoritäten gesetzten Regeln werden als nach demokratisch veränderbare, vertragliche Vereinbarungen begriffen und eine stabile Gewissensstruktur, die Konsistenz von moralischer Überzeugung und Verhalten, ist garantiert. Sofern die vollentwickelten Denkstrukturen der postkonventionellen moralischen Ebene überhaupt erreicht werden, treten sie in der Regel nicht vor dem 16. Lebensjahr auf. [6]
2. Politische Identitätsbildung als Entwicklungsaufgabe
Eine abgewandelte Form der Identitätstheorie und der politischen Entwicklungsaufgaben nach Erik Erikson [7] verfolgt Helmut Fend. Ähnlich wie die politikwissenschaftliche Sozialisationsforschung vertritt Fend die These, dass politische Erziehung in einem Staat, der den mündigen Bürger als Idealbild zum Ziel hat, in einem Spannungsverhältnis steht zwischen der Forderung nach Loyalität zur politischen Ordnung einerseits und der Ermöglichung politischer Kritik andererseits. Die Entwicklungsaufgabe eines Jugendlichen in der frühen und mittleren Adoleszenz besteht folglich darin, diese beiden Dimensionen zu vereinen und ein eigenes produktives Verhältnis zur Politik zu finden. Dabei kann es bei Abweichungen der Bildung einer politischen Identität sowohl an der grundlegenden Loyalität gegenüber den Prinzipien und Werten der Demokratie fehlen, als auch an der Herausbildung des kritischen Potentials und der notwendigen politischen Beteiligung mangeln. Studien bestätigen, dass diese Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen erst sehr spät gelöst wird. [8]
[...]
[1] Vgl. Roth, R. A., Demokratie lebt in Dialogen. Zum Umgang mit Politik in der Familie, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), München 2001, S. 162.
[2] Vgl. Leggewie, C., Nur noch Berater am Hof der Macht, in: Die Zeit 39 (2006), S. 53.
[3] Vgl. Roth, R. A., Von der Diktatur zur Demokratie: Hypotheken und Defizite der politischen Kultur in der Entstehungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Roth, R. A. / Seifert, W., Die zweite deutsche Demokratie. Ursprünge – Probleme – Perspektiven, Böhlau Politica 9, Köln / Wien 1990, S.12; Roth, R. A., Demokratie lebt in Dialogen, S. 23, 28; Montada, L., Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation, in: Oerter, R., Entwicklungspsychologie, Weinheim 2002, S. 625; Maaz, H.-J. / Moeller, M. L., Die Einheit beginnt zu zweit. Ein deutsch-deutsches Zwiegespräch, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 43; Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation, Weinheim / München 1997, S. 79,
[4] Vgl. Maaz, H.-J. / Moeller, M. L., Die Einheit beginnt zu zweit, S. 32, 46; Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik, S. 79, 154ff; Melzer, W., Jugend und Politik. Gesellschaftliche Einstellungen, Zukunftsorientierungen und Rechtsextremismus-Potential Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland, Opladen 1992, S. 48.
[5] Vgl. Adelson, J. / Green, B. / O'Neil, R., Growth of the Idea of Law in Adolesence, in: Developmental Psychology 1, 1969, S. 327ff; Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik, S. 79f, 102f, 122; Nunner-Winkler, G., Adoleszenzkrisenverlauf und Wertorientierungen, in: Baacke, D. / Heitmeyer, W. (Hrsg.), Neue Widersprüche. Jugendliche in den achtziger Jahren, Weinheim / München 1985, S. 88.
[6] Vgl. Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik, S 79ff, 102, 111ff, 128ff; Montada, L., Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation, S. 635ff; Reinhardt, S., Moralisches Urteil im politischen Unterricht, in: Gegenwartskunde 29 (4), 1980, S. 450ff.
[7] Vgl. Nunner-Winkler, G., Adoleszenzkrisenverlauf und Wertorientierungen, S. 86ff; Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik, S. 83f.
[8] Vgl. Fend, H., Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen, Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne 2, Bern / Stuttgart / Toronto 1991, S. 136ff, 246f; Hopf, C. / Hopf, W., Familie, Persönlichkeit, Politik, S. 103f;