In diesem Essay werden die Motive der Selbstmordattentäter des Islamischen Staates besprochen und anhand des Machtkonzeptes von Heinrich Popitz ("Phänomene der Macht", "Autoritative Macht") erklärt.
Blinder Gehorsam der Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS) – Ein Erklärungsversuch nach Popitz ein Essay von Fabian Speitkamp
“Beim 'Islamischen Staat' handelt es sich um eine fundamentalistische Organisation, die das Ziel hat, den Kalifat (Gottesstaat) im Nahen Osten zu errichten.“ (LPB). Bereits im Jahr 2006 wurde der Islamische Staat im Irak ausgerufen (Günther 2014: 192), doch erst 2014 wurde die schnell expandierende Gruppe um den Anführer Abu Bakr Al-Baghdadi von den westlichen Ländern wahrgenommen. Am 10. Juni 2014 ernannte sich Al-Baghdadi selbst zum Kalifen und beanspruchte große Teile des Iraks und Syriens als sein islamisches Kalifat (LPB). Mittlerweile veröffentlichen die deutschen Medien fast täglich Nachrichten über die neusten Entwicklungen in Irak und Syrien. Zusätzlich gibt es auch vermehrt Berichte über Anschläge in Europa bzw. auf beliebte Reiseziele von Europäern. Diese werden meist von Kleingruppen oder gar Einzeltätern ausgeführt, die selbst scheinbar nur lose mit der Führung des Islamischen Staates zu tun haben und in blindem Gehorsam selbstmörderische Attentate verüben. Als besonders extremes Beispiel dient hierfür das Attentat eines tunesischen Studenten auf ein am Meer gelegenes Hotel in der Nähe von Sousse: “Ein junger Mann, getarnt als harmloser Urlauber, nach Angaben der Polizei ein Student Anfang zwanzig aus Südtunesien, zieht unter einem mitgebrachten Sonnenschirm eine Kalaschnikow hervor und schießt auf die Badegäste.“ (tagesschau.de). Diese unvorstellbar grausame und kaltblütige Tat erfolgte im Namen einer Organisation bzw. eines Staates, mit der der Attentäter höchstwahrscheinlich keinen direkten Kontakt hatte. „Nach Angaben der Regierung hatte er [der Attentäter] Tunesien nie verlassen.“ (sueddeutsche.de: 1). Schnell wagten sich deutsche Medien an Erklärungsversuche, berichteten von besonders geschickten Rekrutierern (sueddeutsche.de: 2) oder bezeichneten die Terrororganisation IS als Jugendbewegung (Zeit.de), also eine Art Modeerscheinung. Soziologische Perspektiven auf den blinden Gehorsam suchte man jedoch vergebens, obwohl der deutsche Soziologe Heinrich Popitz mit seinem Machtbegriff bereits 1992 einen möglichen Erklärungsansatz lieferte.
Phänomene der Macht
Das Werk von Heinrich Popitz ist im Vergleich zu anderen klassischen Soziologen zwar nicht besonders groß (Pohlmann 2006: 9), es zeichnet sich aber besonders durch seine „filigranen Zeichnungen von tendenziell absurden Sozialsituationen“ aus (Pohlmann 2006: 13). So ist sein Werk durch einen gewissen Unterhaltungsfaktor geprägt, wenn er etwa Prozesse der Machtbildung anhand der Liegenverteilung auf einem Kreuzfahrtschiff illustriert (Popitz 1992: 190). Abgesehen davon legte Popitz großen Wert auf eine klare und gefällige Ausdrucksweise (Pohlmann 2006: 14) und ist wohl nur deshalb unbekannt, weil er nicht den Ehrgeiz hatte, schulbildend zu wirken (Pohlmann 2006: 49). Heinrich Popitz verfasste außerdem Ausführungen zu sozialen Normen und sozialen Rollen (in Popitz 2006), für die Erklärung von blindem Gehorsam sind aber vor allem seine gesammelten Schriften aus Phänomene der Macht interessant.
Popitz beginnt seine Annäherung an Macht mit der Definition gewisser Prämissen, die bei der Beschäftigung mit Macht und Machtordnungen zu berücksichtigen sind. Als erstes stellt er fest, dass Machtordnungen Menschenwerk sind und es sich hierbei nicht um Naturkonstanten handelt. Er betont die „Machbarkeit“ von Machtordnungen (Popitz 1992: 12). Dazu ist Macht omnipräsent, kennt keine Klassengrenzen und steckt in jeder Beziehung (Popitz 1992: 15). Darüber hinaus stellt er fest: „Alle Machtanwendung ist Freiheitsbegrenzung“ (Popitz 1992: 17) und muss daher gerechtfertigt werden (ebd.). Das bedeutet jedoch nicht, das Macht oder besonders die Ausübung von Macht per se etwas schlechtes darstellt. Sie ist manchmal schlicht notwendig, zum Beispiel zum Schutz oder zur Erziehung von Kindern oder um Frieden und Sicherheit zu bewahren (Popitz 1992: 19f.).
Vier Formen der Macht
Im Grunde genommen unterscheidet Popitz vier verschiedene Machttypen. Unter Aktionsmacht versteht er die Verletzungskraft, die der Mensch gegenüber allen lebenden Organismen, also auch anderen Menschen, besitzt. Diese Macht ist von Natur aus ungleich verteilt, denn sie wird von den körperlichen Voraussetzungen wie Größe, Geschick und Stärke bestimmt. Er betrachtet den Menschen dabei als grundsätzlich verletzungsoffen. Darunter versteht er, dass ein Mensch in jeder Situation verletzt werden kann, da er weder über schützendes Fell, noch über einen Panzer verfügt. Auch lebensnotwendige Ressourcen können dem Menschen leicht entzogen werden (Popitz 1992: 24). Diese Machtform kann allerdings nur bei Gelegenheit ausgeübt werden und erfordert ein direktes Interagieren. Der Islamische Staat kann beispielsweise Dieben die Hand abhacken, um die Scharia durchzusetzen. Dabei handelt es sich um Aktionsmacht. Diese Machtform kann aber nur gegenüber denen eingesetzt werden, die sich weiterhin in den entsprechenden Gebieten aufhalten, oder bei denen, die wie beim Anschlag in der Nähe von Sousse, zur falschen Zeit am falschen Ort sind.
Instrumentelle Macht hingegen bedeutet für Popitz das Geben- und Nehmen-Können, also die Verfügung über Belohnung bzw. Bestrafung. Bei dieser Machtform wird die Zukunftsorientierung des Menschen ausgenutzt. Der Machtausübende muss nur den Anschein erwecken, dass er über Belohnung und Bestrafung verfügen kann, damit sich die andere Person seinem Willen fügt (Popitz 1992: 26). Auf diese Weise kann der Machtausübende den anderen dauerhaft zu seinem Werkzeug machen (Popitz 1992: 27). Im Gegensatz zur Aktionsmacht ist diese Machtform also nicht auf einzelne Gelegenheiten beschränkt, sondern kann dauerhaft ausgeübt werden. Potentiellen Dieben im Islamischen Staat ist mittlerweile klar, dass sie für ihre Taten bestraft werden. Die Mitglieder der Terrororganisation nutzen die Ängste und Hoffnungen der Menschen zur Machtausübung. Solange der IS glaubhaft vermitteln kann, über Belohnung und Bestrafung von Verhalten zu verfügen, solange bleibt die instrumentelle Macht erhalten.
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- Quote paper
- Fabian Speitkamp (Author), 2015, Blinder Gehorsam der Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS). Ein Erklärungsversuch nach Popitz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308478