Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition des Selbstmordbegriffes nach Durkheim
3. Die soziale Selbstmordrate als ein Phänomen sui generis
3.1 Untersuchung außergesellschaftlicher Faktoren bei Selbsttötungen
3.1.1 Selbstmord und psychopathische Zustände
3.1.2 Selbstmord und psychologische Normalzustände, Rasse, Erblichkeit
3.1.3 Selbstmord und kosmische Faktoren
3.1.4 Nachahmung
3.2 Soziale Ursachen und soziale (Selbstmord)Typen
3.2.1 Bestimmungsverfahren
3.2.2 Der egoistische Selbstmord
3.2.3 Der altruistische Selbstmord
3.2.4 Der anomische Selbstmord
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Weltweit nehmen sich jährlich mehr als 800.000 Menschen das Leben – und auf jeden einzelnen Suizid kommen nochmals zehn bis zwanzig Selbstmordversuche (Jiménez, 2014, 1.Abs.). Obwohl Suizid demnach einen nicht unerheblichen Teil der Todesursachen ausmacht, wurde er lange öffentlich tabuisiert: Beispielsweise galt Selbstmord zu Zeiten altrömischer Herrschaft sowohl für Männer als auch für Frauen als „Verbrechen gegen die Gesellschaft“ (Rübenach, 2007, S. 960). Mit der Entwicklung des Denkens und der Gesellschaft änderte sich der Umgang mit der Thematik. In der Wissenschaft beschäftigen sich unterschiedliche Gebiete mit der Erklärung von Suiziden. Während Selbsttötung „nach psychiatrischem Verständnis als Ende einer krankhaften Entwicklung“ (Rübenach, 2007, S. 961) gilt, untersucht der Fachbereich der Soziologie das Phänomen Selbstmord auf sozialer Ebene. Dazu gehört der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Suizidrate in verschiedenen Gesellschaften. Bereits im 19. Jahrhundert thematisierte der französische Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim in seiner Studie „Der Selbstmord“ diese Beziehungen. Durkheim untersucht hierbei nicht den Selbstmord anhand einzelner Fälle auf dessen individuelle Ursachen, sondern er betrachtet ihn streng soziologisch als soziales Phänomen mit ebenso sozialen Kriterien.
Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Todesursache Suizid aus soziologischer Sicht. Zentral ist hierbei die inhaltliche Untersuchung Émile Durkheims Selbstmordstudie aus dem Jahr 1897. Daraus folgernd wird die Frage beantwortet, inwieweit Suizid objektiv betrachtet als soziales Phänomen betrachtet werden kann. Zu Beginn der Arbeit wird die Definition des Selbstmordbegriffes vorgestellt und erläutert, wie Durkheim zu dieser gelangte. Im Anschluss daran geht es zunächst um die Untersuchung außer-gesellschaftlicher Faktoren, bevor im nachfolgenden Kapitel die sozialen Aspekte begründet und die drei Selbstmordtypen vorgestellt werden. Darauf auf-bauend dient das sechste Kapitel dazu, herauszuarbeiten, wie Durkheim seine These rechtfertigt, Selbstmord als ein soziales Phänomen zu betrachten. Auf diesen Grund-lagen soll die Arbeit mit Beantwortung der anfangs gestellten Frage abschließen: Inwiefern kann Selbstmord nach Émile Durkheim als ein soziales Phänomen betrachtet werden?
2. Definition des Selbstmordbegriffes nach Durkheim
Um die nachfolgende Typisierung nach den drei unterschiedlichen Selbstmordkategorien nachvollziehen zu können, beschäftigt sich Durkheim zunächst mit dem Selbstmordbegriff und dessen Definition an sich.
Der Selbstmord - bzw. Suizid begriff, so Durkheim, scheint in der Gesellschaft in seiner Bedeutung allgemein bekannt zu sein. Allerdings sind solche „Wörter der Umgangssprache immer mehrdeutig“ (Durkheim, 1897, S. 23) und deshalb besteht die Gefahr „die tatsächlichen Beziehungen der Dinge zueinander zu verkennen und sich über ihre wahre Natur zu täuschen“ (ebd.). Da die Vulgärterminologie demnach nur zu oberflächlichen Untersuchungen der Thematik führt, stellt Durkheim seiner Studie eine wissenschaftliche Definition des Selbstmordbegriffes voran.
Ziel ist es „gemeinsame Charakteristika [zu finden, die] objektiv genug sind, um als solche von jedem gutwilligen Beobachter erkannt zu werden, und spezifisch genug, um nicht auch anderswo zu erscheinen“ (Durkheim, 1897, S. 24); es geht darum Selbstmord über eine „Kategorie von Tatsachen“ (ebd.) zu bestimmen. Im Zuge dessen erweitert Durkheim einerseits den allgemein bekannten Suizidbegriff, andererseits schließt er bewusst den tierischen Selbstmord aus, da man nicht genug über „tierische Intelligenz“ (Durkheim, 1897, S. 27-28) wisse.
Ausgangspunkt Durkheims Argumentation und zugleich das erste Merkmal eines Selbstmordes ist, „daß der Tod die Folge einer Handlung des Opfers selbst ist“ (Durkheim, 1897, S. 24). Der Selbstmord ist demnach das Ergebnis einer vom Opfer selbst ausgeführten Tat, wobei die Handlung sowohl aktiv (gewaltsam) oder negativ (Enthaltung) sein kann. Außerdem kann die Suizidhandlung auch zeitlich dem Tod vorausgehen und muss nicht direkt durch das Opfer erfolgen - das heißt auch in-direkte Kausalität zählt als Selbstmord. Aufgrund dieser Untersuchungen kommt Durkheim zu der ersten vorläufigen Selbstmorddefinition:
Suizid ist jener Tod, „der mittelbar oder unmittelbar auf eine Handlung oder Unterlassung zurückgeht, deren Urheber das Opfer selbst ist“ (Durkheim, 1897, S. 25).
Allerdings macht Durkheim direkt auf die Unvollständigkeit dieser Definition aufmerksam: die meisten menschlichen Todesfälle sind „direkt oder indirekt die Folge irgendeiner Handlung der Opfer“ (ebd.), der bisherige Selbstmordbegriff grenzt sich davon nicht ab. Daher wird ein weiteres Merkmal zur Kategorienbildung benötigt. Laut dem Soziologen kann jedoch nicht der Wunsch nach dem Tod als Merkmal für die Begriffsdefinition herangezogen werden, da die Beweggründe „schwer erkennbar […], weil schwer zu beobachten [sind]“ (Durkheim, 1897, S. 26). Intentionen sind zu persönlich und individuell, als dass sie allgemeingültig sein könnten. Deshalb können sie sich nur „in zweitrangigen Differenzen niederschlagen“ (Durkheim, 1897, S. 27) und sind soziologisch betrachtet kaum zweckdienlich. Durkheim wendet sich folglich von den zugrunde liegenden Motiven ab und definiert Selbstmord als Handlung in Form des Verzichtes auf das Leben. Alle diese Formen des Verzichtes haben hierbei gemeinsam, „dass der ihn verewigende Akt in voller Kenntnis der Wirkung vorgenommen wird“ (ebd.).
Das charakteristische für einen Suizid ist demnach das Wissen des Opfers über die Folgen seiner Handlung. Dies unterscheidet Selbstmorde von jenen Todesfällen, in denen das Opfer nicht der Verursacher der todbringenden Handlung war oder sich nicht über die Folgen der Handlung bewusst war. Daraus schlussfolgernd gelangt Durkheim zu folgender finaler Definition des Selbstmordbegriffes:
„Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte“ (Durkheim, 1897, S. 27).
3. Die soziale Selbstmordrate als ein Phänomen sui generis
Das nachstehende Kapitel widmet sich der Untersuchung, inwiefern der Akt des Selbstmordes als ein soziologisches Phänomen betrachtet werden kann. Durkheim stellt hierbei nicht in Frage, „ob die Untersuchung des Selbstmords [aus psychologischer Sicht] berechtigt ist“ (Durkheim, 1897, S. 30), sondern er schlägt eine andere Sichtweise vor. Anstatt Selbsttötungen als individuelle Einzeltaten zu behandeln, will Durkheim „die Gesamtheit der Selbstmorde betrachte[n], die in einer gegebenen Gesellschaft und einem gegebenen Zeitabschnitt begangen wurden“ (ebd.).
Jede Gesellschaft hat zeitbedingt eine bestimmte Neigung zu Suiziden, was als „ die der untersuchten Gesellschaft eigene Selbstmordrate “ (Durkheim, 1897, S. 32, [Herv. i.Org.]) bezeichnet wird. Sie bildet „ein fest bestimmtes System von Tatsachen, was zugleich durch seine zeitliche Dauer und durch seine Variabilität bewiesen wird“ (Durkheim, 1897, S. 34). Aufgrund der Beobachtungen der statistischen Daten zieht Durkheim den Schluss, dass jede Gesellschaft kollektiv mit einer Tendenz zum Selbstmord behaftet ist (Durkheim, 1897, S. 35).
Diese Feststellung bringt ihn dazu, nach Selbstmordfaktoren (deren Ergebnis die Selbstmordrate ist) zu suchen, die sich sichtbar auf die gesamte Gesellschaft aus-wirken. Im Zuge dessen untersucht er zunächst außergesellschaftliche Ursachen und wendet sich anschließend den sozialen Gründen zu, woran sich die Differenzierung in drei verschiedene Selbstmordarten anschließt.
3.1 Untersuchung außergesellschaftlicher Faktoren bei Selbsttötungen
Hinsichtlich der Untersuchung der außergesellschaftlichen Ursachen unterscheidet Durkheim in zwei Arten: „zum einen die organisch-psychische Veranlagung, zum anderen die Beschaffenheit der physischen Umwelt“ (Durkheim, 1897, S. 41). Diese werden auf ihren Einfluss auf das Phänomen Selbstmord untersucht.
3.1.1 Selbstmord und psychopathische Zustände
Da die These, dass Selbstmord eine Geisteskrankheit sei, von zahlreichen Irrenärzten vertreten wird, widmet sich Durkheim der Untersuchung dieser Behauptung. Er konstatiert, dass die Neigung zum Selbstmord wenn überhaupt nur eine partielle Form von Geisteskrankheit sein könne, da sie in „ihrer Natur nach spezifisch und eng umgrenzt ist“ (Durkheim, 1897, S. 43). Eine solche krankhafte Wahnvorstellung, die auf einen einzigen Akt – hier die Selbstmordhandlung – beschränkt ist, nennt man Monomanie. Die Erkrankten unterscheiden sich hierbei im restlichen Denken und Handeln nicht von gesunden Menschen. Wäre Selbstmord als Geisteskrankheit zu werten, müsste eben diese isolierte krankhafte Störung – und ausschließlich diese – immer nachweisbar sein. Für diese Voraussetzung findet sich allerdings kein Beleg, da die geistigen Funktionen voneinander trennbar sind und da auch andere krank-hafte Veränderungen beim Betroffenen festgestellt wurden. Daraus schließt Durkheim:
„Wenn es demnach keine Monomanien gibt, dann gibt es auch keinen Selbstmord des-wegen und dann ist auch der Selbstmord keine besondere Geisteskrankheit“ (Durkheim, 1897, S. 47).
Trotz des Ausschlusses von Selbstmorden als besondere Geisteskrankheit, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass Suizide nur im Zustand des Irreseins vorkommen. Zur Überprüfung dieser These werden „die von Geisteskranken begangenen Selbst-morde nach ihren wesentlichen Merkmalen [klassifiziert]“ (Durkheim, 1897, S. 48) und versucht alle Selbstmordfälle diesen zuzuordnen. Als Gemeinsamkeit all dieser unterschiedlichen Typen psychopathischer Selbstmorde zeigt sich, laut Durkheim, dass ihnen allen die Motive fehlen, oder dass diese rein imaginär sind. Da allerdings „die Mehrzahl [der Selbstmorde] sehr wohl motiviert und in der Realität begründet [ist]“ (Durkheim, 1897, S. 52), kann Irresein nicht als notwendige Voraussetzung für Suizide angesehen werden.
Der nächste Untersuchungsgegenstand sind „verschiedene Anomalien, gemeinhin Neurasthenien genannt“ (Durkheim, 1897, S. 54), welche Stadien zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit darstellen. Ob diese für die Genese psychopathischer Selbstmorde verantwortlich sind, versucht Durkheim über Statistiken zu belegen (Durk-heim, 1897, S. 57-65). Er kommt zu dem Schluss, dass „die Selbstmordrate einer Gesellschaft [.] in keinerlei bestimmter Beziehung zur Tendenz zum Wahnsinn, auch nicht zu der der Neurasthenie“ (Durkheim, 1897, S. 65).
Den letzten psychopathischen Zustand, den Durkheim genauer analysiert, ist der Alkoholismus. Auf Grundlage unterschiedlicher Statistiken stellt er aber auch hier fest, dass keine zwanghafte Kausalität zwischen dem krankhaften Zustand und den Selbstmordziffern besteht.
Geistige Degeneration ist demzufolge nicht selbst die Ursache für Suizid, auch wenn sie begünstigend wirken kann.
„So sehen wir also, daß nicht ein einziger psychopathischer Zustand mit dem Selbstmord in einem regelrechten und unbestreitbaren Zusammenhang steht“ (Durkheim, 1897, S. 71).
3.1.2 Selbstmord und psychologische Normalzustände, Rasse, Erblichkeit
Den nächsten außergesellschaftliche Faktor in Durkheims Untersuchungspalette bilden die in dem Individuum selbst liegende Gründe. Im Zuge dessen wirft er die Frage auf, ob es einen Zusammenhang zwischen der Selbstmordrate und den Rassen, also Vererbbarkeit, gibt. Zur Beantwortung dieser definiert er Rassen als „Volkstypen [.], bei denen man in großen Zügen einige allgemeine und gemeinschaftliche Merkmale feststellen kann“ (Durkheim, 1897, S. 76) und untersucht die in Europa auftretenden vier Rassen: den germanischen Typ, den keltoromanischen Typ, den slawischen Typ und den Ural-Altai-Typ.
Zunächst steht der Vergleich der unterschiedlichen Selbstmordraten der verschiedenen Volksgruppen bzw. Länder jeder Rasse im Fokus. Durkheim kommt zu dem Schluss, dass der kausale Zusammenhang zwischen Rasse und Selbstmordneigung nicht gegeben ist, da „zwischen den Nationen der gleichen Rasse […] die größten Unterschiede [bestehen]“ (ebd.).
Im Anschluss daran stellt sich die Frage, ob die durch die Rassenabhängigkeit in-direkt mit behauptete Erblichkeit zutrifft. Wäre dies der Fall, „müßte man darauf schließen, daß [die Tendenz zum Selbstmord] eng mit einer bestimmten körperlichen Konstitution zusammenhängt“ (Durkheim, 1897, S.86). Durkheim kritisiert diesbezüglich, dass alle Beobachtungen, die es zur Erblichkeit von Selbstmord zu diesem Zeitpunkt gab, von Psychiatern und daher an Geisteskranken gemacht wurden.
Aus diesem Grund stellt er die Frage:
„Ist die Neigung zum Selbstmord erblich [oder ist] es nicht vielmehr die Psychose [.], deren häufiges aber dennoch zufälliges Symptom der Selbstmord darstellt?“ (Durkheim, 1897,S. 89).
Seine Untersuchungen lassen ihn zu dem Schluss kommen, dass die Geisteskrankheit in ihrer Gesamtheit vererbt werde und deshalb könne man nicht mehr von der Vererblichkeit von Selbstmord sprechen.
Die vorangegangenen Überlegungen über die Existenz eines erblichen organisch-psychischen Determinismus' zeigen, dass eben dieser nicht nachgewiesen werden kann. Zwar gibt es Selbstmord begünstigende Faktoren, diese sind jedoch nicht die alleinige Ursache. Durkheim begründet dies damit, dass „der individuelle Zustand aber, der [Selbstmord] begünstigt, [.] nicht in einem bestimmten automatischen Trieb (abgesehen von Psychosen) [besteht], sondern in einer ganz allgemeinen und vagen Bereitschaft, die je nach den Umständen verschiedene Formen annehmen kann, die den Selbstmord wohl zuläßt, aber nicht notwendig impliziert, und ihn folglich nicht erklärt“ (Durkheim, 1897, S. 99).
3.1.3 Selbstmord und kosmische Faktoren
Da die individuelle Veranlagung, wie wir eben analysiert haben, nicht als alleinige Ur-sache für Selbstmord genannt werden kann, untersucht Durkheim ihre Bedeutung in Verbindung mit kosmischen Faktoren. Zu diesen Faktoren, die einen selbstmordför-dernden Einfluss haben könnten, gehören das Klima und die jahreszeitliche Temperatur.
Als erstes untersucht Durkheim das Klima anhand der Verteilung der Selbstmorde in Abhängigkeit von den Breitengraden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass kein Zusam-menhang besteht und, dass die Ursache für die Neigung zum Selbstmord „nicht in irgendwelchen geheimnisvollen Eigenschaften des Klimas“ (Durkheim, 1897, S. 102) liege. Vielmehr ist es das Wesen der Zivilisation in den verschiedenen Ländern, was ausschlaggebend für die hohe Selbstmordquote in manchen Regionen ist. In großen Zivilisationszentren, wie die Ile-de-France, ist die Selbstmordrate höher, als in länd-licheren Regionen – also unabhängig vom Klima.
Eine andere Beobachtung hinsichtlich kosmischer Faktoren ist der Einfluss jahres-zeitlicher Temperaturen auf die Selbstmordrate. Dabei scheinen Statistiken die weit-verbreitete Annahme zu stützen, dass die menschliche Psyche durch die jahreszeit-abhängigen Temperaturen beeinflusst und sich der Mensch dadurch am häufigsten in den kalten Herbst- und Wintermonaten umbringe.
Durkheim rückt von diesem Vorurteil ab und beweist anhand neuer Statistiken:
„Der Mensch verlässt dieses Leben mit Vorliebe dann, wenn es am leichtesten zu er-tragen ist. Wenn man nämlich das Jahr halbiert und die sechs wärmsten Monate […] und die sechs kältesten, dann zählt die erste Hälfte immer mehr Selbstmorde. Nicht ein einziges Land macht eine Ausnahme von diesem Gesetz “ (Durkheim, 1897, S. 103, [Herv. i.Org.]).
Demnach sind im Sommer die meisten Selbstmorde verzeichnet und nicht, „wenn die Natur grau in grau [ist]“ (ebd.). Diese Beziehungen zwischen der Temperatur und der Selbstmordrate wurden genauer beleuchtet und andere Selbstmord-Forscher kamen zu dem Trugschluss, dass „durch die mechanische Einwirkung der Wärme auf die Hirnfunktionen der Mensch dazu gebracht werden könnte, sich das Leben zu nehmen“ (Durkheim, 1897, S. 105). Auch dies widerlegt Durkheim anhand von statistischen Datenmaterial, indem er die monatlichen Schwankungen der Selbstmordziffern in den Ländern Europas vergleicht und analysiert. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten, jedoch auch drastische Unterschiede in der Ausprägung der Selbstmordrate je Monat in den unterschiedlichen Ländern. Außerdem weißt er auch die Annahme zurück, dass die Rate in den südlicheren Regionen aufgrund der dort herrschenden wärmeren Temperaturen höher sei, als in nördlicheren. Daher impliziert Durkheim:
„Die Temperaturschwankungen stehen also in keiner Beziehung zum Selbstmord“ (Durkheim, 1897, S. 111).
Daraus schließt Durkheim, dass die kosmische Ursache weniger das Klima und die Temperatur sind, sondern die Tageslänge und somit die Intensität des Lebens. Auch an dieser Stelle zieht er Statistiken zur Beweisführung seiner Vermutung heran. Es ergibt sich, dass die Selbstmordrate und die mittlere Tageslänge pro Monat parallel zueinander gehen: „Wenn also der Tag reicher an Selbstmorden ist als die Nacht, dann steigt natürlich, wenn der Tag länger wird, ihre Zahl“ (Durkheim, 1897, S. 116). Durkheim begründet dieses höhere Verhältnis der Selbstmordrate am Tag damit, dass dies die lebhafteste Zeit ist und das gesellschaftliche Leben dort viel intensiver sei als nachts. Er schlussfolgert daher, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Tageslänge (und somit dem gesellschaftlichen Leben) und der Selbstmordziffer gibt. Diese Annahme belegt er durch die Analyse der Suizidrate zu unterschiedlichen Tageszeiten und Wochentagen: die Zahl häuft sich zweimal täglich zu besonders intensiven Geschäftszeiten. Ähnlich findet sich dieses Phänomen auch bei der Wochentagsverteilung, da die meisten Selbsttötungen zu Beginn der Woche und nicht am Wochenende stattfinden. (Durkheim, 1897, S. 116-119)
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