Von Baltistan zum Hindukusch. Ein Reisebericht aus Pakistan


2018-06-07, 800 Seiten (ca.)

PDF, ePUB und MOBI

Originalausgabe


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Kapitel: Ein Mann der Berge

2. Kapitel: In Islamabad

3. Kapitel: Reisen im Norden

4. Kapitel: Unter Achttausendern

5. Kapitel: Die große Expedition

6. Kapitel: In Baltistan zu Hause

7. Kapitel: Der Mordsberg

8. Kapitel: Gilgit Agency

9. Kapitel: Die Frauen von Hunza

10. Kapitel: Großer Sport in Shandur

11. Kapitel: Am Khyber Pass

12. Kapitel: In Peschawar

Vorwort

„Wie? Nach Pakistan? Du bist verrückt!“ So oder so ähnlich bekam ich es zu hören, wenn ich mein diesmaliges Reiseziel angab. Und das war ärgerlich. Weniger weil es eine falsche Einschätzung der Gefährlichkeit des Vorhabens offenbarte - denn das Land ist für Reisende nicht viel gefährlicher als andere Länder in Südasien -, sondern weil es hinlänglich bekannt sein durfte, dass es gerade Bergsteiger in dieses Land zog, ein Land, das oben im Norden zu einem großen Teil aus Bergen besteht, die höher als die höchsten Berge Deutschlands sind. Mein vordringliches Ziel, weshalb ich nach Pakistan kam, war ja das Bergsteigen. Warum sollte also ein Bergsteiger verrückt sein, wenn es ihn zur „Mutter“ aller Bergländer hinzog?

Aber auch wenn es anfangs nicht um Politik gehen soll, bleibt es vielleicht nicht dabei. Wenn man eine Reise tut, weiß man ohnehin nicht sicher, was kommt. Ich wusste nicht viel mehr, als dass ein Teil der Gegend im Norden des Landes, das ich besuchen würde, das Bergland des Karakorum, Hindukusch und Himalaja, ein Bestandteil des alten Kaschmirs war und dass der andere Teil Indien zugefallen war, sehr zum Missfallen der Pakistaner. Kaschmir war immer noch ein Krisenherd wegen der unterschiedlichen Meinungen darüber, wie es mit dem geteilten Kaschmir weitergehen sollte. Und nicht selten genug gerieten Touristen zwischen die Fronten der Pakistaner, Inder und Kaschmiris, obwohl sie ihre Meinungen dazu gar nicht kundgetan hatten. Wenn greifbare Argumente den Kombattanten ausgehen, greifen sie zu den Waffen, und wenn ihnen die potentiellen Opfer ausgehen, greifen sie auf Unbeteiligte zurück. So ist es immer, wenn die Sitten verrohen.

Ich wollte aber nicht im indischen Teil Kaschmirs unterwegs sein, der ein Pulverfass mit trockenem Pulver zu sein schien, auf den die Pakistaner Anspruch anmeldeten, sondern in dem Teil, auf den umgekehrt die Inder ein schielendes Auge geworfen hatten, daran aber wenigstens keine kriegerischen Aktivitäten knüpften. Dieser Teil war eine der fünf Provinzen Pakistans, die „Northern Province“. Sie hatte einen Sonderstatus, weil aus Sicht der pakistanischen Regierung das Schicksal Gesamtkaschmirs noch geklärt werden musste – natürlich in ihrem Sinne. Die Bevölkerung hatte dazu allerdings ihre eigenen Gedanken, wie ich noch im Verlauf der Reise feststellen sollte. Und das gleiche, was man zu der politischen Situation in Kaschmir sagen konnte, traf auch für den Hindukusch zu, das Gebirgsland, an dem Pakistan und Afghanistan Anteil hatten. Hüben wie drüben lebten Paschtunen, die weder richtig Pakistaner noch Afghanen sein wollten. Sie lebten in verschiedenen Stammesgemeinschaften und Clans, die sich zum Teil bekämpften. Dazu kamen die Taliban, al-Qaida und die pakistanische Armee mit ihren Einmischungen.

Ohne detailliertes, politisches Hintergrundwissen trat ich meine Reise an. Aber irgendwann dämmerte es mir, dass auch die Nordprovinz ein Pulverfass war, wenn auch noch mit feuchtem Pulver. Die Sonderbehandlung, die ihr die Zentralregierung angedeihen lässt, ist nämlich ausgeprägt stiefmütterlich und birgt die Gefahr, dass sich im Norden des Landes immer mehr Unzufriedenheit breitmacht und dass Tendenzen der Loslösung, die aufgekommen sind, weiter gefördert werden, man könnte auch sagen - man ihnen mehr „Zündstoff“ gibt. Und so hört man die Einheimischen von einem vereinten, unabhängigen Kaschmir oder von einem selbständigen Balawaristan reden. So wird die Nordprovinz von den Autonomisten genannt.

In Baltistan, dem östlichen Teil davon, der an Indiens Ladakh angrenzt, erinnert man sich an die kulturelle, völkische und sprachliche Verbundenheit mit Ladakh. Im westlichen Teil des Nordens, der zur „Northwestern Frontier Province“ gehört, stellen eher die im Grenzgebiet zu Afghanistan lebenden Stämme ein Gefährdungspotential dar, oder die Ausbildungscamps der islamistischen Terroristen.

In dieser Weltgegend wollte ich zwei oder drei Exkursionen unternehmen. Diese Naturräume wollte ich besuchen. Ich habe zwar auf vielen Reisen erfahren, wie sehr der Mensch, sobald er in diesen Naturräumen siedelt, auch und erst recht ein Bestandteil der Natur wird, aber inwieweit sich das bemerkbar macht, ist bei Reiseantritt ungewiss. Man lässt sich überraschen. Und weil der Mensch immer die Hauptrolle bei jeder Reise spielt, kann es auch geschehen, dass er Übergewicht gewinnt und nachhaltiger erlebt wird als die Natur um ihn herum. Berge sind groß, aber der Mensch ist doch größer. Jeder Mensch hat mehr Bedeutung als der höchste Berg. Und deshalb können Reisen zum Ziel führen, auch wenn man das ursprüngliche Ziel nicht erreicht.

Wer aus dem Westen kommt und meint, einmal geschwind im Hindukusch oder im Karakorum spazieren gehen zu können, ohne dass ihn die Landespolitik etwas anzugehen habe, wird sich vielleicht unversehens in einer Situation wiederfinden, die sehr politisch ist, oder zumindest von der Politik mitbestimmt wurde. Vielleicht gerät er in eine Demonstration gegen die Besatzungspolitik der pakistanischen Armee; vielleicht halten ihn die vielen Straßensperren davon ab, seinen Bestimmungsort zu erreichen; seltener gerät er in einen Schusswechsel; oder er wird verhaftet, weil er eine Brücke ihrer eigenwilligen Konstruktion wegen fotografiert hat; ganz bestimmt wird er Leidtragender der schlechten Straßenverhältnisse und der rückständigen Infrastruktur, die auch Ausdruck von viel zu wenig „zementierter“ Politik sind. Und wenn er auch nur irgend nachfragt und ein belangloses Gespräch mit Einheimischen führen will, wird er sich ganz fix in ein politisches Gespräch verwickelt haben. Dem zumindest kann sich der Alleinreisende nicht entziehen.

Nur wer sich einer generalstabsmäßig vorbereiteten Expedition anschließt, wird vielleicht von alledem nichts mitkriegen. Er steigt aus dem Flugzeug in das nächste Flugzeug oder den gecharterten Bus, schläft vor sich hin, unterhält sich allenfalls mit den anderen Expeditionsteilnehmern über die gemeinsamen Ziele und schwupp ist er auf dem Berg und - mehr oder weniger schnell – wieder herunter.

Es stimmt, die Berge sind nach wie vor unpolitisch. Vielleicht macht auch das ihren Reiz aus. Aber in Pakistan stimmt auch das nicht ganz. Für die Grenzgebiete zu Indien im Osten und Afghanistan im Westen braucht man Sondergenehmigungen. Die Pakistaner und Inder haben es fertig gebracht, ein paar Berggipfel, Gletscher und Pässe mit Krieg zu überziehen. Und die Bewohner des Hindukusch, einem Gebiet, das auf dem Staatsgebiet Afghanistans und Pakistans liegt, sind wohl oder übel das kriegerischste Volk, das es überhaupt gibt.

Da der Local Guide, der einheimische Führer, auch nur ein Fachidiot ist und wie das andere touristisch eingespannte Personal auch nur das Wohl und die Vermeidung des Wehe der mit harten Dollars bezahlenden Gäste im Sinn hat, wird er von sich aus nicht davon anfangen, von etwas zu berichten, was er selber auch schon lange nicht mehr richtig mitbekommt. Seit die Bevölkerung verstanden hat, dass Politik eventuell etwas mit Verbesserung der Lebensverhältnisse zu tun haben kann, so wenigstens behaupten es die anreisenden Politiker und Agitatoren immer wieder, ist sie auf einmal politisch interessierter geworden. Wenn man die Berichte früherer Reisender liest, muss man annehmen, dass sich das Bewusstsein und die Selbstreflektion der Leute gewandelt hat. Die früheren Reisenden, die ich meine, waren Einzelreisende. Damals standen die hohen Gipfel des Himalaja und Karakorum noch unberührt.

Den Luxus des Alleinreisens leistete auch ich mir. Ich trat die Reise an, ohne zu wissen, dass ich eine politische Mission zu erfüllen hätte. Mein Sendungsbewusstsein musste erst noch – nach der Versendung gleichsam – geweckt werden. Aber das besorgten die Einheimischen selber. Ich war ihr zunächst unfreiwilliges, dann dankbares Opfer. Alles was ich tun musste, war selber zum Fragenstellen überzugehen, zuzuhören und zu dokumentieren. Insofern wurde ich zum Ausführenden. Nur das habe ich zu verantworten.

Ich dachte, ich wäre für mein Vorhaben genügend gerüstet, das ja voraussichtlich eher in einer physischen Herausforderung bestehen würde. Mein Agent in Islamabad, der mir die Sondergenehmigung für die Expedition in das Sperrgebiet um den K2 zu besorgen hatte, konnte die Abmachung nicht einhalten, weil es noch einmal spät und viel in den Bergen des Karakorum geschneit hatte. Einen späteren Termin konnte er für mein Unternehmen nicht anbieten, weil es Probleme mit der Kommunikation gab. Seine Mailbox funktionierte nicht. Seine letzte Nachricht, ehe ich umdisponierte, war, dass er sich auch noch um einen geeigneten Bergführer zu kümmern hätte.

Dann fand ich einen anderen Agenten, der eigens für die Zusage einen Bergführer aus seinem Dorf überredet hatte, obwohl der bereits für eine andere Expedition einer anderen Agentur angeheuert hatte. Mithilfe dieses „local experienced guide“ würde ich noch die entsprechende Ausrüstung besorgen und mir im Gebiet zu Beginn der Expedition noch die erforderliche Zahl an Trägern zusammenstellen müssen.

Geplant war eine dreiwöchige Expedition ins Karakorum, von Askole aus, der letzten Siedlung, über den Baltorogletscher ins Grenzgebiet mit China und Indien und wieder über den Gondogoro La Pass zurück ins bewohnte Hushe Tal. Dahin, wo auch mein Guide und sein Agent zu Hause waren. Es kam also relativ kurzfristig zu meinem Entschluss, den ich auch nicht mehr wegen einer kurz vor Abreise aufkommenden Erkrankung rückgängig machte. Diese Expedition, dachte ich, wäre eine der spektakulärsten, was die Naturansichten anbelangt, die man auf diesem Planeten machen kann.

Abgesehen von dieser ins Karakorum führenden Expedition, die ich ohne die Unterstützung durch Einheimische, von deren menschlicher Natur ich noch keine Vorstellung hatte, nicht durchführen konnte, hatte ich noch einen Erkundungsgang auf der Nord- und Südseite des Nanga Parbat geplant. Dieses Gebiet liegt südwestlich vom Karakorum im Himalaja. Auf Satellitenbildern erkennt man jedoch keine Grenzen. Das eine Gebirge geht in das andere über und kümmert sich weder darum, in welche Richtung die Wasser abfließen, noch welche Namen sich der Mensch ausgedacht hat.

Anschließend würde ich noch das sagenhafte Hunza Tal besichtigen. Sollten dann noch ein paar Tage übrigbleiben, wollte ich die beiden interessantesten Städte Pakistans besichtigen: Lahore und Peschawar, die beide verkehrsmäßig günstig ebenfalls im Norden des Landes lagen. Damit sollten meinen Erwartungen mehr als Genüge getan sein. Ich war es gewohnt, das durchzuführen, was ich geplant hatte. Doch dieses Mal sollte es ganz anders kommen.

Ich hatte auch gehofft, mit der einheimischen Bevölkerung so weit in Kontakt zu kommen, dass ich etwas über diese Menschen und ihre Kultur, vielleicht auch etwas über ihre Ansichten und Absichten erfahren würde. Dies erforderte jedoch schon eine zunehmend über das Mindestmaß hinausgehende Beschäftigung und ein näheres Hinzutreten und Bekanntwerden. Das ist einer der Gründe, weshalb man bevorzugt allein reist, um sich und den Einheimischen uneingeschränkt und andauernd die Gelegenheit zu geben, sich miteinander zu beschäftigen. Man nimmt als Reisender möglichst „wenig“ von zu Hause mit, um möglichst „viel“ im Reiseland „mitnehmen“ zu können. Dass ich mich dann aber in Tat und Wahrheit wirklich mehr mit den Menschen und dem, was sie bewegte, was sie dachten und fühlten, auseinandersetzen würde, als mit Bergen, Gletschern und vereisten Pässen, war nicht abzusehen. Hätte ich nur meine montan-terrestrischen Unternehmungen durchgeführt, hätte es wohl auch bei weitem nicht so viel zu berichten gegeben, jedenfalls nicht von dem, was für die Menschen dieses Landes lebenswichtig und aktuell ist.

Die Berge bleiben, man kann sie notfalls auch im nächsten Jahr besteigen. Sie bleiben unverändert einladend oder abweisend. Die Menschen sind wie der Wind, der den Bergen nichts anhaben kann. Sie verändern sich und sind morgen nicht mehr da. Dafür andere. Aber was kümmern mich die anderen, die ich nicht kennen werde? Das Besondere am Menschsein sind die Begegnungen mit anderen Menschen, sie verändern den Menschen am meisten. Das ist auch das Besondere beim Reisen. Die Begegnung mit sich selber ist immer gegeben. Aber man erlebt sich selber auch intensiver, wenn man sich in Raum und Zeit fortbewegt.

Hatam, mein Guide, sagte, er glaube nicht, dass ich nach Pakistan zurückkehren würde. Er schaute mich dabei forschend an, als er es sagte, und hatte zugleich ein wissendes Lächeln. Da war er sich meiner Sache sicherer als ich. Er wusste nichts davon, dass ich ein wandernder Abenteurer war, keiner, der es lange an einem Ort aushielt, solange er wusste, dass es noch andere Orte gab, mit anderen Erlebnissen und anderen Menschen. Zumindest hatte ich ihm nichts davon gesagt. Aber er hatte erfahren, dass ich gut zu Fuß und flink die Passhöhen hinaufgegangen war, und vielleicht hatte ihn mein ständiges Blicken zum Horizont eine gewisse Rastlosigkeit vermuten lassen. Hilfreich ist es, wenn man trotz Rastlosigkeit zielbewusst und zielorientiert ist. Und zwar so: wenn ein Ziel erreicht ist, steuert man das nächste an. Sich immer neue Ziele setzen, nie stillstehen und sich nie zufrieden geben mit dem erreichten Status, nicht ausruhen, nicht anhalten, das alles klingt eher nach Untugend. Aber Beine hochlegen ist es noch mehr. Wenn überhaupt die Beine geschont werden mussten, dann nur, damit sie nachher wieder fest austreten konnten, nicht der Muße wegen. Nein, niemals!

Wenn der Weg das Ziel sein sollte, wie es gerade vernünftige Bergsteiger gerne sagen, dann durfte er zwar einen konkreten Anfang haben, aber kein festes Ende. Meine Expedition war nur eine Rundreise über die Berge. Wenn sie wieder am Anfangspunkt ankam, würde ich nicht in die Hände klatschen und so tun, als sei der Weg abgeschlossen, wenngleich die Expedition ihr Ende gefunden hatte. Ich würde die Erinnerung, die Erfahrung und die Eindrücke immer weiter mit mir nehmen. Es war kein Häkchen auf einer Liste zu machen, genauso wenig waren Begegnungen und Menschen für mich „erledigt“. Ein formuliertes Ziel ist nur Etappe, immer nur Durchgang zu dem, was noch kommt. Das ist das eigentliche „Bergesteigen“, das Nächste liegt über dem Letzten, man steigt höher, bildlich gesprochen, auf eine andere Ebene. Vor allem kann kein Ziel Selbstzweck sein, nichts sein, was den Menschen so sehr vereinnahmen kann, dass es ihn völlig gefangen und ihm seine Freiheit nimmt. Es wäre ja dann die Freiheit, weiter zu gehen und höher zu steigen – oder auch herunter. Man muss immer frei sein für das Hoch und Runter.

Das Ziel „Ich muss auf den Berg, koste es, was es wolle!“ hat manchem schon das Leben gekostet und vorher schon den Verstand. Da hat sich ein Rollentausch vollzogen, nun bestimmt der Berg, ein totes Stück Fels, - in Wirklichkeit der Wahn des Menschen -, was der Mensch zu tun hat. Und der Mensch und alles, was sich dagegen noch wehren könnte und von Vernunft geleitet wird, gehorcht.

Irdische Ziele können nicht absolut sein und deshalb muss man sie auch nicht unbedingt erreichen, sollte man meinen. Damit bin ich eigentlich schon mittendrin in meiner Geschichte, denn das eine Ziel geriet in den Hintergrund des Interesses gegenüber einem nicht weniger spektakulären. Kluge Bergsteiger sind solche, die gelernt haben, dass kein Berg der Welt es wert ist, sich das Leben zu nehmen oder es sich zu verderben, was dem erstgenannten kaum nach-, aber sehr nahe steht. Und so verhält es sich mit jedem vorläufigen Reiseziel. Aber ich will mich bei dieser Aussage doch lieber auf mich beschränken.

Hatam behandelte mich nicht einfach nur wie einen vorübergehenden Kunden, der eine bestimmte Zeit lang sein Chef sein würde. Nach der geschäftlichen gab es auch eine freundschaftliche Beziehung. Das lag hauptsächlich an ihm, denn er war es, der entschieden hatte, über Gebühr hinaus seine Zeit zur Verfügung zu stellen. Er lud mich ein, als wir alles Geschäftliche hinter uns gelassen hatten und das Vertragsverhältnis beendet war, sein Dorf, sein Zuhause, seine Familie zu besuchen. Er hatte sie ja selber seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Da nimmt man keine Fremden mit, es sei denn sie sind Trophäen. Aber das war ich nicht.

Er musste mein Interesse an Land und Leuten bemerkt haben und dachte wohl, mir damit einen Gefallen zu tun. Es spielte für ihn eine Rolle, nicht nur jemand zu sein, der den „Zieljägern“ behilflich war, ihre Ziele zu sichern. Er wusste als Mann der Berge, dass zwischenmenschliche Erfahrungen und Erlebnisse viel wichtiger waren als die physischen und ego-psychischen Darbietungen. Er spürte es nicht nur, er wusste es.

Zunächst verhieß mein Erscheinen am Flughafen nur Geschäft. Die Bedenken wegen meiner mangelnden Gesundheit lösten bei Hatam und Hanif, meinem Agenten, sichtbare Besorgnis aus. Die alsbaldige Weiterreise in die Berge, nach Erledigung der Formalitäten bei den zuständigen Behörden, bedeutete eine vierundzwanzigstündige Busreise auf schlechten Straßen, hinauf in klare, aber dünne Luft und das war einem weiteren Verweilen in der staubigen, nordpakistanischen Tiefebene mit ihrem Lärm und Schmutz in den Städten vorzuziehen.

1. Kapitel: Ein Mann der Berge

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Rast am Konkordiaplatz auf 4500 Metern Höhe

Vor meiner Abreise in die Berge traf ich wie vereinbart Abbas Malik, den Manager von Adventure Travels. Er holte mich von meinem Hotel im Stadtbezirk G 7 ab und wollte mich in die vornehme Blue Area mitnehmen. Ich schlug ihm vor, lieber in dem pittoresken Bereich des Sitara Market zu bleiben, dessen geschäftiges Treiben schon gleich nach der Ankunft meine Neugier geweckt hatte. Diese Gegend war mehr für die durchschnittlichen Belange der einheimischen unteren Mittelklassebevölkerung, die ungefähr die Hälfte der Bewohner in Pakistans Städten ausmachte, eingerichtet. Ein Laden reihte sich an den anderen. Es gab Krämerläden, in denen es alles zu kaufen gab, was in dieser orientalischen Welt zwischen Rückständigkeit und Fortschritt zu gebrauchen war. Bekleidungsgeschäfte, in denen erkennbar mehr nach der schlichten Landestracht als moderne westliche Kleidung verkauft wurde, Lebensmittelläden mit halbwegs modern anmutendem Warenangebot, Gemüse- und Obststände der alten Art neben und auf dem Gehsteig; eine erstaunliche Anzahl von kleinen Apotheken, die Naturmedizin und Chemie der Industriebetriebe feilboten – hier hatte ich mich schon sehr preiswert bedient; Schneidereien, in denen durchweg alte Männer hinter Singer-Nähmaschinen saßen; eine Fahrzeugreparaturwerkstatt neben einer Metzgerei, die beide sehr unordentlich aussahen; in den Stockwerken darüber gab es verschiedene Büros, vermutlich mit Verrichtungen und Funktionen, die es in westlichen Ländern nicht gab; ein paar eher unscheinbare Hotels lugten vorzugsweise in den Nebengassen hervor. In dem ansehnlichsten war ich selbst untergebracht. Es führte den inspirierten Namen „Asia Hotel“. Ich war dort natürlich der einzige ausländische Gast. Ich sah auch sonst im Stadtteil keine Touristen. Erst in der moderneren Blue Zone sah ich vereinzelt welche.

Was es aber zuhauf im Sitara Market gab, waren die Buden der Straßenhändler, die irgendeine dampfende oder Fliegen-verträgliche Speise verkauften oder eben – ganz unabhängig von ihrem Zustand – nicht verkauften, was mir sehr bedenklich erschien, denn frisch gegart bedarf es nicht der Konsultation der unweit gelegenen Apotheken. An jeder Ecke gab es zudem noch kleinere Cafés oder Restaurants, die in Pakistan „Hotel“ genannt werden und zu jeder Tageszeit Besucher haben. Sie trinken meist nur einen Tee oder Kaffee. Nur zur Mittagszeit füllen sich die Hotels mit Leuten, die jeden Tag hier ihr preiswertes Essen bekommen. In Südasien gibt es keine Vesperbrote.

In eines dieser Restaurants gingen wir, nachdem wir uns lange genug durch die geschäftige Männerwelt in den Gassen gedrängt hatten. Es unterschied sich von den anderen nur darin, dass es zwei große Topfpalmen im Eingangsbereich stehen hatte. Ein seltener Anblick im Sitara Market. Sonst sah es genauso wenig einladend aus wie die Umgebung.

Malik wusste ja nicht, ob ich diese klimatischen Verhältnisse kannte. Und so entschuldigte er sich, dass es nichts geworden war mit einer weitergehenden Inanspruchnahme seiner Stadtführungsdienste und auch dafür, dass es so schwül-heiß war. Ein Umstand, den hier sicherlich niemand wirklich behelligte. Die zahlreichen, lästigen Fliegen ließ er unerwähnt, ebenso das unsaubere, schmierige Ambiente. Das war wohl zu sehr Bestandteil seines Lebens.

Ich hätte noch Glück gehabt, erklärte er mir, da es vergleichsweise kühl in Islamabad war, nachdem es in den letzten Tagen einige Male geregnet hatte, und der Himmel immer noch bedeckt war, sodass die Sonne nicht prall hindurchscheinen konnte. Eigentlich ein Grund mehr, schnell ins Gebirge zu flüchten. Ich hatte meine Berghose und Bergstiefel mangels Luftfrachtfreimenge immer noch an. Er sei froh darüber, sagte Malik, nachdem er der Bedienung eine Bestellung zugerufen hatte, dass ich bei Siachen Travels einen Partner gefunden habe. Er kannte das Unternehmen allerdings nicht. Vielleicht war das bei der Vielzahl von Agenturen, die es gab, und in Anbetracht ihres kurzfristigen Daseins auch nicht verwunderlich.

Was mich mehr verwunderte, war sein Interesse gewesen, sich mit mir zu treffen. Er war ein viel beschäftigter Mann, der Manager eines einigermaßen gut gehenden, angesehenen Unternehmens. Er hatte den Vorschlag gemacht, dass wir uns in Islambad zu einem „Chat“ treffen sollten.

Als ich mich gerade nach der kitschigen, mit Plastikblumen umkränzten Uhr an der Wand umgesehen hatte, stellte er die etwas überraschende Frage, ob ich den ersten Schock der Umstellung schon überwunden hätte. Er lachte, als er mein Gesicht dazu sah, und erläuterte, was er von vielen Travelern erfahren hatte. Sie kommen aus Europa oder Amerika, einer völlig anderen Welt und betreten ohne Vorwarnung dieses rückständige Land. Es würde bei den meisten eine Weile dauern, bis sie das verdaut hätten. Und nicht wenige würden nie damit zurechtkommen.

„Ich war schon oft in Indien!“ brachte ich hervor. Indien, entgegnete er, sei nicht ganz so schlimm, er kenne Indien.

„Du wirst sehen“, sagte er, „im Vergleich zu Baltistan geht es hier noch zivilisiert zu, aber“, er machte eine Pause, in der seine Augen im Lokal umherschweiften, „es wird dir in den Bergen trotzdem besser gefallen als hier!“ Ich bestätigte, dass ich ja wegen der Berge und der Bergmenschen gekommen sei, nicht wegen der Städte. Er sagte mir, er sei zwar ein Mensch der Stadt. Aber eigentlich sei er auch ein Mann der Berge. Wenn er könnte, würde er viel lieber seine Geschäfte von Skardu aus machen, wo er ein Büro hatte. Oft genug habe er seine Zeit mit den Leuten im Karakorum und Hindukusch verbracht, um seine Tourismusprogramme zu installieren, aber auch um der Einheimischen und der Erhaltung ihrer natürlichen Umwelt willen. Das war eines der Gesprächsthemen, wegen derer wir uns treffen wollten.

Ich bat ihn vorerst, den Ventilator eine Stufe niedriger stellen zu lassen. Er blies viel üble, stickige Luft her und verursachte zu viel Lärm. Er befahl dem Personal, für Abhilfe zu sorgen. Man konnte sehen, dass er seinen Landsleuten gewohnheitsmäßig Anordnungen gab, von denen er erwartete, dass sie befolgt wurden. Er gehörte einer anderen Klasse Mensch an als das Personal eines Hotels. Er befolgte nur allseits anerkannte Spielregeln.

Malik hatte auch ein anderes Erscheinungsbild als die anderen Leute, die im Lokal saßen. Er war westlich gekleidet. Er verzichtete auf die überaus bequeme, traditionelle Bekleidung des pakistanischen Mannes mit einer luftigen Baumwollhose und einem darüber hängenden, nachthemdartigen Gewand, das an den Seiten geschlitzt ist und bei vielen noch die Ergänzung durch eine schmucklose, ärmellose Jacke erfährt. Diese Kombination nennt man Shalwar Kameez. Hemd und Hose von Malik saßen zwar locker, waren aber von modischem Schnitt. Hier in Sitara kaufte man solch teure Sachen nicht. Die gab es nur in der Blue Area, wo die Mittel- und Oberklasse ihre Geschäfte abwickelten, oder in den neuen Shopping Malls der vornehmeren Bezirke.

Malik schaute mich prüfend an. Es war nicht zu erkennen, ob er sah, was er erwartet hatte. Er kannte mich nur von der elektronischen Post. Malik war groß, Anfang 40, trug kurze, schwarze Haare und war glattrasiert. Er sah attraktiv aus und hatte einen klugen Blick. Es war wohl die rastlose Lebensart mit dem fordernden Beruf, die ihn ansatzweise etwas füllig werden ließ. Er machte einen gepflegten Eindruck. Er schien nicht sonderlich gestresst. Und doch schien er nicht gänzlich frei zu sein von der Last noch unbewältigter Aufgaben. Er war schnell im Denken und im Reden. Ich schloss daraus, dass er weniger zu der gemütlichen Sorte von Geschäftsleuten gehörte, sondern eher zur rastlosen, die immer neuen Verpflichtungen nachgeht und einfach weitermachen muss, weil dem Weitermachen eine eigene Lebensqualität zukommt. Sein Gesamteindruck war durchaus sympathisch. Aber das war nach unserem bereits vergangenen Meinungsaustausch auch nicht anders zu erwarten gewesen.

Die Bedienung brachte unsere Getränke. Grüner Tee. Malik schob mir eines davon zu. Er fragte mich, ohne sich weiter mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten - dazu war seine Zeit zu kostbar -, warum ich mich für die Umwelt so sehr interessierte. Wir wollten ja die Unterhaltung fortsetzen, die wir per E-Mail angefangen hatten. Seine bisherigen Kunden aus dem Westen hatten ihn nicht auf dieses Thema angesprochen, obwohl die meisten nach Pakistan gekommen waren, um die Natur zu erleben.

Seine Frage traf mich noch unvorbereitet. Etwas zu hochgestochen - weil ich immer einen Vorrat an allzweckdienlichen Sprüchen parat habe - sagte ich, dass man seine Verantwortung für diese und die kommenden Generationen wahrnehmen müsse. Dabei erinnerte ich mich gerade, dass er es ja gewesen war, der die Diskussion um die Verhältnisse im heutigen Pakistan angefangen hatte.

Er hatte in einer Mail beiläufig erwähnt, dass man versuche, sein Geschäft zu zerstören, und es ihm deshalb nicht immer möglich war, den Kontakt mit seinen Kunden aufrechtzuerhalten. Deshalb war es nicht zu einem Geschäft mit ihm gekommen. Als Begründung gab er an, dass er Kritik an den herrschenden Verhältnissen geübt habe, übers Internet könne er keine Einzelheiten preisgeben, da seine Post gelesen würde. Es hatte mich folgende Nachricht von Malik erreicht:

„Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir die letzten Monate unvollständige Kommunikation hatten und alle unsere Klienten Schwierigkeiten hatten, uns zu erreichen, weil jemand vom Internet Service Provider der Regierung (COMSATS) unsere ganze Geschäftspost ohne unser Wissen gestohlen hat. Das ist heute festgestellt worden. Ungefähr 500 Geschäfts-E-Mails und Anfragen wurden an die Konkurrenz verloren, wegen der großen Korruption in dieser Abteilung. Da wir eine Beschwerde eingereicht haben, wird dieser e-mail- Diebstahl hoffentlich eingestellt und normale Kommunikation wird ab übermorgen wieder möglich sein.“

Diese Mitteilung war aus mehrfacher Sicht außergewöhnlich. Geschäftsleute berichten gewöhnlich nicht gegenüber Geschäftspartnern, dass es irgendetwas gibt, was das Geschäft einseitig gefährden könnte. Ich hatte noch nachgefragt, was das Hauptproblem sein könnte. Und er hatte Andeutungen über Korruption gemacht und das Beispiel gebracht, wie er sich für die Erhaltung der natürlichen Umwelt in der Bergregion stark gemacht hatte, denn die hatte stark unter den Abholzungen durch die Holzmafia gelitten. Ich hatte ihn gebeten, mir darüber mehr Informationen zukommen zu lassen, da ich ebenfalls ein großes Interesse an der Erhaltung der Natur hätte. Was mich umso mehr interessierte, war seine eigene Sichtweise. Ein Bewusstsein für Naturschutz steckt in Südasien noch in den Kinderschuhen.

Malik war sich nicht sicher, ob wir darüber online reden sollten, und meinte, da ich sowieso nach Pakistan kommen würde, könnten wir alles Weitere dort besprechen. Malik hatte meine Neugier geweckt. Er schien jemand zu sein, der mehr wusste als andere. Es war unwahrscheinlich, dass er nur etwas über Abholzungen wusste.

Ob es hier denn sicher sei, fragte ich Malik. Dabei deutete ich auf die anderen Gäste im Café. Die jungen Männer waren sicherlich kein Problem. Die drei älteren Graubärte in der Ecke, in deren Nähe zu setzen mich Malik, als wir gekommen waren, gehindert hatte, saßen rauchend und wortreich zusammen. Dann aber wurden sie mitunter sprachlos, wenn sie neugierig zu mir herüberschauten, als sei ich sonst der Gegenstand ihrer Unterhaltung. Ich war mir über ihre Gestik und Körpersprache nicht sicher. Malik gab mir jedoch ohne ein Anzeichen von Selbstzweifeln zu verstehen, dass wir reden könnten. Die da, sagte er, könnten kein Englisch. Außerdem hatten wir den brummenden Ventilator. Zusätzlich plärrte aus einem nahen Lautsprecher Urdumusik.

Ich hatte ihm gesagt, dass ich zwar noch nie in Pakistan, aber schon mehrfach in Indien gewesen war, wo die Verhältnisse ähnlich waren, besonders im Punjab, das ja über die Grenze reichte. Hüben wie drüben wohnten Pandschabis, nur waren die einen Muslime, die anderen Hindus. Ansonsten hatte ich wenig über Pakistan gelesen. Immerhin wusste ich, dass das Land, das 1947 als Abspaltung von British India unabhängig geworden war, große Ziele ausgerufen hatte, die mit der Begeisterung für eine selbständige, islamische Gesellschaft in einem rein islamischen Staat auch schnell und nachhaltig erreicht werden sollten. Das hatte man zumindest erwartet. Aber es war ganz anders gekommen. Warum hatte das Land, das mit dem Anspruch, das ideale, islamische Land zu werden, ins Licht der politischen Welt getreten war, nicht die vorausgesagte Entwicklung gemacht? Lag es an den Leuten, über die sich Malik beklagte? Das wollte ich nicht glauben. Pakistaner sind keine schlechteren Leute als andere. Das sagte ich auch Malik.

„In Indien hatte ich den starken Eindruck, dass diese von der Natur so reich begabten Menschen in einer unglückseligen, benachteiligenden Gesellschaftsordnung leben. Ich meine das Kastensystem, das religiös begründet ist. Die Menschen sind im Kopf nicht frei und im Herz nicht unbeschwert. Es gibt keinen Willen, die Dinge zu ändern. Aber in Pakistan…“, ich überlegte kurz, ob ich aus meiner Aussage eine Frage machen sollte, „…in Pakistan haben sie den Islam, von dem geglaubt wird, dass er die Menschen zum Guten anleitet.“ Ich wartete eine Weile, um Malik Gelegenheit zu geben, etwas dazu zu sagen, aber er wollte nur zuhören.

„Das sagen sie auch in Ländern wie Iran und Afghanistan. Aber ich kann nicht erkennen, dass sich die Dinge wirklich verbessern. Es bleibt sich gleich. Was denkst du?“ Malik lehnte sich zurück, er machte einen etwas reservierten, um nicht zu sagen geistesabwesenden Eindruck. Ich verschärfte die Brisanz meiner Frage noch durch eine Unterstellung.

„Warum braucht man in diesen Ländern seltsame Theorien – immer sind die Anderen schuld –, um das Ausbleiben von Fortuna zu erklären?“

„Korruption, Neid und Missgunst sind die Ursachen!“ sagte Malik. Ich hatte zu befürchten, dass ihn das Thema vielleicht doch langweilen würde, wie es mit allem Ungemach ist, das schon lange Bestand hat und nicht angegangen werden kann. Ich würde mir Mühe geben müssen, ein für ihn auf jeden Fall leidiges Thema zum ernsthaften Gesprächsgegenstand zu machen. Aber ich unterschätzte ihn, er war nur dabei, mich einer Prüfung, einer Art Seh- und Hörtest zu unterziehen.

„Das sind nur die Auswirkungen“, sagte ich, „aber was sind die tiefer liegenden Ursachen für diese Fehlleistungen? Was sind die Wurzeln?“

„Du kommst aus einem sehr reichen Land!“

„Ja, aber es war nicht immer sehr reich.“ Ich war mir nicht ganz sicher, was er meinte.

„Ich weiß. Du kommst aus einem Land, das damals, als Pakistan selbständig wurde, zerstört war, viele Millionen Menschen, Menschen, die ein Land braucht, waren tot. Aber weißt du was, ihr hattet das Know-how, es besser zu machen. Und ihr hattet den Willen dazu. Sicher. Was dann geschah, war das Ergebnis von harter Arbeit, hingebungsvoller Arbeit mit der Idee, dass man sowieso für sein Leben arbeiten muss. In diesem Land sind zu wenig Leute bereit, hart und gewissenhaft zu arbeiten.“

Mir war es nicht ganz recht, dass er den Gedankenaustausch woanders hingeführt hatte, als ich es wollte. Ich hatte daran gedacht, dass ein stark traditioneller Glaube an die Überlegenheit der islamischen Kultur die Menschen in ihren Bemühungen einschränken könnte. Keine wahre Religion kann sich mit einem tatenlosen Glauben begnügen. Aber Malik schätzte den Einfluss rein säkularer Kräfte offenbar stärker ein. Er war in seiner Lebens- und Arbeitsphilosophie erstaunlich verwestlicht. Warum das so war, erfuhr ich schnell. Malik hatte eine sehr pragmatische Vorstellungswelt.

„Der Mensch ist auf der Welt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, um für seine Familie zu sorgen und vielleicht noch für seine Mitbürger. Das ist die Philosophie der einfachen Menschen und ich glaube nicht, dass es eine schlechte Philosophie ist.“ Er redete mit Überzeugung, denn er hatte lange darüber nachgedacht. Er war ein Asiate, der sich Zeit nahm, über die wichtigen Dinge des Lebens, neben denen des Business, nachzudenken. Kam das von seiner europäischen Bildung?

„Und in Pakistan ist das auch so?“ fragte ich.

„Es gibt auch in Pakistan viele einfache Menschen, die diesem Prinzip folgen, aber es gibt auch zu viele Blutsauger.“

„Aber die gibt es doch in jedem Land! Warum ist Pakistan eines der ärmsten Länder der Welt? An Leuten wie dir kann es ja nicht liegen!“

Das sagte ich nicht, um ihm zu schmeicheln. Ich wollte ihn dazu bringen, dass er sagte, was er dachte. Er bestellte gerade einen Kaffee, obwohl die Tasse Tee noch unberührt vor ihm stand.

Ich fragte Malik, was ihm durch den Kopf ginge, wenn er die Armut in diesem Land sah. Er war ja in Großbritannien aufgewachsen.

„Ich versuche, nicht darüber nachzudenken“, sagte er und presste die Lippen zusammen und wiederholte: „Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Nicht mehr.“

„Als Sicherheitsvorkehrung, damit man nicht gemütskrank wird?“

„Man muss selber das tun, was man tun muss. Was ich tue, macht niemanden arm. Im Gegenteil, ich versuche den Landsleuten im Norden zu helfen, indem ich beim Aufbau ihrer Infrastruktur helfe. Und viele Landsleute, denen es sonst schlechter gehen würde, arbeiten für mich als Führer oder Träger.“

„Aber sie bleiben arm!“

„Was ist Armut? Manchmal denke ich, dass die Reichen die wirklich Armen sind. Schlimm ist nur, dass man den Mittellosen die Möglichkeit versperrt, in die Welt hinauszugehen und etwas Anderes aus ihrem Leben zu machen. Ich sage ja nicht, dass sie es machen sollen. Aber sie müssten die Möglichkeit dazu haben. Es geht nicht um materiellen Reichtum, sondern um die Mittel, die man zum Leben braucht, zu einem freien Leben. Die Reichen sind nicht wirklich frei. Man sieht das ja gerade an denen, die von unten nach oben kommen.“

„Was passiert mit ihnen?“

„Die wenigen aus den armen Schichten, die es nach oben schaffen, werden schnell in die Gebräuche der Etablierten eingewiesen, sie werden in Clubs eingeführt, tragen die gleiche Mode, bis sie soweit sind, dass eine freundliche Geste gegenüber denen, die unten sind, als unschicklich zu gelten hat, das ist nämlich unter der Würde der herrschenden Klasse. Ich halte mich nicht an diese Gepflogenheiten.“

„In jedem Land gibt es Kreise, die sich als herrschende Klasse auffassen.“ Ich dachte daran, dass das Klassendenken ja gerade in Großbritannien mächtig war und besonders im ehemaligen Empire immer wieder demonstriert wurde. Was Wunder, dass es sich bewahrt hatte. Malik beschrieb die Situation weiter:

„Die Kinder der Reichen haben alle Möglichkeiten, die Kinder der Armen dürfen ihren Vätern nacheifern. Und sie sollen die Reichen in ihre Regierungsämter wählen und ihre niederen Dienste klaglos verrichten. Wann immer etwas für die Armen getan wird, dann ist es, um sie noch weiter anzutreiben, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, nämlich das Glied, das alles durch seine Arbeit zusammenhält. Es wäre dumm, wenn man für die Armen keine Krankenhäuser baute, denn man muss ihr Arbeitspotential erhalten. Und trotzdem macht man es nicht, eben weil man dumm ist – und zu geldgierig. Die Geldgier ist ja immer eine Dummheit. Im Norden kommt auf 6.000 Einwohner ein Arzt. Das zeigt, wie dumm die Herrschenden sind…“

„…oder ihre Gier ist größer als ihr Verstand. Gibt es keine politischen Parteien, die etwas dagegen tun oder eine andere Vision haben. Es gibt ja auch anständige Reiche. Aber sie sind wohl immer in der Opposition!?“

„Sie sind unbedeutend. Wann immer hier jemand für die Armen aufsteht, um ernsthaft etwas zu ändern, wird er des Marxismus verdächtigt.“

„Und der war ja bekanntlich ein Atheist. Für Muslime kann es ja nichts Schlimmeres geben, als sich von Atheisten regieren zu lassen!“ Malik widersprach dem nicht. Er sagte: „Was wir brauchen, ist nicht, die Armut an sich einfach nur statistisch zu reduzieren. Vielmehr müssen wir die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Unterprivilegierten endlich … nicht mehr unterprivilegiert sind...“

„Sie sollen hinausgehen können in die weite Welt…“

„Ich sagte das nur so. Für einen Pakistaner ist Pakistan die weite Welt. Ein junger Mann aus Skardu sollte in Karachi studieren gehen können, wenn er die schulischen Voraussetzungen erfüllt hat. Am Geld sollte das nicht scheitern.“

„Verhältnisse wie im Westen!“

Malik lachte. „Im Westen ist nicht alles schlecht! Es geht darum, den Menschen ihre Würde zu geben.“

„Das hat nicht nur etwas mit Armut, sondern auch mit Erziehung zu tun.“

„Unterbeschäftigung und Armut, das sind die großen Probleme in unserem Land. Deshalb kommt es übrigens zu vielen Selbsttötungen. Aber das beunruhigt die Offiziellen nicht sonderlich, wir haben einen Überfluss an Menschen…“

„Das könnte Anlass geben, sich zu beunruhigen…ich meine den Überfluss an Menschen!“

„Die offiziellen Zahlen der Wirtschaft versprechen ein Wachstum, das heißt nichts Anderes, als dass der Wohlstand der Reichen gesichert wird.“

„Wie hoch ist der Anteil der Armen wirklich, wenn die offiziellen Zahlen unzuverlässig sind? Wer durch das Land reist, sieht das ja. Aber leider habe ich keine Zeit mir andere Gebiete des Landes anzusehen.“

„In diesem Land ist mindestens ein Viertel der Bevölkerung so arm, dass es ihm an ausreichender Versorgung mit den lebensnotwendigen Dingen fehlt. Das sind schon 40 Millionen Menschen.“

„Und in den Bergregionen?“

„In der Northern Province dürfte das für die Hälfte der Bevölkerung gelten!“

Es hätte mich interessiert, die Sichtweise der Betroffenen dazu zu hören. Würde es ihr Stolz oder ihre Bescheidenheit zulassen, zuzugeben, dass sie zu dieser armen Bevölkerungsschicht gehörten? Malik klärte mich weiter auf. Er hatte sich auch mit dem Zahlenmaterial beschäftigt. Ich konnte es mir nicht merken. Ich musste nachschlagen. Man konnte sagen, dass rund 1.000 Rupien monatlich die Armutsgrenze markieren, also 150 Dollar. Davon konnte man 2.300 Kalorien pro Kopf berechnen. Die Weltbank und das United Nations Development Programm widersprachen da der pakistanischen Regierung. Nach ihrer Auffassung wäre ein Drittel der Bevölkerung, immerhin 50 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze von 1.800 Rupien. Und dem Drittel darüber ging es vermutlich auch nicht viel besser!

„Hier in Islamabad gibt es keine Armen“, sagte Malik und forderte mich auf, mich umzusehen. Die Hauptstadt hatte auch eine Vorzeigefunktion. Für den Rest des Landes war allerdings das Schlimmste zu befürchten.

„Pakistan ist wohl noch ein Agrarstaat! Wie sieht es aus mit der industriellen Entwicklung?“, fragte ich, als ob ich einer Erklärung für die Missstände auf der Spur wäre.

In Pakistan wird in der Landwirtschaft erst allmählich die Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzt. Die Textilindustrie ist in Pakistan der wichtigste Industriezweig. Auch dort will man die Handarbeit reduzieren. Pakistan hat versucht, westliche Betriebe zu finden, die ihre Produktion mit den billigen Lohnarbeitern des Landes verrichten würden. Der Westen befürchtet aber, dass die Produktivität dieser Arbeiter zu gering sei. Jedoch nicht immer. Die Fußbälle bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 waren in Pakistan handgefertigt, wahrscheinlich sogar von Kinderhänden. Malik hatte seine eigenen Erfahrungen. Ein japanischer Fabrikbesitzer sagte ihm einmal, er wolle nicht, dass man einen Arbeiter an eine Fertigungsmaschine stellte, wenn er nicht einmal die Betriebsanleitung lesen konnte. Man braucht also nicht nur begabte Arbeiter, sondern auch gebildete.

„Aber die Armut in Pakistan hat doch sicherlich auch etwas mit der Überbevölkerung zu tun, oder nicht?“ fragte ich erneut.

„Ja, nur ein Drittel der 160 Millionen ist beschäftigt.“

„Und die anderen?“

„Suchen Arbeit, sofern sie jugendliche und erwachsene Männer sind. Zia ul Haq sagte zur hohen Geburtenrate: Ihr gebärt Kinder und Gott wird auf sie aufpassen.“ Ein herzliches Willkommen zur Bevölkerungsexplosion! Das war die Crux, zu wenige Leute verdienten und zu viele hingen von ihnen ab.

„Es kann sein, dass wir mehr Autos auf den Straßen herumfahren haben und mehr Leute als zuvor Zugang zum Internet haben, aber immer noch haben die meisten Pakistaner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Regierung, Armee und Bürokratie, sie haben die Hauptschuld, dass nichts klappt, was in einem modernen Staat funktionieren muss. Wir brauchen eine Gesellschaft mit weniger Armen, weniger Selbstmördern, mit weniger Leuten, die sich mit Kriminalität beschäftigen. Und vielleicht brauchen wir auch weniger von diesen Reichen, die die kostbaren nationalen Ressourcen verschwenden.“

Die pakistanische Tageszeitung „Dawn“ schrieb am 29.06.2014:

„Ein Fabrikarbeiter in Lahore tötete seine drei kleinen Töchter, da er überzeugt war, nicht in der Lage zu sein, ihnen mit seinem mageren Einkommen ein ehrenwertes Leben gewähren zu können, so sehr er sich auch anstrengen würde. Er verschonte nicht einmal seine jüngste Tochter, dreijährig, die ihn darum bat. Ein schockierter Polizist erschoss ihn im Gefängnis, er sagte, dieses Tier hätte kein Recht zu leben. Unlängst tötete eine fünfzigjährige Frau in Karachi sich selbst, indem sie ein Pestizid trank, lange nachdem ihr Mann verstorben war und es feststand, dass ihre zwei Söhne keine Arbeit finden konnten und Drogen genommen hatten. Der Polizeibericht von Rawalpindi besagt, dass mehr als 40% der Jugendlichen Selbstmord begingen, wenn es ihnen nicht gelungen war, einen Job zu finden.“

Ich fragte Malik, ob er glaubte, dass das Heer der Armen noch größer werden würde oder ob vielleicht wie in Indien der Mittelstand anwachsen würde.

„Der große Gatsby hat einmal gesagt: eines ist sicher, die Reichen werden immer reicher. Die meisten hierzulande hoffen auf das Wirtschaftswachstum. Es wird steigen und für die Armen wird auch etwas abfallen. Aber es wird nicht mehr sein als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Liberalisierung des Marktes macht ja doch nur die Unternehmer reicher.“

„Was wird am dringendsten gebraucht?“

„Was die Armen brauchen, ist eine Verbesserung der Gesundheitsfürsorge und der Bildungsmöglichkeiten, sie brauchen Sanitäranlagen und vor allem Trinkwasser. In den Städten muss außerdem die Wohnsituation verbessert werden und die Preise für Grundnahrungsmittel müssen niedrig gehalten werden. Ein effizientes, kostengünstiges Transportsystem ist auch nötig … und sicher sollte es auch sein. Und dann gibt es das Problem mit den großen Familien. Wer gibt dem Nachwuchs Arbeit? Und dennoch haben wir Kinderarbeit, weil sonst die Armen nicht überleben können. Aber die Armen haben keine politische Vertretung, sie haben keine Stimme, die gehört wird. Und deshalb haben wir ungesunden, unterernährten, schlecht gebildeten Nachwuchs mit einem niedrigen IQ. Das hemmt die Produktivität, fördert die Kriminalität und erhöht den Druck, fortzuziehen.“

Der Zustandsbericht eines der ärmsten Staaten auf diesem Planeten weist in die Zukunft, denn es war zu befürchten, dass viele Staaten in eine solche Überlebenskrise hineinrutschen würden. Zum Vergleich: in Südkorea, dessen Bevölkerung sich nur verdoppelt hat gegenüber der Vervierfachung Pakistans, ist die Wirtschaftskraft seit 1950 pro Kopf um das zwanzigfache gewachsen, die Pakistans aber gesunken.

Ich bat Malik, mir zu erläutern, wie er als einer der Wenigen zu der Erkenntnis gekommen war, dass Wohlstand nicht wichtiger war, als überall willkommen geheißen zu werden.

„Ich bin in England aufgewachsen und habe dort graduiert. Deshalb sehe ich die Dinge mit westlichen Augen. Das hat mir geholfen, ein Pionier in der Tourismusindustrie zu werden. Das war vor vierundzwanzig Jahren. Damals gab es noch keinen Tourismus. Aber hier liegen die Dinge anders als in Europa. Wenn die Leute hier so dächten und arbeiteten wie Europäer, wäre dieses Land eines der reichsten in der Welt. Aber das wird niemals geschehen, wegen des Denkens der meisten Leute hier. Wir haben 120 Angestellte angeheuert und wieder entlassen (er sagte „hired and fired“) in den letzten 19 Jahren und ich habe niemals eine einzige Person gefunden, die ihre Arbeit hingebungsvoll gemacht hätte.“

Als er das sagte, war deutlich Zorn, ja Verachtung, wenn auch unterdrückt, herauszuhören. Aber seine Stimme blieb gleichmäßig laut. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er zu Übertreibungen neigte.

„Zweifellos könnte das Land viel reicher sein. So viele Möglichkeiten liegen brach. Hat die Regierung kein Interesse an der Förderung des Tourismus?“ fragte ich.

„Sie verfolgen ihre eigenen Interessen. Allmählich erkennt man, dass man mit Tourismus noch mehr Geld in die eigenen Taschen scheffeln kann. Aber zunächst hat die Tourism Development Corporation nichts getan, um wirklich etwas zu bewegen. Und viel hat sich auch nicht geändert. Nicht einmal Broschüren wurden die letzten zehn Jahre neu aufgelegt.“

„Dabei ist doch der Tourismus in Pakistan wie eine goldene Gans.“

Malik lachte, vermutlich im Voraus über das, was er sagte und was ich erst später wirklich begreifen können würde.

„Das Geld liegt vor allem in den Bergregionen auf der Straße, sobald man sie hergerichtet hat. Ja, man verpasst die goldene Gelegenheit im Unverstand, und ohne es zu bedauern. Ich habe jetzt erst wieder eine E-Mail erhalten von einem Tour Operator, den ich dir auch als zuverlässig empfohlen habe. Drei Bergsteiger-Expeditionen wurden die Genehmigungen versagt, ohne jeden ersichtlichen Grund. Sie müssen dafür bereits Tausende von Dollar verplant und für die Vorbereitungen geopfert haben, aber jetzt haben sie keine Genehmigung für die Besteigung!“

„Das wird kein Beitrag sein, mehr Vertrauen in das Land zu …!“

„…dieses Land ist sehr reich an Ressourcen und Manpower, dazu die natürliche Schönheit… aber jeder plündert, was er kann, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, ohne jegliche Gedanken an die Zukunft. Die Unternehmen stellen ihren Betrieb ein, weil es zu viel Korruption in den Behörden gibt, auf allen Ebenen…“ Seine Stimme klang kurz erbost, bekam einen spöttischen Unterton und fuhr dann wieder bedächtiger fort: „Nachdem die Unternehmer ihre Schmiergelder bezahlt haben, machen sie Verluste, dann sind sie schließlich pleite. Sie müssen also trotzdem ihren Betrieb schließen. Andere machen ihn aus dem gleichen Grund erst gar nicht auf.“

Ich vermied zu fragen, wie er es so lange geschafft hatte, sich über Wasser zu halten. Harte Arbeit konnte erfolgreich sein, trotz aller widriger Verhältnisse, und war doch nur beschränkt ergiebig.

„Der einzige Weg, Profit zu machen, ist, das Geld anzulegen, irgendetwas zu kaufen, was man teuer wiederverkaufen kann. Aber Hunderttausende werden arbeitslos, jeden Monat, überall im Land. Das hat zu einem drastischen Anstieg der Straßenkriminalität geführt, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat...“ Er hielt kurz inne „…das sollte dich aber nicht beunruhigen. Die meisten Leute sind gegenüber Touristen freundlich und es ist ziemlich sicher, in Gegenden wie Skardu, Hunza oder Chitral zu reisen. “

Ich hatte aufgepasst, er hatte nicht Gilgit gesagt, das Herz der Nordregion.

„Trotzdem solltest du es vermeiden, dich an der Grenze zu Afghanistan aufzuhalten, und wenn du nach Peschawar willst, bleibe in der Geschäftszone. Fast die Hälfte der Leute in Peschawar sind Afghanen, weil sie sich seit den siebziger Jahren, seit der russischen Besatzung von Afghanistan, dort angesiedelt haben.“

Ich dachte, dass ich nicht die Zeit haben würde, Peschawar einen Besuch abzustatten.

„Du sprachst als einen der Hauptgründe für die Probleme im Land die Korruption an!“

„Korruption und Feudalismus.“

„Kannst du das erläutern?“

Er fragte mich, ob ich noch etwas zu Trinken haben wollte. Er empfahl mir den Kaffee. Er sei hier besser als in den Kaffeehäusern, in denen die reichen Leute verkehrten. Die hätten es nur noch nicht gemerkt. Aber selbst, wenn sie es wüssten, würden sie sich dennoch nicht herablassen, hierher zu kommen. Hörte ich da Hohn heraus, für die, die eher seiner Gesellschaftsklasse entsprachen? Aber zur Oberschicht gehörten ja sicherlich auch die Schmiergeldempfänger. Deren Methoden des Broterwerbs entsprachen nicht seinem Berufsethos.

„Die meisten Politiker sind Großgrundbesitzer und Feudalherren. Sie wünschen, einen festen Griff um ihre Leute zu haben, indem sie sie ökonomisch abhängig halten und unterdrücken.“

„Wie machen sie das?“

„Ein Weg ist, dass sie ihnen die Möglichkeit der Bildung wegnehmen. Ich würde dir empfehlen, die Biographie von der Rebellenprinzessin Abida Sultan zu lesen.“

„Ich werde zusehen, dass ich das Buch bekomme. Aber warum sind die Leute so korrupt?“ Ich war mir bewusst, dass das eine primitive Frage war. Das musste für die Antwort noch lange nicht gelten.

„Korruption ist so tief verwurzelt, dass sie die moralischen Werte aller Menschen verdorben hat. Wenn es beispielsweise einen Autounfall gibt, streiten sich die Leute herum und versuchen, sich irgendwie zu einigen, denn wenn sie die Polizei rufen, wird der Polizist sie beide ausnehmen und maßregeln, jedenfalls wenn es sich um gewöhnliche Leute handelt. Wenn aber ein einflussreicher Mann einen Unfall verschuldet, wird er sicher die Polizei rufen. Die wird den armen Mann, der am Unfall beteiligt ist, durchprügeln (er sagte: „beat the hell out of the poor man“). Und so wird er es sich nicht trauen, Schadenersatz geltend zu machen, selbst wenn er unschuldig ist. Da Korruption zyklisch rotiert, ersetzt jeder, der davon betroffen wird, seine Verluste, indem er von anderen stiehlt. Das genau ist auch in der Tourismusindustrie geschehen. Unsere eigenen Beschäftigten haben uns das Geschäft weggestohlen, sie haben Geld weggenommen und auf diese Weise werden alle Unternehmen in Pakistan fürchterlich in Mitleidenschaft gezogen.

Außerdem fühlen sich die Leute nicht schuldig. Sie schämen sich nicht einmal, wenn sie andere bestohlen haben. Es wird einfach als günstige Gelegenheit betrachtet, für alle. Diejenigen, die eine gewisse Bildung und Erziehung genossen haben, bleiben auf der Strecke, weil sie Andere nicht bestehlen. Und sie werden für ihre Ehrlichkeit und Würde offen belacht. Ja, man macht sich über die dummen Verlierer lustig.“

„Das heißt, du hast das auch schon oft erlebt. Korruption scheint ein weit verbreitetes Phänomen in Pakistan zu sein. Warum ist das so? Ich habe es immer noch nicht verstanden!“

„Weil man damit zum Ziel kommt. Korruption ist leider in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Es ist Tradition. Wenn beispielsweise ein Bittsteller zu einem Beamten geht und der ihm sagt, dass sich da nichts machen lässt, gibt er ihm zur Antwort: Das weiß ich, deshalb komme ich ja zu Ihnen!“ Er lachte über seinen eigenen Witz, den er bestimmt nicht zum ersten Mal erzählt hatte.

„Regeln und Bestimmungen können umgangen werden, es gibt immer eine Ausnahme zur Regel. Wenn eine mit einem Amt beauftragte Person dies nicht akzeptieren kann, wird sie schnell als Baifaz bezeichnet.“

„Baifaz?“

„Ein unnützer Kerl. Nein, Selbstdisziplin wird bei uns im Land nicht großgeschrieben.“

Malik hatte Fahrt aufgenommen. Es war klar ersichtlich, dass er sich Frust von der Seele redete. Wie schwer musste es für ihn sein, in diesem Land zu leben? Ich wunderte mich nicht mehr, dass er jemandem aus dem Westen solche Geschichten über sein Land und seine Leute erzählte. Jeder ist versucht, sich selber in einem guten Licht darzustellen. Wie tief musste bei ihm der über Jahre gewachsene Frust sitzen, dass sich nichts zum Besseren ändern würde, wenn er es einem Fremden, der nach Pakistan kam, um eine eher unbeschwerte Zeit zu erleben, gleich erzählte! Ich hatte vorher keinen Orientalen kennengelernt, der nicht viel lieber die Vorzüge seiner Heimat geschildert hätte. Lieber übertrieb man dabei maßlos und bediente sich im Lager der Legenden- und Märchenerzähler, als Missstände herauszustreichen und die unangenehmen Dinge beim Namen zu nennen. Der Stolz des Orientalen ist sagenhaft.

„Da gibt es z.B. diese Aufschriften auf Autos MNA oder MPA oder Nazim oder Press“, fuhr er fort, „oder die grünen Nummernschilder, sie sollen alle die Verkehrspolizei von einem fern halten, wenn man zu schnell gefahren ist. Die Tatsache, dass man Ausnahmen erfährt, wird als Attribut eines höheren, sozialen Status betrachtet.“

„Darauf kann man ja auch stolz sein!“

„Stolz? Die Leute gehen erniedrigend miteinander um.“

Ich fand nicht, dass das ein Widerspruch war. Stolz fordert Erniedrigung heraus und Menschen, die erniedrigt werden, reagieren mit Stolz.

„Aber wir sind nicht im Westen. Es ist hier verboten, Feuerwaffen zu besitzen, aber nur, wenn man nicht zu den Privilegierten gehört. Die bekommen von den Behörden etwas genehmigt, was nach den herrschenden Gesetzen gar nicht möglich ist. Je größer der Spielraum der Behörden ist, desto eher unterliegen sie der Gefahr der Korruption. Deshalb gibt es so viel Korruption. Aber es gibt noch mehr Ausnahmen von der Regel. Beamte dürfen bei uns eigentlich keine Nebenämter ausüben, die mit ihrem Auftrag kollidieren. Doch dieses Gebot wird sehr häufig durch Ausnahmeregelungen außer Kraft gesetzt. Dass dies verheerende Folgen für das Verhalten der Zivilbevölkerung hat, darf angenommen werden. Ausnahmen von der Regel, das ist ein Lieblingsspiel der Pakistaner! Ein Premierminister wurde wegen Landesverrat gehängt und zwei andere wurden zweimal gewählt und wieder entlassen, weil sie gegen die Verfassung verstießen. Aber bei Musharraf macht man eine Ausnahme und auch bei den kollaborierenden Armeegenerälen. Letzten Endes wird das Land von Erlassen des Präsidenten regiert, wo gesetzliche Bestimmungen erforderlich wären. Es gab einmal einen Fall eines Studenten, der in einer Ambulanz starb, weil der Verkehr stockte. Er war aufgehalten worden, um dem Präsidenten die Vorfahrt zu lassen. VIPs bekommen immer Vorfahrtsrecht.“

Alle Wege führen zu Allah, sagen die Muslime. Da gab es den Fall des Federal Minister of Law, Justice, and Human Rights, Wasir Zafar. Sein Ministerium hatte einen Fond für die Erdbebenopfer eingerichtet. Nun hatte sich herausgestellt, dass von 590 Hilfsersuchen 560 zufälligerweise von seiner Heimstatt Jaranwala herkamen. Das war sein eigener Wahlkreis. Der Witz war, dass der Präsident die Korruption im Jahr zuvor für erledigt erklärt hatte.

Oder der Fall des Pandschab Chief Ministers, dessen Sohn 550 acres Land zugesprochen worden waren, von dem Land, das man den Bauern im Bezirk Rahimyar Khan weggenommen hatte. Sie hatten seit Generationen von diesem Land gelebt und hätten es gerne behalten. Sie durften es sich nicht einmal zurückkaufen. Der Ministersohn hatte ja seine Hand darauf. Jedermann konnte theoretisch Land erwerben, aber jedermann war in Pakistan immer ein bestimmter Jemand.

„Aber was ist deiner Meinung nach der Grund für dieses Verhalten? In diesem Land gibt es doch nur Muslime!“

Damit wollte ich darauf hinaus, dass damit die Voraussetzungen gegeben waren, dass sich das Land positiv entwickelte. So zumindest war es immer proklamiert worden. „Lasst uns in einem eigenen Staat leben“, hatten die Pakistaner 1947 prophetisiert, „dann werden wir die ideale Gesellschaft schaffen.“ Aber Malik verstand es genau andersherum, als wollte ich sagen, da alle Muslime sind, ist es kein Wunder, dass nichts wirklich gelingt. Er sagte:

„Man kann die Religion nicht für alles verantwortlich machen. Wenn man ständig Regeln bricht, wird man irgendwann zu einem gewohnheitsmäßigen Gesetzesbrecher. Auf Dauer lohnt sich das nicht, aber das Land wird ruiniert.“ Mit anderen Worten, Malik wusste es auch nicht.

„Ich kann mir sogar vorstellen“, sagte ich, „dass es recht aufwendig ist, dauernd nach dem rechten Mann für die rechte Sache am rechten Ort und zur rechten Zeit Ausschau halten zu müssen. Das kostet den Einzelnen Mühen und viel Zeit. Das summiert sich für eine Gesellschaft, die handlungsunfähig und uneffektiv wird. Man sollte doch lieber gleich den kurzen Weg der Gesetzlichkeit gehen.“

„Genau das habe ich meinen Landsleuten schon oft gesagt. Hier macht man sich oft lustig über den Verfall der Moral in westlichen Ländern und den Mangel an Familiensinn, weil es hier Tradition ist, in funktionierenden Großfamilien zu leben. Dabei übersieht man ganz, dass es im Westen Institutionen gibt, die der Wohlfahrt gerade der Schwachen und Benachteiligten dienen. Humanitäre Werte sind im Westen schon in Administration und Gesetz anerkannt und umgesetzt. Dafür werden soziale Einrichtungen geschaffen und steuerlich begünstigt. Doch davon sind wir hier noch weit weg. In Artikel 19 unserer Verfassung heißt es, dass jeder Bürger die Freiheit der Rede hat; die Pressefreiheit wird gewährt, unter der Bedingung, dass gesetzliche Beschränkungen Vorrang haben, wenn sie im Interesse der Verherrlichung des Islam sind oder, wie es in dem Artikel heißt, für Integrität, Sicherheit oder Verteidigung des Landes und der öffentlichen Ordnung dienen, oder der Moral. Das sind schon wieder unglaublich viele Ausnahmen, die man nach Belieben auslegen kann.“

Auffällig ist, dass es in Pakistan die völlige Freiheit gibt, andere Religionen zu verunglimpfen. Nur der Islam wird geschützt.

Der Islam ist die Staatsreligion Pakistans. So steht es in Artikel 2 der Verfassung. Das widerspricht gewissermaßen Artikel 25, nach dem alle vor dem Gesetz gleich sind und den gleichen gesetzlichen Schutz genießen. Und die regierende Praxis widerspricht Artikel 25. Nicht-Muslime müssen mit dieser institutionalisierten religiösen Bevorzugung auskommen. Christen, Hindus, Ahmedis und Sikhs werden also nicht genauso behandelt wie ein Muslim. Ich fragte Malik:

„Wie verhält sich ein muslimischer Richter, wenn ein Christ oder Hindu vor ihm steht? Wird er dann anders behandelt als ein Muslim?“ Ich stellte die Frage, in der Hoffnung auf britische Rechtsanwendung.

„Das kommt darauf an. Ein Muslim wird schwerlich der Gotteslästerung angeklagt. Ich denke, dass sich im Allgemeinen unsere Richter an die Vorgaben halten. Aber da beginnen schon die Schwierigkeiten. Da gibt es zum Beispiel die Hudood Ordinances. Dieses islamische Recht besteht neben dem britischen Recht.“

Nach Artikel 41 der Verfasung ist eine Person nicht qualifiziert, Präsident zu werden, wenn sie nicht Muslem ist. Aber das kann man verstehen. Pakistan ist ja ein islamischer Staat.

„Was ich aus alledem lerne“, sagte ich, „ist, dass es wichtig ist, wichtig zu sein. Für Mächtige wird immer eine Ausnahme gemacht, ich denke zur Zeit Akbars war das nicht anders. Aber Pakistan wollte ein moderner Staat werden, oder nicht?“

„Das ist richtig. Aber das ist ja gerade das Dilemma. Man hält an Dingen fest, die im einundzwanzigsten Jahrhundert fehl am Platz sind.“

„Malik, du wirst nicht daran denken, dass es der Islam ist, der überholt ist? Der Islam ist doch, wie alle Moslems wissen, zeitlos.“

„Aber die Welt ist es erst recht!“ Das war, fand ich, eine kluge Bemerkung. Er verhinderte, dass er mir widersprechen musste, wozu ich geradezu eingeladen hatte.

„Die Gesetze in Pakistan sind für das Volk gemacht. Und das in einem doppelten Sinn, zur Maßregelung des Volkes und zum Nutzen der Mächtigen. Wie im Restaurant, ist es auch im Gerichtssaal!“ Ich schaute ihn fragend an.

„Ehrengäste sitzen ganz vorne im Saal und zahlen nichts. Wer noch Geld braucht, ist noch nicht so weit wie der, der gar keines mehr braucht.“ Ich überlegte einen Augenblick, ob das der Korruptionsthese widersprach. Aber man konnte sich auch von Machtfaktoren korrumpieren lassen!

Ich sprach Malik darauf an, dass er offensichtlich schon sehr viele negative Erfahrungen mit den Mächtigen des Landes gemacht hatte. Ob er mir dazu Beispiele geben könnte. Ich wollte verstehen, mit was für Menschen ich es in diesem Land zu tun hatte. Noch hatte ich meine Expedition nicht genehmigt bekommen. Auf diese Aufforderung schien Malik nur gewartet zu haben.

„Du willst Beispiele? Ich kann dir so viele Beispiele geben, dass wir morgen noch hier sitzen. Als ich damals anfing, entlegene Bergregionen für den Tourismus zu erkunden, war ich besorgt über die Auswirkungen des Tourismus auf das fragile Ökosystem und die lokale Bevölkerung. Deshalb habe ich jedes Mal, wenn ich ein Gebiet für den Tourismus erschlossen habe, eine detaillierte Umweltstudie gemacht, die ich der Regierung übergeben habe. Jedoch gab es damals kein Ministerium für Umwelt. Als die World Conversation Union meine langjährige freiwillige Arbeit sahen, schlugen sie mir vor, Mitglied zu werden. Ich sollte mit ihnen zusammenarbeiten. Es gab verschiedene globale und regionale Umweltangelegenheiten und Projekte, bei denen ich seitdem mit ihnen zusammengearbeitet habe. Ich wurde jedoch allmählich darauf aufmerksam, dass man mich ausspionierte.“

„Wie geschah das?“

„Ich wurde verfolgt und beobachtet. Meine Telefonanrufe wurden blockiert oder aufgezeichnet…“

„Wer hat das getan?“

„Geheimdienstleute. Es ging noch weiter. Ich wurde mitten in der Nacht angerufen. Ich wurde bedroht. Ich wusste nicht, warum sie mich bedrohten. Bald darauf installierte ich einen Anrufbeantworter. Aber dann… jeden Abend, wenn ich ausging, gingen mir Leuten hinterher. Schließlich wurde ich drei Mal angegriffen.“

„Wirklich?“

Malik hatte sich im Lauf seines Berichtes etwas hineingesteigert. Aber gerade jetzt senkte er seine Stimme wieder. Als wollte er sich disziplinieren oder die Sache wieder herunterspielen.

„Ja, sie waren bewaffnet.“

„Wie? Wurdest du verletzt?“

„Es war nicht so schlimm. Wahrscheinlich wollte man mir nur Angst machen. Es war abends, an verschiedenen Orten in Islamabad; andere Leute kamen mir zu Hilfe. Es gab immer nur ein kurzes Handgemenge.“

[...]

Ende der Leseprobe aus 800 Seiten

Details

Titel
Von Baltistan zum Hindukusch. Ein Reisebericht aus Pakistan
Autor
Seiten
800
Erscheinungsform
Originalausgabe
ISBN (eBook)
9783668714656
ISBN (Buch)
9783668714663
Dateigröße
10742 KB
Sprache
Deutsch

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